ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karl Christian Führer (Hrsg.), Tarifbeziehungen und Tarifpolitik in Deutschland im historischen Wandel, J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2004, geb., 32,- €.

Im Unterschied zu spektakulären tarifpolitischen Einzelereignissen fristet die Tarifpolitik als systematisch zu analysierendem Gegenstand eigenen Rechts in der sozialwissenschaftlichen Befassung mit Arbeiterbewegung und industriellen Beziehungen ein eigentümliches Schattendasein(1), so auch - wie der Herausgeber des hier anzuzeigenden Sammelbandes einleitend vermerkt - in der einschlägigen Historiographie. Um dem Abhilfe zu schaffen, geht es hier nicht um die für die Gesamtentwicklung des tarifpolitischen Systems in Deutschland eher untypischen tarifpolitischen Großkonflikte als Ausdruck grundlegenderer Konfliktlagen bzw. als Weichenstellungen im größeren politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang. Vielmehr soll der Band Ansätze bieten zu einer ,,Rekonstruktion des Handlungs- und Kommunikationsraumes, in dem Tarifverträge entstanden, weil mir dies einerseits besonders wichtig, andererseits auch besonders schlecht erforscht zu sein scheint" (S. 15). Im Mittelpunkt stehen dementsprechend der Wandel von Akteursgruppen und Akteurskonstellationen, professionellen und soziokulturellen Leitbildern und Deutungsmustern sowie institutionelle und organisationale Lernprozesse, die das soziale Handlungsfeld Tarifpolitik konstituieren und konturieren.

Acht Beiträge decken zeitlich die Spanne zwischen der frühen Weimarer Republik und den 1970er bzw. 1980er Jahren in West- und Ostdeutschland ab: ein Beitrag zur Aufnahme der neuen Rechtslage bezüglich Tarifwesen und betrieblicher Arbeitnehmervertretung durch eine bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte funktional und organisatorisch verselbständigte, zentrale betriebliche Arbeits- und Sozialpolitik in der bzw. einem Unternehmen (Bayer) der Großchemie (Werner Plumpe); einer Analyse der Akteurs- und Interessenkonstellationen sowie der situativen Bedingungen, die es den Tarifparteien im deutschen Baugewerbe ermöglichten, sich auf ein rein tarifliches Schlichtungssystem zu verständigen und daran bis 1931 festzuhalten (Karl Christian Führer); ein Beitrag zur Erosion des Tarif(ordnungs)wesens während der NS-Zeit infolge der exponentiellen Zunahme rechtsförmiger ad-hoc-Regeulierung durch die Deutsche Arbeitsfront, und zu entgegengesetzten korporatistischen Bestrebungen aus Teilen der Industrie (Rüdiger Hachmann); eine Analyse der Bemühungen um den Übergang von personenbezogenen Einstufungs- zu einem anforderungsbezogenen Arbeitsbewertungssystem während der NS-Zeit und ihrer Fortführung in Westdeutschland, sowie der Widerstände, auf die diese Bestrebungen jeweils trafen (Günter Könke); zwei komplementär zu lesende Beiträge zur Arbeitszeitpolitik der Gewerkschaft ÖTV im Bereich der Krankenpflege (Susanne Kreutzer) und zum Zusammenhang gewerkschaftlicher Zeitpolitik und Geschlechterpolitik im öffentlichen Dienst (Brigitte Kassel); eine Rekonstruktion der Entwicklung sozialpartnerschaftlicher Aushandlungsbeziehungen im Bereich der nordrhein-westfälischen Polizei bis Anfang der 1970er Jahre (Klaus Weinhauer); und schließlich ein Überblick über die Entwicklung des Tarifsystems der DDR im Spannungsverhältnis von Leistungs(anreiz)politik und sozialem Ausgleich (Peter Hübner).

