ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

'Unpolitische' Wissenschaften gab es während des ,,Dritten Reiches" nicht. Sämtliche Fachdisziplinen, einschließlich aller Teilsegmente, gehörten zum NS-System; auch allen Kulturwissenschaften drückte die Hitler-Diktatur ihren Stempel auf - wie der vorliegende, von den beiden inzwischen emeritierten Direktoren des Max-Planck-Instituts (MPI) für Geschichte herausgegebene Aufsatzband deutlich macht. Im ersten Teil wird für einige ,,kulturwissenschaftliche" Fächer (Rechtswissenschaft, Romanis-tik, Gemanistik und Musikwissenschaft) die Aufarbeitung der NS-Geschichte nach 1945 vorgestellt. Teilweise bleiben diese Beiträge relativ allgemein. Gleichwohl wird der Leser mit wichtigen Einsich-ten konfrontiert. So dürfte der von Michael Stolleis skizzierte Mechanismus, dass ,,Entnazifizierung" im weiteren Sinne ,,auch eine von den Betroffenen selbst vorgenommene Aktion [war], die Vergan-genheit zum Verschwinden zu bringen", ebenso für andere Fächer gegolten haben. Sie war dann be-sonders wirkungsvoll, wenn schwarze Schafe, die ,,ganz und gar die Grenzen überschritten" hatten, in-dem sie allzu offen und vielleicht auch naiv nationalsozialistische Ideologismen vertreten hatten, de-monstrativ ausgegrenzt wurden (S. 14). Alle vier Beiträge des ersten Abschnitts über ausgewählte kul-turwissenschaftliche Disziplinen sind Momentaufnahmen. Was Stolleis für die Rechtswissenschaft feststellt, gilt auch für die anderen von Frank-Rutger Hausmann, Ludwig Jäger und Pamela M. Potter in dem Band thematisierten Wissenschaftsdisziplinen: ,,Eine zusammenfassende und umfassende Wis-senschaftsgeschichte, die Mentalitäts- Ideen- und Institutionengeschichte miteinander verknüpfte, gibt es [bis] heute nicht" (S. 29).

Im zweiten Abschnitt des Bandes finden sich sieben Beiträge zu markanten ,,Milieus". Die ersten vier konzentrieren sich auf universitäre (Teil-)Milieus: die Geschichtswissenschaft in Heidelberg und die in der dortigen geisteswissenschaftlichen Fakultät beschäftigten ,,Honoratiorenopportunisten" (Elke Wolgast), die Königsberger historische Schule um Hans Rothfels (Ingo Haar), die Leipziger kulturthe-oretische und soziologische Schule um Hans Freyer (Elfriede Üner) sowie, exemplarisch auch für die anderen Reichsuniversitäten Straßburg, Prag und Dorpat, Aufbau und Funktion der Reichsuniversität Posen (Jan M. Piskorski). In einem fünften, hundertseitigen (!) Beitrag widmet sich Agnes Blänsdorf dem wichtigen Thema der historischen Lehrwerke für die Höheren Schulen. Ihr Ergebnis: Aufgrund der auch im Kultusbereich wirkenden polykratischen Rivalitäten (zwischen Reichserziehungsministe-rium, NS-Lehrerbund und der parteiamtlichen Prüfungskommission) kam es erst seit 1939 zur sukzes-siven Einführung eigenständig nationalsozialistischer Schulbücher für den Geschichtsunterricht, seit 1944 monopolisiert beim, zum Eher-Verlag gehörenden, parteieigenen ,,Deutschen Schulbuchverlag" in Berlin. Ein sich seit 1940/41 rapide verschärfender Papiermangel führte allerdings dazu, dass die al-ten Lehrwerke der Weimarer Republik nicht aus dem Verkehr gezogen wurden. Ihr anhaltender Ge-brauch ist darüber hinaus aber auch ein Indiz für die beträchtlichen politisch-ideologischen Affinitäten zwischen Rechtskonservativismus und der - bekanntlich inkonsistenten - nationalsozialistischen Ideo-logie.

