Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Kerstin Wolff, Stadtmütter. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860 - 1900), Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2003, 288 S., brosch., 24,95 €.
Kerstin Wolff ist in ihrer Kasseler Dissertation von 2002 der Frage nachgegangen, ob Frauen im 19. Jahrhundert tatsächlich politisch so einflusslos waren, wie es die Tatsache, dass sie bis 1918 weder kommunal noch national ein aktives und passives Wahlrecht hatten, vermuten lässt. Exemplarisch hat sie die Frage am Fall der Stadt Harburg, die heute zu Hamburg gehört, untersucht und festgestellt, dass Frauen damals durchaus Mittel und Wege fanden, sich in das politische Geschehen der Kommune einzumischen, selbst dann, wenn sie nicht im Besitz der städtischen Bürgerrechte waren. Kerstin Wolff entwickelt daraus die These, dass Harburg keinen Sonderfall darstellte, sondern dass der kommunalpolitische Einfluss von Frauen auch in anderen größeren Städten des Kaiserreiches zu finden sein würde, wenn die feministische Geschichtsforschung sich auf die Suche danach machte. Das würde aber auch bedeuten, dass weibliches politisches Handeln - wie Kerstin Wolff das getan hat - nicht alleine mit dem Blick auf institutionell verfestigte Partizipationsformen untersucht werden müsste.
In der umfangreichen Arbeit wird zunächst die kommunale Selbstverwaltung Harburgs untersucht. Hier legt die Autorin bereits einen erweiterten (Kommunal-)Politikbegriff zu Grunde. Sie analysiert die Entstehung des (städtischen) Siechenhauses, den Bau des neuen Rathauses und die Entwicklung des Krankenhauses. Dies waren Projekte, bei denen von Anfang an Frauen als handelnde Subjekte sichtbar wurden. Dabei übersieht sie keineswegs, dass es - bedingt durch das Dreiklassenwahlrecht - ohnehin nur eine bestimmte privilegierte Schicht gab, die über Instrumente zur politischen Steuerung einer Kommune verfügte. Frauen von außerhalb des bürgerlichen Spektrums hatten nur wenig Chancen, sich in das Verwaltungshandeln einzuschreiben. Dazu gehörten vor allem die Fabrikarbeiterinnen in der Textilindustrie und in anderen aufkommenden Industriebereichen, die auch in Harburg zu finden waren. Diese Bürgerinnen will Kerstin Wolff nicht in Schubladen, wie "Unterdrückte" oder "Widerständlerinnnen" gezwängt wissen. Ihr geht es darum zu untersuchen, wie diese Frauen im politischen Prozess gemeinsam mit Männern interagierten und gesellschaftlichen Einfluss ausübten. Damit leistet Wolff einen wesentlichen Beitrag zur Sichtbarmachung von Frauenaktivitäten in einer Periode der Geschichte, in der Frauen bislang vor allem als machtlos beschrieben wurden.
Sie fand heraus, dass bereits zu Beginn der Industrialisierung die Standortwahlfrage der Industrie, das Bevölkerungswachstum und die Binnenwanderung neue Aufgaben an die städtischen Gemeinden stellten. Bürgerrechte wurden verliehen. Und es waren durchaus nicht alle männlichen Mitglieder einer Gemeinde, die in diesen Genuss kamen, denn nicht alle konnten dafür bezahlen. Begüterte Frauen, die ein solches Recht erwerben konnten, waren dennoch vom männlichen Privileg des Wahlrechts ausgeschlossen. Vielfach agierten Stadtoberhäupter ähnlich patriarchal wie ein Familienoberhaupt über die Belange seiner Familie.
Anhand der Beschreibung zweier kommunalpolitischer Persönlichkeiten zeigt Kerstin Wolff die unterschiedlichen politischen Positionen und Ziele, mit denen in dem von ihr gewählten historischen Zeitraum kommunale Selbstverwaltung vertreten wurde. Erstens: Im ersteren Fall wurde Selbstverwaltung als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft durch ehrenwerte Männer betrachtet. Politische Rechte, insbesondere das Wahlrecht, sollte auf jene Klassen beschränkt bleiben, die sowohl Steuerpflicht als auch Ehrenämter trugen. Das waren die besitzenden und gebildeten Männer der Oberschicht. Gerade in der Abgeschlossenheit der politischen Klientel der Selbstverwaltung und der Idee einer optimalen Stellvertreterschaft durch eine Schicht von einflussreichen Bürgern wurde die erzieherische Wirkung gesehen. Zweitens: Im zweiten Fall sollten die Tore der kommunalen Selbstverwaltung für die politischen "Massen" geöffnet werden. Hier ging es um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, die Aufhebung des Hausbesitzerprivilegs bei den Kommunalwahlen und um gleiche politische Rechte für alle Menschen, insbesondere durch die Gewährung des gleichen, freien und geheimen Wahlrechtes auf allen politischen Ebenen, auch für Frauen.
Diese Positionen vertraten auch die beiden in Harburg dominierenden Parteien: die Nationalliberalen und der Sozialdemokratische Allgemeine Deutsche Arbeiterverein. Die Liberalen wollten durch die Idee der Selbstverwaltung das wirtschaftliche Leben von staatlichen Reglementierungen befreien und die Idee einer unpolitischen, gemeinwohlorientierten Stadtpolitik verbreiten, in der sich die gesellschaftlichen Gegensätze tolerieren. Anders die Sozialdemokraten: Sie stellten andere Forderungen an den Staat, nämlich die nach Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde und nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht für alle Männer und Frauen. Selbstverwaltung wurde damit zur emanzipatorischen Politikform und die Gemeinde zur Demokratisierungsinstanz.
