ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dieter Ziegler (verantw.), Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in den besetzten Gebieten (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004, Bd. 1), Akademie Verlag, Berlin 2004, 247 S., brosch., 64,80 €.

Dieter Ziegler weist in seiner kurzen Einführung in den hier zu besprechenden Band des Jahrbuches für Wirtschaftsgeschichte mit Recht darauf hin, dass zwischen den in der historischen Forschung unter dem Rubrum ,,Zwangsarbeit in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft" untersuchten Personengruppen und den nach dem Stiftungsgesetz Anspruchsberechtigten keine vollständige Deckungsgleichheit besteht. Nicht anspruchsberechtigt sind Personen, die in ihren Heimatländern entweder im öffentlichen Bereich oder in privaten Unternehmen von der deutschen Besatzungsmacht zur Arbeit herangezogen worden sind. Dies konnte bei der rechtlichen Regelung kaum anders sein, denn unsere Kenntnisse über die Verhältnisse und Bedingungen, unter denen die Bevölkerung in den von Deutschland besetzten Gebieten arbeitete, sind gering. Die seit den späten 1980er Jahren breite Spezialforschung zur Zwangsarbeit hat sich fast ausschließlich mit den zum Arbeitseinsatz in das Deutsche Reich deportierten ausländischen Zivilarbeitern bzw. Kriegsgefangenen und den Häftlingsarbeitern beschäftigt. Auch in den Forschungen zur deutschen Besatzungsherrschaft in den unterschiedlichen europäischen Regionen stand bislang das Interesse am Arbeitseinsatz gewöhnlich hinter der Untersuchung offensichtlicherer nationalsozialistischer Gewaltverbrechen zurück. Ein Grund für die Vernachlässigung dieser Thematik mag weiterhin darin liegen, dass - sieht man von Polen ab - auch in den ehemals besetzten Staaten weder in der öffentlichen Erinnerung noch in der historischen Forschung der Arbeitseinsatz der einheimischen Bevölkerung mit dem Begriff ,,Zwangsarbeit" in Verbindung gebracht wurde. Vielmehr stellte in vielen europäischen Gesellschaften die Arbeit für den nationalsozialistischen Feind in der Heimat bis zuletzt ein Tabuthema dar.

In jüngster Zeit sind jedoch einige Forschungsanstrengungen unternommen worden, die Anwendbarkeit des Begriffes von Zwangsarbeit, so wie er bisher in der NS-Forschung verwendet wird, auf die Situation in den besetzten Gebieten zu überprüfen. Zwei Beiträger des Bandes wählen hierzu einen regionalhistorischen, die anderen beiden einen unternehmensgeschichtlichen Zugriff.

Der Aufsatz von Ela Hornung, Ernst Langthaler und Sabine Schweitzer über den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der Landwirtschaft des Reichsgaues Niederdonau entstand im Rahmen der Arbeiten der österreichischen Historikerkommission. Formal lässt sich diese Untersuchung sicherlich unter den Forschungen zu den besetzten Gebieten einordnen. Inhaltlich stellen sich die Problemkontexte bei einer fast ausschließlich ,,arischen" Wohnbevölkerung in Österreich, die die Annexion wohl mehrheitlich begrüßte, jedoch eher wie bei den Studien zum ,,Reichseinsatz". Die Autoren tragen dem Rechnung, indem sie im Untertitel von ,,ausländischen Arbeitskräften in der deutschen Landwirtschaft" sprechen. Hornung, Langthaler und Schweitzer geht es vor allem darum, die besondere Prägung von Zwangs-Landarbeit herauszuarbeiten und damit das in der Forschungsliteratur häufig zu findende Urteil, Zwangsarbeit in der Landwirtschaft sei erträglicher gewesen als in der Industrie, zu differenzieren. Die Autoren sehen die Besonderheit der Land-Zwangsarbeit in der strukturellen Varianz der Arbeits- und Lebensverhältnisse von Zwangsarbeitern in den bäuerlichen Betrieben. Unter den Bedingungen einer Koexistenz von NS-System und agrarischer Welt sowie des Ausschlusses der Zwangsarbeiter aus der Volks- und Dorfgemeinschaft kam ihrer Stellung in der Hofgemeinschaft entscheidende Bedeutung für die Realität ihrer Lebensverhältnisse zu. Ohne die Sicherheitsnetze, über die das Gesinde sonst verfügte, konnte die paternalistische Macht des bäuerlichen Betriebsführers über die zumeist in so genannten Einzeleinsatz tätigen ,,fremdländischen" Arbeitskräfte in Willkürherrschaft umschlagen. Dies galt beispielsweise für die Ernährung, bei der die Ausländer, ohne Lebensmittelkarten zu erhalten, in die ,,Selbstversorgergemeinschaft" des Hofes eingegliedert waren, ebenso wie bei der erweiterten Überwachungs- und Bestrafungskompetenz der Dienstgeber, aber auch bei der sexuellen Verfügungsgewalt des Hofherren über Ausländerinnen. Die Anwesenheitsdauer auf dem Hof oder die persönlichen Allianzen, die man vor Ort knüpfen konnte, entschieden, wohin das Pendel für die Zwangsarbeiter ausschlug. Insgesamt überzeugt diese Interpretation über die Bedingungen von Zwangsarbeit in klein- und mittelbäuerlichen Wirtschaften; zur Thematik des Heftes kann sie - dies ist keine Kritik an den Autoren, sondern eine Feststellung - indes nur wenig beitragen.

