ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Franz-Werner Kersting (Hrsg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 46), Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2003, 293 S., geb., 38,- €.

Das Jahr 1975 gilt als Wendepunkt der deutschen Psychiatriegeschichte. In diesem Jahr legte eine vier Jahre zuvor von der Bundesregierung einberufene Enquete-Kommission unter Leitung von Caspar Kulenkampff ihren großen Abschlussbericht vor, der deutlich auf die Missstände insbesondere in der stationären psychiatrischen Versorgung der großen Anstalten hinwies und einen Wechsel von einer kustodialen zu einer rehabilitativen, gemeindenahen Psychiatrie forderte. In demselben Jahr strahlte das Zweite Deutsche Fernsehen den vielbeachteten Film ,,Leben des schizophrenen Dichters Alexander März" nach einem Roman von Heinar Kipphardt aus, in dem Anstalten und die Frage nach alternativen Lebensmöglichkeiten für psychisch Kranke eine zentrale Rolle spielen. Immerhin erhielt die psychiatriekritische Sendung den ,,Film- und Fernsehpreis des Verbandes der Ärzte Deutschlands, Hartmannbund". Sicherlich nicht zufällig standen diese beiden Ereignisse in einem so nahen zeitlichen Zusammenhang, zeigten beide doch deutlich die gewachsene Sensibilität der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Umgang mit ,,Randgruppen".

Der Veränderungen, die das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts für die Psychiatrie erbrachte, wurde im Jahre 2000 in zahlreichen Festveranstaltungen zur 25. Wiederkehr des Enquete-Abschlusses gedacht. Dabei blieb jedoch vor allem die Frage offen, warum es eigentlich in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und zu den USA so spät zu einer Psychiatriereform kam. Dieses Problem lenkt den Blick ebenso auf die Hypothek des Nationalsozialismus für die Psychiatrieentwicklung in Deutschland wie auf den gesellschaftlichen Rahmen, in dem Psychiatriereform stattfindet.

Es ist das Verdienst des vorliegenden, von Franz-Werner Kersting herausgegeben Sammelbandes, die Psychiatriereform, für die symbolisch das Jahr 1975 steht, erstmals in einen umfassenden zeithistorischen Zusammenhang gestellt zu haben. Die Publikation geht zurück auf eine Tagung im Jahre 2001; damals trafen sich in Münster an zwei Septembertagen auf Einladung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe ( Westfälisches Institut für Regionalgeschichte) 51 Referenten und Diskutanten in einer die für derartige akademische Ereignisse ungewöhnliche Mischung aus Historikern und Zeitzeugen. Die Spannung ihrer Dialoge verleiht auch der Publikation einen besondern Reiz zwischen analytischem Durchdringen und ,,Miterleben".

Die erste Sektion (Einleitung Hans-Walther Schmuhl) widmet sich der ,,Anstalt zwischen ‚Euthanasie' und Reform". Dabei wird deutlich, dass in der Psychiatrie das Jahr 1945 nur partiell eine Wende bedeutete. Das anhaltende Hungersterben angesichts der katastrophalen Verhältnisse in den Heil- und Pflegeanstalten war, wie Heinz Faulstich zeigen kann, unmittelbare Folge der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Die Versorgungs- und Betreuungsstrukturen waren insbesondere nach den vorangegangenen Krankenmorden und dem Missbrauch der Überlebenden als Manövriermasse im Katastrophenschutz zerstört; zugleich blieben Verpflegungszulagen für Psychiatriepatienten lokale Ausnahmen. Wie Sabine Hanrath herausstellt, kam es in den 50er Jahren allerdings trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme in den beiden deutschen Staaten zunächst zu ähnlichen, z. T. pragmatisch begründeten Verbesserungen für die Patienten (z. B. psychologische Betreuung, Beschäftigungstherapie), seit den 1960er-Jahre jedoch gingen Bundesrepublik (wachsende Spielräume, Psychopharmaka) und DDR (Grenzen der sozialistischen Gesundheitspolitik, Facharztmangel) deutlich unterschiedliche Wege. In allen diesen Jahren fehlte (von Ausnahmen wie Dr. Friedrich Stöffler in Hessen abgesehen) die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Es herrschte schon bald nach Kriegsende ein Klima ,,gesellschaftlicher Stille", in der auch aus nationalsozialistischer Zeit unbelastete Psychiater das zerstörte Vertrauen der Gesellschaft ohne öffentliche Stellungnahme zu den Krankenmorden wiederzuerlangen suchten. Dass dieser Strategie kein Erfolg beschieden war, zeigt die relativ schlechte finanzielle Situation psychiatrischer Einrichtungen trotz des folgenden ,,Wirtschaftswunders". Erst die Angehörigen der ,,skeptischen Generation" (Jahrgänge 1920 bis 1930), so Kersting in seinem Beitrag, können als ‚Vorboten' einer neuen ‚Friedenskultur' gesehen werden, doch ihre Beiträge gerieten zumeist in Vergessenheit. Dass es in Westdeutschland schließlich in den 80er Jahren (Ernst Klee) endlich zu einer kritischen Beschäftigung mit der NS-Psychiatrie kam, war keine unmittelbare Folge der Psychiatrie-Enquete, sondern Spiegel allgemein gewachsener Gesellschaftskritik.

