ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

John Torpey (Hrsg.), Politics and the Past. On Repairing Historical Injustices, Rowman & Littlefield, Lanham 2003, 316 S, kart., 29,95 $.

Das Bedürfnis, vergangenes Unrecht zu reparieren, auszugleichen, wiedergutzumachen, steht hoch im Kurs. Staaten und international tätige Unternehmen der westlichen Welt, die etwas auf sich halten, sind zunehmend bereit, mit der Vergangenheit 'ins Reine zu kommen', was zumeist heißt: Entschädigung an die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung leisten. Sie sind dabei jedoch nur selten selbst initiativ, meist werden sie vom Trend einer ,,neuen internationalen Moral" (Elazar Barkan) vor sich hergetrieben. Gleichzeitig treten Opfer massenhafter Verbrechen immer wirkungsvoller in Erscheinung, unterstützt zumeist von versierten Anwälten. ,,Die Historie wird rückabgewickelt", meinte die Süddeutsche Zeitung mit Blick auf dieses Phänomen vor einigen Jahren, und sie scheint damit den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben.

Die Wissenschaft reagiert auf diese Entwicklung seit einiger Zeit mit einer wahren Flut an Tagungen und Publikationen, die unter Überschriften wie ,,Reparations", ,,Justice" oder ,,Reconciliation" firmieren. Zeithistoriker, Politologen, Juristen, Soziologen oder Psychologen gehen dabei der Frage nach, welche Formen des Umgangs mit historischen Massenverbrechen es gibt und welche am besten dazu geeignet erscheinen, den Opfern gerecht zu werden und gleichzeitig so etwas wie Verständigung oder Aussöhnung zu erreichen. Der Sammelband des in British Columbia lehrenden Soziologen und Historikers John Torpey ist als ein weiterer Beitrag zu dieser Diskussion zu verstehen, und - das sei hinzugefügt - als ein besonders wichtiger. Zwar ist seine Konzeption, Aufsätze zu allgemeinen philosophisch-rechtlich-historischen Fragen zur Wiedergutmachung mit Fallstudien zu verbinden, durchaus nicht neu; schließlich drängt sich diese Mischung aus normativen und deskriptiven Betrachtungen beinahe auf. Doch erstens geht dieser Band über den Horizont der meisten anderen Beiträge zum Thema hinaus. Zweitens ist die Zusammensetzung der Fallbeispiele und vor allem der Autoren sehr interessant, da es sich um ein interdisziplinäres Board handelt.

John Torpey eröffnet den Band und spannt in seiner Einleitung das Thema auf, indem er das weite Feld der Wiedergutmachungspolitik sowie der verschiedensten Arten von Rückerstattungs- und Entschädigungsforderungen skizziert. Es folgt der erste große Abschnitt des Buches, in dem es um die jüngsten Entwicklungen und Bemühungen im Bereich der Wiedergutmachung aus historischer und soziologischer Perspektive geht. Dabei sehen die Soziologen Jeffrey K. Olick und Brenda Coughlin in ihrem Beitrag die zunehmende Beschäftigung mit vergangenem Unrecht als ein Symptom für den Niedergang des Nationalstaats im Zuge eines wachsenden sozialen Selbstverständnisses des Individuums. Der Politologe Alan Cairns untersucht die unterschiedlichen historischen Ansätze, wie die Vergangenheit ,,bewältigt" werden soll bzw. kann. Elazar Barkan, wohl einer der bekanntesten Wiedergutmachungstheoretiker, beschreibt den wachsenden Trend hin zu einer internationalen Moral und deren Auswirkungen auf den Umgang mit historischen Unrechtshandlungen. Abgeschlossen wird dieser Teil mit den Betrachtungen des Rechtswissenschaftlers Roy L. Brooks, der sich mit einer Theorie der Entschädigung auseinandersetzt und künftige Formen von Wiedergutmachung diskutiert.

