ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ralph Jessen/Sven Reichardt/Ansgar Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (Bürgergesellschaft und Demokratie 13), Verlag für Sozialwissenschaften, Opladen 2004, 376 S., brosch., 34,90 €.

Dass ein Nachteil des Zivilgesellschaftskonzepts gleichzeitig einer seiner großen Vorzüge ist, macht der Band ,,Zivilgesellschaft als Geschichte" deutlich. Denn der gegen den Begriff Zivilgesellschaft gerichtete Vorwurf, er sei unpräzise und nicht abgrenzbar, bietet andererseits die Chance, verschiedene Forschungsfelder zu verbinden und unter einer gemeinsamen Fragestellung zu betrachten. Entsprechend vielfältig sind die Themen, die sich in diesem Sammelband finden, der auf eine Tagung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung im Jahr 2002 zurückgeht. Von ideengeschichtlichen Höhenflügen über die Bedeutung der Solidarität im Werk Adam Smiths (Christina Stecker) bis zur basisnahen Untersuchung zur Bedeutung von bundesdeutschen Protestbewegungen für die Zivilgesellschaft (Dieter Rucht) reicht das Spektrum.

Die insgesamt fünfzehn Beiträge sind - neben einer Einleitung der Herausgeber Jessen und Reichardt sowie einer Skizze Jürgen Kockas zur ,,Zivilgesellschaft in historischer Perspektive" - in vier Themenblöcke eingeteilt. Sie setzen sich mit zivilgesellschaftlichen Werten und sozialen Selbstorganisationen auseinander, behandeln Philanthropie und Mäzenatentum, vergleichen Zivilgesellschaften in der Krisenphase der Zwischenkriegszeit und untersuchen Ungleichheit und Entwicklungsdynamik der Zivilgesellschaft.

Der Band ist kein emphatisches Bekenntnis für das Zivilgesellschaftskonzept als Analyseansatz für historische Prozesse. Vielmehr werden die zahlreichen Probleme, die mit dem Begriff der Zivilgesellschaft verbunden sind, thematisiert. Die normative Aufladung des Begriffes erschwert die wissenschaftliche Nutzbarmachung ebenso wie eine starre Einbettung der Zivilgesellschaft als ein Feld, das zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre angesiedelt ist. Gerade in dieser schwierigen Ausgangssituation, aus der auch zum Teil ,,die Distanz der Geschichtswissenschaft" zum Zivilgesellschaftsbegriff resultiert (Jessen/Reichardt, S. 7), sehen die Herausgeber und Autoren jedoch auch Chancen. So bestehe die Möglichkeit, das Zivilgesellschaftskonzept zu historisieren, in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext einzubetten, das Spannungsfeld Exklusion und Inklusion auszuleuchten, nach den sozialen Trägerschichten des Zivilgesellschaftsgedankens zu fragen oder die nichtintendierten Handlungen zu untersuchen, die sich aus zivilgesellschaftlichem Engagement in Krisenzeiten ergeben. Auch lasse sich über die Abgrenzung oder die gegenseitige Durchdringung von Zivilgesellschaft und den umgebenden Sphären Staat, Markt und Familie diskutieren.

Die abgedruckten Beiträge liefern hierfür interessante und überzeugende Ergebnisse. Dieter Rucht etwa thematisiert das Spannungsverhältnis von Protest und zivilgesellschaftlichen Handlungsformen. Radikale Proteste fallen demnach nicht per se unter das Verdikt des ,,Unzivilen". Vielmehr gilt es, den Kontext, die Funktion und die Effekte der Proteste genauer zu betrachten, um zu erkennen, ob und inwieweit Proteste die Zivilgesellschaft befördern können. Hierfür müssen die Protestbewegungen jedoch normative Grundbedingungen erfüllen. Es bedarf der Selbstdisziplin der Protestierenden, die auf Eingrenzung des Konfliktgegenstandes statt auf Generalisierung und Eskalation zielt. Dies garantiere wiederum von staatlicher Seite die Bereitschaft, die Proteste zu dulden. Der zivile Ungehorsam habe alle legalen Mittel auszuschöpfen, müsse gewaltfrei agieren, unterliege der ,,Begründungspflicht" und dürfe nicht zur Privilegierung von Sonder- oder Einzelinteressen führen. Unter diesen Gesichtspunkten ließen sich etwa die Konflikte um die Legalisierung der Abtreibung, um die zivile Nutzung der Atomenergie oder um die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen als produktive Proteste bezeichnen.