In der Sektion II (Einführung Andreas Crome) geht es um Reformansätze der 1960er-Jahre. Mitten in der DDR fand 1963 in dem kleinen sächsischen Ort Rodewisch am dortigen Psychiatrie-Krankenhaus ein internationaler Kongress statt, an dem auch westdeutsche Psychiater teilnahmen. Die sozialpsychiatrisch orientierten Verfasser der ,,Rodewischer Thesen" betonten nicht zuletzt das Recht chronisch psychisch Kranker an gesellschaftlicher Teilhabe. In vieler Hinsicht nahmen sie, wie Jörg Schulz konstatiert, Leitlinien der späteren Psychiatriereform in der Bundesrepublik vorweg, blieben jedoch im eigenen Land relativ bedeutungslos. Über neue Ansätze therapeutischer Gruppenarbeit (Sport- und Spielgruppen, Gesprächsgruppentherapie) zur selben Zeit in einem psychiatrischen Krankenhaus im Westen (Beispiel Gütersloh) berichtet Alexander Veltin. Der Gütersloher Arzt Hermann Simon, der in den 20er Jahren das Konzept der ,,aktiven Arbeitstherapie" entwickelt hatte, wurde für diese bundesrepublikanischen Reformer zur Leitfigur. Im folgenden Beitrag formuliert Heinz Häfner, ehemals stellvertretender Vorsitzender der Psychiatrie-Enquete-Kommission, zunächst seine damalige und offensichtlich auch heutige Sicht der Psychiatriegeschichte als ,,Inquisition der psychisch Kranken", die in früheren Jahrhunderten wie Ketzer aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen worden seien, bis die Psychiatriereform derartiger Inhumanität ein Ende gemacht habe. Zweifellos gehören derartige Darstellungen in das Reich der Mythen; sie zeigen, dass auch die Aufklärer der 70er Jahre offensichtlich weit über die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit hinaus historischer Legitimation bedurften. Was Häfner allerdings im Weiteren über seine Zeitzeugenschaft bei Entstehen der Psychiatrie-Enquete darlegt, ist äußerst informativ und verdeutlicht nicht zuletzt die nicht zu überschätzende Rolle der persönlich engagierten Streiter für eine Reform, z. B. des Bundestagsabgeordneten der CDU Walter Picard. Dass die 1960er-Jahre auch eine Zeit waren, in der sich die ,,Anstalten" als ,,moderne Krankenhäuser" in neuer Weise in den Medien präsentierten, stellt Volker Jakob am Beispiel zeitgenössischer Filme über Gütersloh, Bremen und Eickelborn vor.