In einem weiteren, gleichfalls detaillistischen Beitrag widmet sich Ansgar Frenken dem Schicksal der Görres-Gesellschaft (GG) im ,,Dritten Reich", die Mitte 1941 aufgelöst wurde, obwohl die nationalso-zialistischen Machthaber hier auf ,,keine geschlossen ablehnende Haltung" trafen, die GG für die Nati-onalsozialisten mithin ,,kein per se feindliches Terrain" war (S. 376). Manfred Messerschmidt arbeitet in erster Linie für Karl Erdmann, Walter Bußmann und Percy Ernst Schramm, aber auch z.B. für Her-mann Heimpel u.a. heraus, dass für diese Historiker weniger ,,die Juden" als vielmehr die ,,asiatisch-bolschewistischen Ostvölker", ,,Horden- und Herdenmenschen mit Unterweltinstinkten", ,,eine Barba-renwelt, die keine Vergangenheit kennt" (S. 436), zum zentralen Feindbild hypostasiert wurden. Eine Kuriosität am Rande ist, dass Schramm, einflußreicher Propagandist im Oberkommando der Wehr-macht, Lammers ,,Anregungen für die Wahl eines Hitler-Nachfolgers" gab und in seinen Vorschlägen ,,eine Art Konklave" höchster NS-Funktionsträger vorsah (S. 443). Wie schon die Aufsätze von Haar und Messerschmidt sind auch die Beiträge von Heiko Steuer und Eduard Mühle Beiträge zu Kontro-versen über den Grad der ,,Verstrickung" herausragender Kulturwissenschaftler. Namentlich Steuer reibt sich in seinem umfänglichen Beitrag über den im SS-"Ahnenerbe" führend tätigen Ur- und Früh-geschichtler Herbert Jankuhn an den kritischen, angeblich einer ,,political correctness" huldigenden ,,Arbeiten jüngerer Wissenschaftler der 1990er Jahre". Der mitunter apologetischen Darstellung wird man in manchen Punkten widersprechen müssen. Zweifelsohne zutreffend ist jedoch seine Feststel-lung, dass wie viele andere auch ,,Jankuhn z.B. überzeugter Nazi und zugleich ausgezeichneter Wis-senschaftler" war (S. 526). Eduard Mühle beschäftigt sich im dritten biographischen Beitrag des Bandes mit der individuellen Vergangenheitspolitik eines auch wegen seiner NS-Vergangenheit prominen-ten Historikers: Hermann Aubin sah bis an sein Lebensende ,,keinen Anlaß, die eigene Haltung wäh-rend des Nationalsozialismus einer ernsthaften Prüfung und Kritik zu unterziehen." Selbst die von ihm maßgeblich vertretene ,,Ostforschung betrachtete er mehr als ein Opfer denn als einen Verbündeten des Nationalsozialismus" (S. 583, 585). Was schließlich Anne Christine Nagel für den Mediävisten Herbert Grundmann konstatiert, dass ,,seine völkische Überzeugung in den Nationalsozialismus beja-hen" ließ und in ihm ,,das Feuer kalter Leidenschaft für eine politische Idee" brannte (S. 617), gilt auch für nicht wenige andere Historiker, die im ,,Dritten Reich" - und häufig ebenso danach - ungebrochen Karriere machten. Darüber hinaus verweist dieser Befund ,,auf mentale und kulturelle Grundstrukturen des deutschen Bildungsbürgertums" (E. Mühle zu Aubin: S. 591).

Es zeigt die Germano-Zentriertheit der deutschen Wissenschaftsgeschichte, dass die Wissenschafts-entwicklung in den vom nationalsozialistischen Deutschland okkupierten Europa bisher nur aus-nahmsweise in den Blick geraten ist. Die ,,europäische Dimension" des ,,Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften" als der vierte große Abschnitt wird lediglich durch einen einzigen Aufsatz an-gerissen. Lutz Raphael zeigt zunächst, dass das breite Spektrum der französischen Kulturwissenschaft-ler, die 1940 überwiegend ,,keine Scheu" gezeigt hatten, ,,die Kooperationsangebote des [Kollaborati-ons-]Regimes anzunehmen", nach 1945 auf ihr Verhalten in den Jahren 1940 bis 1944 kaum anders reagierte als die deutschen Kollegen. Die meisten zogen es ,,vor, über die Prüfungen der Kriegsjahre zu schweigen und ambivalente Texte der Zeit vor 1944 zu vergessen oder unauffällig zu revidieren" (S. 622, 640). Auch deshalb hinterließ die deutsche Besatzungsherrschaft bzw. das Vichy-Regime in den Kulturwissenschaften kaum Spuren; die rasche ,,Rückkehr zu tradierten Gewißheiten und älteren Konventionen des intellekutuellen Lebens" war 1944/45 selbstverständlich (S. 635).