Die Bochumer Osteuropahistorikerin Tanja Penter untersucht den Arbeitseinsatz in der besetzten Ukraine von 1941 bis 1944 und konzentriert sich dabei auf das Reichskommissariat Ukraine sowie auf die im gesamten Besatzungszeitraum unter Militärverwaltung stehenden ostukrainischen Gebiete. Penter verdeutlicht zunächst einmal die quantitativen Dimensionen: Während gut zwei Millionen ,,Ostarbeiterinnen" und ,,Ostarbeiter" aus der Ukraine zum Arbeitseinsatz in das Deutsche Reich deportiert wurden, arbeiteten - ganz überwiegend in der Landwirtschaft und deutlich weniger in der Industrie - über 22 Millionen Menschen in der Heimat für die Besatzer. Deren Rekrutierung folgte z. T. einer ebenso brutalen Praxis wie derjenigen für den ,,Reichseinsatz". Der Arbeitseinsatz in der besetzten Ukraine war wesentlich von einem Stadt-Land-Gegensatz geprägt. Die ,,Hungerpolitik" der deutschen Besatzer gegen die Stadtbevölkerung hatte eine Massenabwanderung auf das Land zur Folge, wo die Lebensmittelversorgung lokal sogar besser als zu der von extremer Armut gekennzeichneten sowjetischen Zeit sein konnte. In den Städten dagegen erhielt selbst die arbeitende Bevölkerung nicht genug Lebensmittel, um die Subsistenz zu sichern, wobei Beschäftigte in den Verwaltungen und Selbständige deutlich besser gestellt waren. Penter sieht in vielen demographischen und sozialen Entwicklungen der Besatzungszeit geradezu eine Umkehr der vorherigen Entwicklungen der Sowjetherrschaft. Die Analyse einzelner Gruppen der arbeitenden Bevölkerung (Frauen, Jugendliche, Kriegsgefangene, jüdische Zwangsarbeiter) führt sie zu dem Schluss, dass die Situation der arbeitenden Bevölkerung in vielerlei Hinsicht häufig sogar schlechter gewesen ist als die Situation der ,,Ostarbeiter" im Deutschen Reich. Dennoch hält sie eine einfache Übertragung des Verständnisses von ,,NS-Zwangsarbeit", wie es sich in der Forschung zum ,,Reichseinsatz" entwickelt hat, auf den Arbeitseinsatz in der besetzten Ukraine für nicht angemessen. Weder werde dies der Vielschichtigkeit der Arbeitsverhältnisse gerecht, noch sei Zwang in der Arbeitserfahrung der Betroffenen neu oder vorrangig gewesen. Dieser Befund verdeutlicht die Notwendigkeit, Arbeitserfahrungen aus der Besatzungszeit in eine längerfristige Perspektive der Arbeitsverhältnisse in den besetzten Gebieten zu rücken.