Die sozialen Trägerschichten zivilgesellschaftlichen Handelns nehmen in dem Band einen breiten Raum ein. Neben dem Bürgertum (Manfred Hettling) fand das Projekt Zivilgesellschaft seine Protagonisten und Unterstützer auch im katholischen und proletarischen Milieu des 19. Jahrhunderts. Thomas Welskopp arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass die Sozialdemokratie ,,nicht die Antithese zur ‚bürgerlichen Gesellschaft' (verkörperte)", sondern sich mit ihrem Engagement in der öffentlichen Sphäre von Politik und Verein als Vertreterin der eigentlichen Zivilgesellschaft sah. Hermann-Josef Große Kracht wiederum verdeutlicht die Ambivalenz des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Einerseits konstatiert er den Aufbau einer antimodernen, auf Frömmigkeit ausgerichteten, auf sich selbst gerichteten Subkultur; andererseits entstand ein dichtes Netz an Vereinen und Organisationen. Die Mitglieder dieses umfassenden Netzwerkes traten gegen Ende des 19. Jahrhunderts ,,'aus dem Turm heraus' (Julius Bachem)" und partizipierten an den gesellschaftlichen und politischen Belangen des Kaiserreichs. Auf diese Weise erfolgte eine ,,indirekte Verstaatsbürgerlichung und unbeabsichtigte Integrationsleistung der katholischen Vereine" (Große Kracht, S. 101 ff.).

Solche Inklusionsleistungen zivilgesellschaftlicher Akteure sind jedoch in zahlreichen Fällen mit Exklusionsmechanismen verbunden. Die frühe Sozialdemokratie beispielsweise schloss aus ihrem männlich dominierten Handwerkermilieu Frauen, ungelernte Arbeiter und Landarbeiter aus. Die bürgerlichen Meisterdenker wiederum konstruierten jeweils getrennte Privat- und Öffentlichkeitssphären, die geschlechterspezifisch überlagert waren und Frauen Rollen jenseits des Öffentlichen zuwiesen. Allerdings verdeutlicht Gunilla-Friederike Budde in ihrem Aufsatz, dass in der alltäglichen Praxis die Grenze nicht kategorisch festgelegt war, sondern ,,dem Entscheidungsspielraum der männlichen und weiblichen Akteure anheim gestellt" war (Budde, S. 331).

Um sich aber überhaupt im öffentlichen Raum zivilgesellschaftlich engagieren zu können, bedurfte und bedarf es unter anderem Zeit, Geld, Bildung und kommunikativer Fähigkeiten - Ressourcen, die ungleich verteilt sind (Kocka, S. 39). Zivilgesellschaft steht damit auch in einem Spannungsverhältnis zu sozialer Ungleichheit. Einerseits ist soziale Ungleichheit ein Antriebsfaktor, der zivilgesellschaftliche Akteure auf den Plan ruft, von daher setzt zivilgesellschaftliches Handeln ein Mindestmaß an Ungleichheit voraus; zum anderen darf soziale Ungleichheit ein gewisses Maß nicht überschreiten, da sie sonst lähmt und ausgrenzt. Paul Nolte etwa stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich Zivilgesellschaft ,,alleine mit einer bürgerlich und politisch engagierten Mittelklasse herstellen" lässt. Angesichts des Bedeutungsverlustes der klassischen Arbeiterbewegungskultur sowie des Rückzugs neuer Unterschichten aus Organisationen und der geringeren politischen und gesellschaftlichen Partizipation dieser Unterschichten sieht Nolte hier wichtige weitere Forschungsaufgaben liegen (Nolte, S. 322 ff.).