Im zweiten großen Abschnitt des Bandes sind sieben Fallstudien aus unterschiedlichen Epochen und Regionen der Welt versammelt. Interessant an der Auswahl ist vor allem, dass sie nicht nur unterschiedliche Massenverbrechen behandeln, sondern sich auch darin unterscheiden, ob überhaupt bereits irgendeine Form von Entschädigung geleistet wurde oder nicht, und wenn ja, in welcher Form: Ob als Verträge, als finanzieller Ausgleich, als Rückgabe etc. Zunächst setzt sich der Soziologe Dalton Conley mit der Frage auseinander, inwiefern Entschädigungsleistungen für ehemalige Sklaven in Amerika die aktuelle Situation der schwarzen Bevölkerung verbessern könnten. Die Japan-Historikerin Laura Hein beschäftigt sich mit den - bis dato nicht sehr weit gehenden - Bemühungen der Regierung in Tokio zur Wiedergutmachung von Kriegsverbrechen, die während des Zweiten Weltkriegs begangen worden waren. Ruth B. Phillips und Elizabeth Johnson, zwei im Museumsbereich tätige Autorinnen, berichten über eine Art kulturelle Rehabilitation, die von kanadischen Museen in letzter Zeit gegenüber indigenen Bevölkerungen geleistet wird; dabei diskutieren sie den Prozess einer neuen Beziehung zwischen den ,,Tempeln der Hochkultur" und den Menschen, die dort gewissermaßen ,,ausgestellt" werden. Der Politologe Sharon F. Lean untersucht die (vergleichsweise mageren) Wiedergutmachungsprogramme für Verbrechen der Militärregime in Lateinamerika und fragt nach deren Beitrag zur Aussöhnung. Der Menschenrechtsexperte Rhoda E. Howard-Hassmann fordert in seinem Beitrag, dass sich die ökonomisch starken Länder der Welt als eine Form der Wiedergutmachung für die Ausplünderung Afrikas während der Kolonialzeit dauerhaft zur wirtschaftlichen Hilfe verpflichten. Verträge und Abkommen zwischen der kanadischen Regierung und der dortigen indigenen Bevölkerung werden von den drei Soziologen R.S. Ratner, William K. Carroll und Andrew Woolford analysiert. Schließlich befasst sich der belgische Rechtswissenschaftler Stef Vandeginste mit dem aktuellsten Fallbeispiel, dem Genozid in Ruanda, und dem dortigen besonderen Weg einer Verbindung von materieller und immaterieller Wiedergutmachung.

Der Band schließt im Teil drei mit Reflexionen über die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses von Geschichte und Gesetz, die sich im Zuge eines wachsenden Bedürfnisses nach Wiedergutmachung für historisches Unrecht stellt. Zunächst macht sich der bekannte französische Historiker Henry Rousso Gedanken darüber, inwiefern der Papon-Prozess eine dramatische Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung von im Zweiten Weltkrieg begangenem Unrecht bedeutete. Der amerikanische Historiker Charles S. Maier beschließt den Band mit einer ausgesprochen lesenswerten Reflexion über die unterschiedlichen Aufgaben, die Wahrheitskommissionen, Historiker und Richter bei der Bewältigung von historischen Unrechtshandlungen übernehmen können. Er verweist dabei auf die Hauptaufgabe, die sich dem Historiker seiner Meinung nach stellt: Die Opfer aus dem Dunkel der Vergangenheit zu holen, ihnen überhaupt eine Stimme zu geben; denn dies, so seine Überzeugung, ist bereits eine - und zwar eine sehr wichtige - Art der Wiedergutmachung.

Damit ist auch schon auf eine bedeutsame und folgenreiche Erweiterung des Begriffs Wiedergutmachung verwiesen, für die dieser Band, allen voran der Herausgeber John Torpey, steht: Er nimmt nicht nur die juristische oder materielle, sondern vor allem auch die kulturelle Dimension von Entschädigung, Rückerstattung und Ausgleichshandlungen in den Blick, die häufig im Zusammenhang mit dem Streit über die Höhe der Geldleistungen außer Acht gelassen wird.