Der Bochumer Wirtschaftshistoriker Lutz Budraß untersucht den Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter im Heinkel-Werk in Budzyn/Generalgouvernement als Beispiel für die moralische Korruption der deutschen Unternehmerschaft sowie für den Versuch, das besetzte Europa für die NS-Kriegswirtschaft nutzbar zu machen. Im Kalkül Ernst Heinkels sollte der Aufbau einer Flugzeugproduktion in Budzyn als Zwangsarbeiterwerk vor allem dem Erhalt seines von Auslagerung bedrohten Stammwerkes in Rostock und der Sicherung von Teilen der dortigen Belegschaft dienen. Der Aufbau des Werkes in Budzyn, für den von vornherein jüdische Häftlingsarbeiter unabdingbar waren, fiel mit dem Beginn der ,,Endlösung" im Generalgouvernement zusammen. Da Heinkel zwischenzeitlich das Interesse an dem Projekt wegen Verschiebungen der luftrüstungswirtschaftlichen Planungen verlor, verschleppte sich der Aufbau des Werkes erheblich. Die seit dem November 1942 in größerer Zahl eingesetzten jüdischen Zwangsarbeiter waren in hohem Maße mit unproduktiven Arbeiten beschäftigt. Erst die im Sommer 1943 kurzfristig getroffene Entscheidung, das Flugzeug He 219 doch in Budzyn zu produzieren, verlieh dem Standort eine - wenn auch nicht lange währende - kriegswirtschaftliche Priorität. Die kurze Phase rüstungswirtschaftlicher Bedeutung reichte aber aus, die jüdischen Arbeitskräfte vor der Herausziehung durch die SS zu schützen, so dass im Zwangsarbeiterlager Budzyn mehr jüdische Häftlinge überlebten als in vergleichbaren Lagern des Generalgouvernement.

Der in Berlin forschende Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch beschäftigt sich mit den ukrainischen, polnischen und jüdischen Arbeitskräften der im Generalgouvernement operierenden Beskiden-Gesellschaften bzw. der Karpaten Öl AG, die 1939 bzw. im August 1942 im Auftrag des Reiches von einem Firmenkonsortium gegründet wurden, um die galizischen Erdölvorkommen auszubeuten. Die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse in der galizischen Erdölindustrie verlief in seinen generellen Linien gewissermaßen umgekehrt zur Entwicklung des Arbeitseinsatzes im Reich. Nach dem Überfall auf Polen gerieten zunächst die westgalizischen Erdölvorkommen unter deutsche Kontrolle, während die ostgalizischen Betriebe und Felder der Sowjetunion zufielen. Da die galizische Erdölindustrie im Kalkül der Reichsbehörden zunächst keine große Rolle spielte, blieb die Lebensmittelversorgung der polnischen und ukrainischen Stammbelegschaften trotz der Bemühungen des Unternehmens völlig unzureichend, so dass die Lage der Arbeiterschaft geradezu verzweifelt war. Eine deutliche Verbesserung der Situation trat - entgegengesetzt zur Entwicklung des Ausländereinsatzes im Reichsgebiet - seit dem Frühjahr 1943 ein, als es der Karpaten ÖL AG gelang, als Wehrbetrieb anerkannt zu werden. Durch die damit verbundene Heraufsetzung der öffentlichen Lebensmittelrationen und durch intensivierte Bemühungen des Unternehmens, erträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen als Voraussetzung zur Erreichung der Produktionsziele zu schaffen, konnte die Lebenshaltung der Arbeiterschaft deutlich angehoben werden. Um Zwangsarbeiter handelte es sich bei den seit dem Herbst 1942 in den Betrieben des Unternehmens eingesetzten jüdischen Arbeitskräften. Karlsch betont, dass - über die herausragenden Rettungsinitiativen eines Berthold Beitz hinaus - zumindest der Erhalt der jüdischen Fachkräfte und damit verbunden deren Rettung vor der Vernichtung Bestandteil der Firmenpolitik gewesen sei. Dagegen lehnt er - wenigstens auf der Grundlage des derzeitigen Forschungsstandes - die Bezeichnung ,,Zwangsarbeiter" für die Mehrheit der polnischen und ukrainischen Beschäftigten ab, u. a. weil die Belegschaften eine starke Kontinuität aufwiesen, sie nicht in Lagern kaserniert wurden und einer Brutalisierung des Arbeitskräfteeinsatzes Grenzen gesetzt gewesen seien. Stattdessen schlägt Karlsch die Formel ,,unfreie Arbeit unter einem brutalen Besatzungsregime" vor, die aber m. E. die Rolle der Unternehmen bei der praktischen Ausformung von Arbeitsverhältnissen zu unterschlagen droht.

Insgesamt verdeutlichen die Beiträge dieses Bandes die Fülle der Probleme, die sich bei der Übertragung der Zwangsarbeitsforschung auf die besetzten Gebiete ergeben, wenn sie die Vielfalt und Differenziertheit der dortigen Arbeitsverhältnisse berücksichtigen soll. Gleichwohl zeigen die Beiträge die heuristische Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes für die Forschungen zur Zwangsarbeit und zu den besetzten Gebieten, der sich in weiteren empirischen Studien beweisen sollte.

Christoph Seidel, Bochum


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