Was es bedeutet, wenn man das Zivilgesellschaftskonzept historisiert und in den gesellschaftlichen Kontext einbettet, zeigt auf überzeugende Weise auch der Abschnitt über die Krisenjahre der Zwischenkriegszeit. Hier wird den Lesern deutlich, dass Zivilgesellschaft nicht in der schlichten Vorstellung einer ‚besseren Gesellschaft' aufgeht und per se als Grundvoraussetzung für Demokratisierung angesehen werden kann. Vielmehr werden die Ambivalenzen zivilgesellschaftlichen Handelns sichtbar. Robert Putnams Vermutung, dass Engagement in zahlreichen Vereinen ein entscheidendes Kriterium für die Stärke der Zivilgesellschaft sei, wird widerlegt. In vielen Vereinen der Weimarer Republik gedieh jenes antidemokratische Klima, das von dem Recht auf Anerkennung des Anderen weit entfernt war (Reichardt, S. 219 ff., 234). Gerade die bürgerlichen Vereine der Mittelschichten fungierten als Einfallstore für den Nationalsozialismus und italienischen Faschismus. Für die versäulten bzw. in Lagern aufgespaltenen Gesellschaften der Niederlande und Österreichs hebt Jürgen Nautz hervor, dass die Bereitschaft zur Assoziation allein kein hinreichendes Kriterium zur Bestimmung des Zivilgesellschaftsbegriffs ist, sondern der ,,normativen Ergänzung" bedarf (Nautz, S. 277). Thomas Mergel wiederum verweist darauf, dass die Weimarer Republik mit einem Erwartungsüberschuss befrachtet wurde, den sie nur schwer erfüllen konnte. Selbst die zivilgesellschaftlichen Akteure vertrauten paradoxerweise vor allem auf den Staat, während im Großbritannien der Zwischenkriegszeit weniger der Staatsinterventionismus als vielmehr die Selbsthilfe im Vordergrund standen (Mergel, S. 215, 207).

Sahen die bisher genannten Autoren durchaus Chancen bei der Verwendung des Zivilgesellschaftskonzepts, kommt Stephan Malinowski, nachdem er den deutschen Adel nach 1918 unter zivilgesellschaftlichen Aspekten untersucht hatte, zu einem höchst skeptischen Urteil. Seine Untersuchung zeige, dass der Adel zwar eine Vielzahl an zivilgesellschaftlichen Handlungsweisen und Normen erfülle (marktfern, gemeinwohlorientiert, politisches Engagement), aber in letzter Konsequenz exklusiv, antidemokratisch und antiegalitär agiert habe. Der Begriff Zivilgesellschaft stifte daher ,,mehr begriffliche Verwirrung als analytischen Nutzen" (Malinowski, S. 255).

Malinowskis Einschätzung markiert das Extrem in diesem Sammelband. Zwar durchzieht eine kritische Haltung gegenüber dem Zivilgesellschaftsbegriff das Buch, jedoch wird diese Skepsis in allen Beiträgen - auch in Malinowskis - fruchtbar umgesetzt. Bemängeln kann man, dass die Fallbeispiele aller Autoren aus anderen Publikationen - zumindest den mit Geschichtswissenschaft vertrauten Lesern - bekannt sind. Andererseits bietet sich für Wissenschaftler, die sich mit dem Zivilgesellschaftskonzept befassen, die Möglichkeit, sich einen Querschnitt durch die jüngste sozial-, politik- und kulturhistorische Forschung der letzten Jahre zu betrachten.

Da sich alle Beiträge in lobenswerter Weise auf die übergeordnete Fragestellung eingelassen und ihre Forschungsfelder unter dem Aspekt der Zivilgesellschaft neu betrachtet haben, entsteht zwar ein gewisser ,,déjà-vu"-Effekt, etwa wenn in mehreren Aufsätzen auf die Definitions- und Normproblematik des Zivilgesellschaftsbegriffs hingewiesen wird. Aber dies ist der Preis für eine Aufsatzsammlung, die sich auf eine zentrale Fragestellung konzentriert. Gerade durch die offene, kritische Sichtweise, die auch der Fundamentalkritik Platz einräumt, wirkt der Sammelband anregend und stimulierend für weitere Forschungen zum - etwas sperrig klingenden - Untersuchungsfeld ,,Zivilgesellschaft als Geschichte". Schließlich verdeutlichten die Beiträge, dass in der Anwendung des Zivilgesellschaftskonzepts Ansätze für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sozial- und Geschichtswissenschaften angelegt sind, wobei im vorliegenden Fall die Sozialwissenschaftler noch unterrepräsentiert blieben.

Jürgen Schmidt, Berlin


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