Nach den Müttern der Stadt fragte man auch in Harburg lange Zeit vergebens. Dort, wo sie in Erscheinung traten, wollten sie sich mit dem Argument eines "spezifisch weiblichen Wesens" vor allem durch die soziale Arbeit in die kommunale Sozialpolitik einmischen. So agierten die Frauen auch bei den von Wolff untersuchten Beispielen: Sie sorgten für die Errichtung eines Siechenhauses, die Gründung des Krankenhauses und den Bau des städtischen Rathauses. Entlang dieser Beispiele arbeitet Kerstin Wolff drei Formen der politischen Partizipation von Frauen in Harburg heraus:
Als erstes Beispiel beschreibt die Autorin die Arbeit eines bürgerlichen Frauenvereins,der 1868 mit Hilfe von Spenden und öffentlichen Sammlungen eine Warteschule für bedürftige Kinder im Vorschulalter errichtete und für sein Vorhaben Räumlichkeiten vom Magistrat erstritt. Die Vorsitzende des Vereins war die Ehefrau eines bürgerlichen Senators, im Komitee fanden sich außerdem zwei Gattinnen von protestantischen Pastoren. Sie setzten sich auch für den Bau des Siechenhauses für alte Menschen ein. Die sozialen Anliegen der Frauen, die sie in die kommunale Arbeit der Armenpfleger einbinden wollten, wurden zur erfolgreichen Möglichkeit kommunalpolitischer Partizipation. Die private Gründung durch die ehrenamtlich tätigen bürgerlichen Frauen wurde zur städtischen Einrichtung, indem der Magistrat den Bau des Hauses übernahm, die Verwaltung aber in die Hände des Frauenkomitees legte. Diese Zusammenarbeit von öffentlicher und privater Wohltätigkeit ging freilich nicht ohne Konflikte. Der Magistrat mischte sich immer wieder in die freie ‚Liebestätigkeit' der bürgerlichen Frauen ein, weil er das Siechenhaus mehr und mehr als städtische Einrichtung verstehen wollte. Dass die Frauen das Vorgehen nicht widerspruchslos hinnahmen, immer wieder eigene Vorschläge machten und schließlich aus Protest zurücktraten, half wenig. Dem Frauenverein war es gelungen, durch ihren Einfluss eine Einrichtung zu gründen, aus der nun eine städtische Institution geworden war, auf die sie keinen Einfluss mehr hatten.
In einem zweiten Beispiel schildert die Autorin, wie bürgerliche Frauen durch ihren Namen und ihren Familienverband öffentlich wirksam werden konnten. Frauen wirkten als Stifterinnen und Schenkerinnen - zum Teil gemeinsam mit ihren Ehemännern, zum Teil aber auch alleine - für die Innenausstattung des neu gebauten Rathauses. Kerstin Wolff sieht das als Beweis dafür, dass bürgerliche Frauen, die in einen einflussreichen Familienverband eingebunden waren, es verstanden, den ihnen zuerkannten Bereich der politischen Repräsentation für sich zu nutzen. Waren sie verheiratet, ging das allerdings nur in Zusammenhang mit ihren Ehemännern. Waren es unverheiratete Frauen, bezogen sie sich entweder auf ihren Vater oder einen anderen männlichen familiaren Bezugspunkt, waren sie Witwen, bezogen sie sich auf den verstorbenen Ehemann. Je einflussreicher die Familie war, desto größer war auch die Einflussmöglichkeit der (bürgerlichen) Frauen.
In einem dritten Beispiel wird untersucht, dass Frauen durch ideelle und finanzielle Beiträge zum Gelingen bürgerlicher Gemeinschaftsprojekte beitragen konnten, wie es beim Neubau und bei der Erweiterung des Städtischen Krankenhauses deutlich wird. Kerstin Wolff wertet dies als einen Versuch, mit den erprobten Mitteln der bürgerlichen Wohltätigkeit Einfluss auf sozialpolitische Einrichtungen zu nehmen. Frauen waren es, die die Belange des Krankenhauses durch eigene Spenden und Wohltätigkeitskonzerte in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses rückten, sich damit gleichzeitig sozialpolitisch einmischten und das Projekt finanziell unterstützten und mit gestalteten. In diesen Fällen blieb frauenpolitisches Engagement auch für die Nachwelt sichtbar.
Kerstin Wolff folgert aus den durch sie gewählten Beispielen, dass Frauen im 19. Jahrhundert zwar formal-juristisch ohne Rechte waren, aber andere Wege fanden, sich in die Kommunalpolitik einzumischen. Kommunalpolitik im Kaiserreich sieht sie als ein verflochtenes politisches System, welches neben den institutionalisierten Formen der politischen (Bürger-)Beteiligung stark auf informelle Einflussnahme setzte. Die politische Kultur durch Vereine und Einzelpersonen, die versuchten, durch Formulierungen ihrer Interessen die Geschicke der Stadt mit zu beeinflussen, sieht sie als andere Politikform, als andere politische Kultur, um Bürgerinneninteressen durchzusetzen. Dass diese praktizierten Wege der Partizipation durch die Gewährung des Wahlrechtes fast vollständig obsolet wurden, wie Kerstin Wolff behauptet, wäre Inhalt einer weiteren Studie. Ebenso wären kommunalpolitische Untersuchungen in anderen Städten wünschenswert, um die These von der Partizipation der Stadtmütter trotz formaler Rechtlosigkeit verallgemeinern zu können. Kerstin Wolff hat den Anfang gemacht. Zurecht hat sie für ihre Arbeit im Jahre 2002 den Elisabeth-Selbert-Preis des Landes Hessen bekommen.
Gisela Notz, Bonn