Abgerundet wird der Aufsatzband durch drei ausformulierte Diskussionsbeiträge. Namentlich Gesine Schwan nahm das offenbar kontrovers diskutierte Diktum H. Steuers auf, dass ein überzeugter und ex-ponierter Nazi zugleich ein herausragender Wissenschaftler sein kann, und meldete Zweifel an. ,,Eine wertfreie Bestimmung von wissenschaftlicher Arbeit als exzellent hochstehend, innovativ etc." habe zunächst einmal a priori, so ihr Einwand, ,,unter Ideologieverdacht zu stehen" (S. 653). Für die ideolo-gienahen Kulturwissenschaften scheint mir diese Feststellung berechtigt; ob er für die Natur- und Technikwissenschaften auch gilt, ist dagegen fraglich. Wie dem auch sei: Es handelt sich hier um ei-nen überwiegend aufschlussreichen und anregenden, in manchen Passagen freilich auch langatmigen Aufsatzband (dem leider ein Personenregister fehlt). Man könnte an dem Band monieren, dass eine Reihe der prominenteren kulturwissenschaftlichen Fächer (die Philosophie, die Kunstgeschichte, die Philologie u.a.) nicht thematisiert werden. Zu bedenken ist freilich, dass der vorliegende lediglich der erste von insgesamt drei Bänden ist, die aus mehreren Tagungen der Göttingen MPIs für Geschichte hervorgegangen sind bzw. hervorgehen sollen. Zu erwarten steht, dass in den zwei noch ausstehenden Bänden diese Disziplinen abgehandelt werden, so dass sich schließlich ein relativ flächendeckendes Bild der ,,Verstrickung" der Kulturwissenschaften in den Nationalsozialismus ergibt - ein Bild, das angesichts des Forschungsstandes freilich nur ein vorläufiges Zwischenresümee sein kann. Irritierend ist allerdings die Titelgebung des Bandes: ,,Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften" sugge-riert, ,,der Nationalsozialismus" (ein heterogenes Ideologienkonglomerat) habe nur Teilbereiche der ,,Kulturwissenschaften" penetriert, weite Bereiche, vielleicht ganze Fachdisziplinen hätten sich abseits halten und weiterhin eine ‚politisch unschuldige' Wissenschaft betreiben können. Das ist irreführend. Ein neutralerer Titel wie ,,Kulturwissenschaften im ‚Dritten Reich'" o.ä. wäre dem Band insofern an-gemessener gewesen.

In den einleitenden ersten beiden Kapitel gibt der Verf. einen Überblick über die Geschichte der DFG in diesen Jahren. Mertens bietet hier wichtige Ergänzungen der Monographie Hammersteins, etwa wenn er den ,,vorauseilenden Gehorsam" des (von Hammerstein allzu freundlich dargestellten) bis 1934 amtierenden ersten DFG-Präsidenten Schmidt-Ott gegenüber den braunen Machthabern themati-siert (S. 61 ff.) oder auf die Bedeutung der von der ,,Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeits-losenversicherung" ins Leben gerufenen ,,Wissenschaftlichen Akademikerhilfe" verweist, die ihre fi-nanziellen Mittel von der DFG bezog (S. 53 f.). Diese reichsdeutsche ,,Akademikerhilfe" wiederum ist nicht mit der ,,Österreichisch-deutschen Wissenschaftshilfe" zu verwechseln, die 1929 ins Leben trat und vom Hitler-Regime seit 1933 in erster Linie dazu genutzt wurde, Akademikern unter den Funktio-nären der verbotenen österreichischen NSDAP materielle Unterstützung zukommen zu lassen (S. 292 ff.). Aufschlußreich ist außerdem die Darstellung Mertens', dass und wie sehr der Nachfolger Schmidt-Otts, der bis Ende 1936 als DFG-Präsident amtierende ,,Deutsche Physiker" Johannes Stark eine ,,Be-willigungspolitik nach Gutsherrenart" betrieb und eine ,,Selbstbedienungsmentalität" an den Tag legte, die er ihm gleichfalls unterstehenden Physikalisch-technischen Reichsanstalt zugute kam (S. 80-84, 112 f.). Mit Blick auf die Anträge, die bei der DFG eingereicht wurde, kann Mertens (wenig überra-schend) ,,die rasche Anpassung an die Sprache der neuen Zeit" auf Seiten der Antragsteller nachweisen (u.a. S.118 f.). Kurios muten nicht zuletzt rassistische Formulierungen in den Gutachten an; so wurde manchen Kandidaten, deren Projekte durchaus bewilligt wurden, eine ,,etwas schwerfällige westfäli-sche Art" oder ,,Schwatzhaftigkeit nach österreichischer Art" - eigentlich eine Majestätsbeleidigung - attestiert (S. 308). Für die Bewilligungspraxis spielten neben fachlichen und politisch-ideologischen außerdem offen biologistisch-rassistische Gründe eine Rolle, etwa wenn die finanzielle Unterstützung eines Habilitationsvorhabens mit der Begründung verweigert wurde, dass der Bewerber ,,körperlich behindert sei" (S. 285). Aufschlußreich ist in diesem Kontext ein Ergebnis von Mertens, dass zwischen erfolgreichen Habilitationen und DFG-Förderung kein so enger Konnex bestand, wie man annehmen sollte: Unter den zwischen 1933 und 1937 erfolgreich Habilitierten waren deutlich mehr ,,Nicht-DFG-Geförderte" als ,,DFG-Geförderte" (S. 342).