Der Band ist schon deshalb verdienstvoll, weil praktisch alle Beiträge von der einschlägigen auch sozialwissenschaftlichen Forschung bislang kaum oder wenig beackertes Terrain erschließen. Er hat vor allem dort seine Stärken, wo der Zusammenhang von Akteurskonstellationen, Rationalitäts- und Legitimitätsvorstellungen und unmittelbaren Interessenlagen der beteiligten Akteure und institutionellen wie situativen Bedingungen ihres Handelns deutlich werden, und wo Entwicklungen, Blockaden, Weichenstellungen des Handlungsfeldes Tarifpolitik auf dieser Grundlage erklärt werden können. Das gilt in besonderer Weise für die Beiträge von Kreutzer und Kassel, in denen der komplexe Zusammenhang zwischen (sich wandelnden) beruflichen Selbst- und gesellschaftlichen Rollenverständnissen, gruppenspezifischen Repräsentationsverhältnissen, dem Einfluß individueller Akteure in organisatorischen Schlüsselpositionen und den strategischen Integrationsproblemen heterogener Großorganisationen nicht als diffuse Gemengelage präsentiert, sondern im strengen Sinne transparent gemacht werden. Die Autorinnen liefern damit auch exemplarische Beiträge zur Analyse des notorischen gewerkschaftlichen Dilemmas, zwischen langfristig-strategischen und kurz- bzw. mittelfristig-empirischen Interessen und Handlungsorientierungen vermitteln zu müssen, ohne genau zu wissen (oder gar programmatisch festlegen zu können) wo die Grenzen zwischen beiden verlaufen. Hervorzuheben an dieser Stelle auch: Führers Analyse zu den Stabiltitäts- und Verfallsbedingungen des konsensualen Schlichtungswesens im Baugewerbe, den gemeinsamen Vorbehalten von Baugewerkschaftern und Bauunternehmern gegenüber taktischem Verhalten als wesentlichem Aspekt des tariflichen Aushandlungswesens und der im Zeitverlauf wechselnden Bedeutung hauptamtlicher Verbandsvertreter (der ,,Syndizi") anstelle von Bauunternehmern; Weinhauers Beitrag zu den Bedingungen der schließlichen Durchsetzung einer sozialpartnerschaftlichen Aushandlungskultur als Beitrag bzw. Impulsgeber zur Zivilisierung der Polizei; Könkes und Hübners Beiträge dort, wo sie auf den Zusammenhang von (verbände)politischen Konzeptions- und Entscheidungsprozessen und betrieblicher Praxis Bezug nehmen.

Hartmann liefert in seinem Beitrag eine prägnante Analyse der institutionellen und personellen Bedingungen für den Aufstieg der DAF zum arbeitspolitischen Machtzentrum nationalsozialistischer Arbeitspolitik und für ihr Obsiegen gegenüber Industrievertretern in der Kontroverse um eine angemessene Regulierung von Tarifen. Etwas blass bleibt dabei aber deren praktischer Kern. Es ist sicherlich plausibel und wichtig festzuhalten, dass exponentielle ad-hoc-Rechtsetzung de facto zu Regellosigkeit führte und bei Industrievertretern den Wunsch nach rationalerer Regulierung und mehr Professionalität in diesem Bereich aufkommen ließ. Etwas genauer wüsste man aber doch gern, an welchen konkreten Themen bzw. in welcher Form dieses Spannungsverhältnis in der Praxis brisant wurde. Ein paar knappe Verweise auf Timothy W. Masons umfangreiche Quellenpublikation hätten da helfen können.(2)

Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt auch Plumpes Beitrag. Dieser bietet einerseits eine ausgezeichnete, gerade auch mit Blick auf aktuelle Umbrüche von Unternehmensstrukturen und Unternehmensführung (vulgo: corporate governance) eminent wichtige Analyse der funktionalen Verselbständigung der Arbeitspolitik in großen Unternehmen und des Aufstiegs der Personalfunktion zu einer strategischen Unternehmensfunktion, dokumentiert im Einzug ihres Leiters in eine Vorstandsposition. Und er belegt am Beispiel der Akkordentlohnung bei Bayer, wie das Management unter den neuen tarif- und arbeitsrechtlichen Bedingungen die Kontinuität dieser Politik zu wahren und das Heft in der Hand zu behalten weiß. Die Bedingungen der Möglichkeit dazu bleiben aber weitgehend ausgeblendet. Die tarifvertraglichen Strukturen werden im Sinne externer Rahmenbedingungen lediglich kursorisch erläutert, und der Zusammenhang zwischen betrieblicher und gewerkschaftlicher Arbeitnehmervertretung bleibt ebenso ausgeblendet wie die Frage, warum die betriebliche Arbeitnehmervertretung trotz entgegen gesetzter Positionen in der Akkordfrage offenbar nicht anders konnte, als das Spiel des Managements mitzuspielen. Das Problem scheint mir in dem ambitionierten, transaktionskostenökonomischen Aufschlag des Beitrags zu liegen, mit dem sich der Autor die unprätentiöse Analyse von Machtverhältnissen als Machtverhältnisse verstellt, etwa im Anschluss an Crozier/Friedbergs strategische Analyse oder an Bourdieus Theorie des sozialen Feldes.(3) Das ist umso bedauerlicher, als der Autor - etwa bei der Analyse der Meisterwirtschaft und ihres Verfalls - eine Vielzahl entsprechender Zusammenhänge thematisiert.

Insgesamt handelt es sich bei diesem Band um ein Buch, das gerade auch Sozialwissenschaftlern die Notwendigkeit vor Augen führt, Theorien alltagspraktisch zu ‚erden'. Oder anders: Die konkrete Empirie aktueller wie historischer Abläufe ist nicht einfach der Anwendungsbereich von Theorie, sondern zugleich der beständige Ausgangspunkt ihrer Revision. Mit Blick auf die Theorie der industriellen Beziehungen liefert dieses Buch wichtige Anstöße. Seine Lektüre ist deshalb gerade auch einschlägig interessierten Sozialwissenschaftlern zu empfehlen.

Jürgen Kädtler, Göttingen


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