Zugleich zieht sich durch alle Beiträge wie ein roter Faden der Verweis auf eine Grundproblematik der Wiedergutmachung: Dass es sich dabei um einen Aushandlungsprozess handelt, bei dem immer nur ein Teil der Erwartungen erfüllt werden kann, und dass der Blick auf Restitution und Entschädigung entscheidend davon abhängt, ob man Berechtigter oder Pflichtiger ist. So ist die Rückgabe von Gebieten an indigene Einwohner Kanadas aus deren Sicht eine Wiederaneignung von Tradition, Spiritualität, kurzum: kultureller Identität; für die Regierung hingegen handelt es sich dabei um einen rein materiellen Aufwand, der zur sozialen Befriedung dient. Mit derartigen Beispielen zeigt dieses Buch, dass die Differenz zwischen begangenem Unrecht und dessen Wiedergutmachung zumeist sehr groß, kaum aufzuheben und nur künstlich vernäht ist. Das liegt daran, dass Rückerstattung und Entschädigung nicht nur moralisch motiviert sind, sondern in erster Linie ein Resultat von Machtverhältnissen und Teil wirtschaftlicher Logiken. Historische Ereignisse und Entwicklungen können damit nicht rückgängig gemacht werden, ein symmetrisches Zurückdrehen der Verfolgung ist nicht möglich, oder anders gesagt: Unrecht kann nicht zu Recht werden. Die Bedeutung der Wiedergutmachung liegt daher - und zwar für denjenigen, der darauf Anspruch hat, wie für jenen, der dazu verpflichtet wird - im Konstituieren einer veränderten Gegenwart.

Dieser Sammelband bietet also eine Reihe von interessanten und sehr anschlussfähigen Ergebnissen und Überlegungen; gleichwohl bleibt auf kleinere Schönheitsfehler hinzuweisen. So hat der bisher - zumindest in materieller Hinsicht - wohl umfangreichste Fall von Wiedergutmachung, nämlich die Rückerstattungs- und Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik für NS-Unrecht, in diesem Buch keinen eigenen Beitrag erhalten. Einerseits ist diese bewusste Auslassung verständlich, da man sich über diese Thematik an anderer Stelle ausreichend informieren kann; andererseits ist diese Aussparung doch als ein Versäumnis zu bezeichnen, denn die westdeutsche Wiedergutmachungsgeschichte dient in vielen Fällen als ein Referenzpunkt für das Streben nach einem 'coming to terms with the past' - gerade auch die in diesem Sammelband aufgeführten Fallbeispiele belegen das. Zudem geht der Band nicht auf den bedeutsamen Komplex der Opferkonkurrenz ein. Dabei handelt es sich gewiss um ein heißes Eisen, an dem sich die meisten Wiedergutmachungsforscher nicht die Finger verbrennen möchten. Für ein weitergehendes Verständnis der Wirkung von Ausgleichshandlungen, zumal mit Blick auf die immer stärker international ausgerichteten Forderungen, ist diese Perspektive jedoch unerlässlich. Schließlich ist zu bedauern, dass wirkliche 'Wiedergutmachungpraktiker', etwa Delegierte einer Truth Commission, Regierungsbeauftragte oder an einer Historikerkommission beteiligte Wissenschaftler nicht zu Wort kommen. Der interdisziplinäre Ansatz, den diese Aufsatzsammlung verfolgt, wäre bei einer Hereinnahme solcher Experten noch stärker spürbar geworden.

Insgesamt überwiegen jedoch die Stärken des Bands, er eröffnet ein Panorama dessen, was Wiedergutmachung leisten kann - und was sie eben nicht leisten kann. Eindrucksvoll wird hier nachgewiesen, wie sich (zumindest in der westlichen Welt) die geschichtspolitischen Mechanismen in den letzten Jahren verschoben haben. Während früher die Betrachtung der Vergangenheit dazu diente, an zustimmungswürdige Traditionen und Ereignisse anzuknüpfen, beziehen sich Gesellschaften und Staaten seit einiger Zeit auf eine Vergangenheit, die sie ablehnen und aus der sie 'Lehren ziehen' wollen. So finden die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung, von Krieg und Genozid, von Kolonialismus und Sklaverei zunehmend Gehör für ihre Forderungen nach Wiedergutmachung und Rehabilitation - der 'Aufstand der Geschichte', so scheint es, hat gerade erst begonnen.

Tobias Winstel, München


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