Trotz solcher spannenden Ergebnisse (und außerdem vorzüglich recherchierter Kurzbiographien) ent-täuscht die Arbeit von Mertens. Sie wirkt über weite Strecken unstrukturiert und konfus. Nicht selten verliert sich der Verf. in Details. Dass die Gutachten des NS-Dozentenbundes nach politischen Krite-rien gefällt wurden, muß nicht mit immer wieder mit neuen, häufig gewiß markanten Zitaten belegt werden. Nicht immer ist zudem klar, ob die angeführten politisch-ideologischen Verdikte tatsächlich zu einer Ablehnung geführt haben. Aufschlußreich ist nämlich, dass Anträge auf Förderung schließlich doch positiv evaluiert wurden, auch wenn die Bewerber von ,,liberalistischer, verkalkter Denkensart" war und ,,kaum zu einer politischen Mitarbeit in unserem Sinne" zu gewinnen waren (S. 314 f.). Um-gekehrt konnte es vorkommen, dass selbst NSDAP-Aktivisten nicht berücksichtigt wurden (S. 174). Der ,,Eintritt in eine Parteigliederung" war mithin, wie Mertens an anderer Stelle einräumt, ,,keines-wegs für die wissenschaftliche Karriere unabdingbar" (S. 202).

Dass die DFG-Förderung namentlich für schließlich erfolgreiche Habilitationen in dem von Mertens untersuchten Zeitraum keine entscheidende Rolle spielte, muß als Indiz dafür gewertet werden, dass sich in Habilitationsverfahren und bei Berufungen schließlich (sachgerechte) wissenschaftliche Krite-rien durchsetzten und vor allem in den Natur- und Technikwissenschaften politisch-ideologische Krite-rien trotz des 1933 bis 1936 starken Drucks des DFG-Präsidenten Stark, die ,,Deutsche Physik" zu för-dern, nur eine untergeordnete Rolle spielten (S. 346). Auch die Rolle des DFG-Personalamtes sollte nicht überschätzt werden. Es war ein Filter, mit dem in der Perspektive der Nationalsozialisten poli-tisch allzu unbotmäßige oder mindestens ,,dubiose" Kandidaten bzw. Anträge ausgesiebt wurden - und auch das anscheinend lediglich 1934 und 1935 in stärkerem Maße (S. 10). Der Überbewertung der Rolle des Personalamtes korrespondiert, dass Mertens das Vorurteil kolportiert, das Hitler-Regime sei generell ,,wissenschaftsfeindlich" gewesen (S. 29, 34). Mertens und überhaupt die ältere Forschung zur Wissenschaftspolitik verwechseln hier ,,Intellektuellenfeindlichkeit" (die auf den in der Öffentlichkeit agierenden, meist im linksdemokratischen bzw. sozialistisch-kommunistischen Lager stehenden politi-schen Intellekuellen abhob) und ,,Wissenschaftsfeindlichkeit". Die Nazis wußten selbstredend, dass moderne Kriege nur mit einer modernen, innovativen Wissenschaft im Hintergrund zu führen waren; die 1933/34 einsetzenden Debatten um die Neuordnung und organisatorische Effizienzsteigerung der Wissenschaften sprechen hier eine deutliche Sprache. Die ,,eklatante Bevorzugung der Naturwissen-schaften" in der DFG-Förderpraxis war keineswegs allein Resultat der ,,eigenmächtigen Entscheidun-gen" Starks (S. 75), sondern strukturell bedingt und von zahlreichen NS-Entscheidungsträgern gewollt. Mertens selbst konstatiert an anderer Stelle, dass bereits seit Anfang 1934 ,,Forschungsvorhaben, wel-che der Kriegsvorbereitung galten, von der Notgemeinschaft bevorzugt gefördert" wurden, mithin eine gezielte Umorientierung der Förderungspraxis stattgefunden hatte. Auch mit der These, Rust sei ein ,,schwacher Minister" gewesen (S. 29), folgt Mertens unkritisch Hammerstein und anderen. Eine Er-klärung dafür, warum dieses angeblich ,,schwache Ministerium" zu erheblichen Teilen durchaus er-folgreich wissenschaftsorganisatorische Zentralisierungen durchsetzen (S. 66) und im Rahmen der ge-samten Wissenschaftspolitik über lange Strecken maßgeblichen Einfluß entwickeln konnte, bleibt Mertens schuldig - es sei denn, man akzeptiert