In Sektion III (Einleitung Merith Niehuss) kommen Reformgruppen im Zeichen der ‚68er'-Bewegungen zu Worte. Manfred Bauer, damals einer der ,,jungen linken" Psychiater und Mitglied des Mannheimer Kreises, wirkte maßgeblich an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie mit, nachdem man mit dem Versuch gescheitert war, Caspar Kuhlenkampff, den späteren Vorsitzender der Enquete-Kommission, zum Präsidenten der traditionellen Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPN) zu wählen. Cornelia Brink analysiert als Kulturhistorikerin die Geschichte des ,,antipsychiatrischen" Heidelberger Patientenkollektivs 1970/71. Auf Initiative des Arztes Wolfgang Huber, Assistent an der dortigen Psychiatrischen und Neurologischen Universitätsklinik, kam es u. a. zu Patienten-Vollversammlungen und therapeutischen Experimenten, die Impulse aus der Hegelschen Dialektik, vom Marxismus und verschiedenen psychoanalytischen Denkrichtungen aufnahmen. Nicht zuletzt die Verbindungen zur ,,Roten Armee Fraktion" führten schließlich zur Eskalation der Konflikte und zur Festnahme Hubers. Als wichtige Kennzeichen der Bewegung benennt Brink die Umcodierung des Wahnsinns als Normalität und der Psychiatrie als Vernichtungsinstanz. Wie schwer sich die Gesellschaft ihrerseits noch um 1970 mit ,,Randgruppen" tat, macht Wilfried Rudloff am Fall des niederbayerischen Örtchens Fürsteneck deutlich, das sich vehement (einschließlich Brandstiftung) gegen die Eröffnung eines Erholungsheims für behinderte Kinder zur Wehr setzte. Dennoch handelte es sich zugleich um eine Zeit expansiver Sozialpolitik aus dem Geist der Gesellschaftsreform. Sozialpolitik sollte nicht nur kompensatorische Reaktion sein, sondern zur eigenen Gestaltung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse führen. So kam es in der Ära Brandt zu zahlreichen neuen Gesetzeswerken, darunter das 1969 geänderte Bundessozialhilfegesetz (BSHG), das auch seelisch Behinderten Eingliederungshilfen zusicherte. Folgerichtig verschwand das Stichwort ,,Armut", die Leerstelle füllte fortan die ,,Randgruppe" aus. Dass die Betroffenen diesen sozialen ,,Dienstleistungsstaat" jedoch bald als technokratisch und bevormundend empfanden, zeigt das Aufblühen der Selbsthilfebewegungen in den 1970er-Jahren.

Die vierte und letzte Sektion (Einleitung Bernd Eikelmann) wendet sich dem Reformalltag zu. Wolfgang Pittrich, heute Landesrat beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe, stellt die 1970 von Assistenzärzten initiierte ,,Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V." vor. Zu den auf eine Öffnung der Psychiatrie gerichteten Unternehmungen gehörten ein frühes Wohngemeinschaftsprojekt für Psychiatriepatienten, kulturelle Angebote auch für die Bevölkerung im Zentrum für Psychiatrie, Gartenfeste, Ausstellungen, die Gründung des Heinrich-Hoffmann-Museums und die Herausgabe der Zeitschrift ,,Treffpunkte". Besonders günstige Konstellationen bestanden nach 1945 in der Bremer Psychiatrie, die Helmut Haselbeck und Gerda Engelbracht vorstellen. Die dortigen ärztlichen Leiter waren zugleich prominente Reformer. So kam es unter Heinrich Schulte bereits in den 50er Jahren zur Einstellung einer Psychologin und nach 1964 unter Stefan Wiese zu einer deutlich stärkeren Außenorientierung der klinischen Tätigkeit. Der abschließende Beitrag von Hans-Ludwig Siemen fügt allerdings allen Ansätzen von Reformeuphorie, soweit sie in den vorhergehenden Beiträgen zum Tragen kamen, kräftige Wehrmutstropfen bei, indem er deutlich macht, dass die chronisch psychisch Kranken ,,im Abseits der Psychiatriereform" blieben. Die Verantwortlichen hatten sich erneut (wie auch im Nationalsozialismus) den klinisch behandelbaren Kranken zugewandt, während die scheinbar nicht therapierbaren seelisch und geistig Behinderten als Heimbewohner immer mehr an den Rand rückten. Insofern, so Siemen, fand in Deutschland die Auseinandersetzung mit der NS-Psychiatrie gerade keinen Eingang in die Psychiatriereform, ganz im Gegenteil fehlten hier die Integrationsversuche, die in Frankreich und England bereits nach Ende des 2. Weltkriegs einsetzten. Eine ,,Enquete der Heime", von Klaus Dörner u. a. im Jahre 2001 gefordert, wäre folglich konsequent.

Der Herausgeber hat am Ende dieses Sammelbandes keine Bilanz gezogen. Dies ist angesichts der Heterogenität der Beiträge und der vielfach subjektiven bzw. regionalspezifischen Darstellungen verständlich. Letztlich lässt sich auch nach dieser Studie die Frage, welche Rolle die Hypothek des Nationalsozialismus tatsächlich im Reformprozess spielte und welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit der Geschichte für den psychiatrischen Wandel besitzt, nicht eindeutig beantworten. In jedem Fall jedoch macht das äußerst anregende Buch klar, welchen Spiegel das Leben psychisch kranker bzw. behinderter Menschen jeder Gesellschaft bis heute vorhält.

Christina Vanja, Kassel


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