die von ihm in Anschluß an Heiber formulierte These, dass das ,,Reichswissenschaftsministerium bereits ab 1935 in der Hand von Himmlers SS" gewesen sei (S. 31). Diese These zielt auf die Rolle von Rudolf Mentzel, der (folgt man Mertens) seit 1933 erhebli-chen Einfluß auf das DFG-Personalamt ausübte, 1936/37 Stark als DFG-Präsident ablöste und im sel-ben Zeitraum auch nominell zum Amtsleiter Wissenschaft im Rust-Ministerium aufrückte, sowie auf die einflußreiche Stellung Erich Schumanns als ‚grauer Eminenz' nationalsozialistischer Wissen-schaftspolitik sowie einige weitere Wissenschaftspolitiker. Dass diese Feststellung jedoch in die Irre führt, zeigte sich 1943/44, als Mentzel, Schumann u.a. ausgerechnet durch die SS ausgebootet wurden - durch den SS-Mann Werner Osenberg und dessen RFR-Planungsamt bzw. Wehrforschungsgemein-schaft sowie die hinter jenem stehenden einflußreichen SS-Funktionäre, namentlich Wilhelm Spengler (seit 1937 innerhalb des SD für ,,Kultur" und ,,Wissenschaft" verantwortlich) und Hans Jüttner (Ober-befehlshaber der Waffen-SS und seit Juli 1944 Stellvertreter Himmlers). Dass Mertens dies verborgen bleibt und er zu irreführenden Schlüssen über die Rolle der SS kommt, verweist auf ein grundlegende-res Dilemma: Mertens beschränkt sich auf die Jahre von 1933 bis 1937. Die Ära Stark kann jedoch nur in einem Längsschnitt, der nicht nur die Jahre bis 1933 sondern auch den Zeitraum 1937/38 bis 1945 einbezieht, adäquat eingeordnet werden. Gelegentliche kursorische Ausflüge in die Zeit vor der NS-Machtergreifung helfen hier wenig. Aufgrund der ,Verinselung' der DFG-Geschichte auf die Ära Stark kommt Mertens auch sonst mehrfach zu (mindestens) problematischen Ergebnissen. Dazu gehört seine lapidare Feststellung, dass die Forschungsförderung der DFG bzw. des Anfang 1937 gegründeten Reichsforschungsrates nicht mit der ,,heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft in eine Kontinui-tätslinie gestellt werden" könne, weil die 1937 institutionalisierten Fachspartenleiter über Stipendien und sonstige Förderungen ,,vollkommen unabhängig", mithin (so suggeriert Mertens) nicht unbedingt nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach individuellen Vorlieben entschieden. Um ein solch apodiktisches Urteil zu fällen, bedarf es systematischer Forschungen über den RFR und die DFG, wie sie derzeit im Rahmen des von R. v. Bruch und U. Herbert inaugurierten Großprojektes zur Geschichte der DFG durchgeführt werden.

Ein Versäumnis ist ferner, dass Mertens eine Reihe der zahlreichen Tabellen, die er vorlegt, nicht aus-interpretiert. So diskutiert er z.B. nicht, warum die durchschnittliche Förderdauer von germanistischen und theologischen Projekten 24,1 bzw. 27,0 Fördermonate betrug, die elektrotechnischer Forschungs-projekte dagegen lediglich 6,0 Fördermonate (S. 216, Tab. 44). Der Leser muss sich selbst zusammen-reimen, dass ausschlaggebend war, was Mertens an anderer Stelle ausführt: dass Stipendiaten technik-wissenschaftlicher und auch mancher naturwissenschaftlicher Fachdisziplinen häufig nur kurz geför-dert werden mussten, weil sie auf finanziell attraktive Arbeitsplätze in der Industrie wechseln konnten (S. 180-184). Ärgerlich ist schließlich, dass der Verlag an der falschen Stelle gespart hat und es offen-bar versäumt hat, die Arbeit gründlicher zu lektorieren. Diesen Schluß legen jedenfalls zahlreiche klei-ne Fehler nahe. Fazit: Die Monographie von Mertens birgt wichtige Ergebnisse. Aufgrund der inkon-sistenten und zum Teil widersprüchlichen Darstellung ist die Arbeit jedoch leider nur als ,Steinbruch' zu nutzen.

Rüdiger Hachtmann, Berlin


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