ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ingo Böhle, Private Krankenversicherung (PKV) im Nationalsozialismus. Unternehmens- und sozialgeschichtliche Studie unter besonderer Berücksichtigung der Deutschen Krankenversicherung AG (DKV), Mabuse-Verlag, Frankfurt/Main 2003, 312 S. , kart., 29,- €.

Die private Krankenversicherung (PKV) entstand in Deutschland erst nach der Hyperinflation 1923, als weite Teile des Mittelstands infolge ihres Vermögensverlusts nicht mehr in der Lage waren, ihre Krankheitskosten mit eigenen Rücklagen zu finanzieren. Gegen Ende der Weimarer Republik gab es bereits Hunderte PKV-Gesellschaften.

Die vorliegende Arbeit, die 2002 im Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg als Dissertation angenommen wurde, untersucht die PKV unter zwei Gesichtspunkten: dem sozialhistorischen des nationalsozialistischen Einflusses auf die PKV in Deutschland und dem des unternehmensgeschichtlichen der Entwicklung der Deutschen Krankenversicherung AG (DKV) von der Gründung 1926 bis zu ihrer Reorganisation nach 1945 einschließlich ihrer Haltung zur Wiedergutmachung. Diese doppelte Fragestellung ist der Tatsache zu verdanken, dass die Arbeit als Auftragsarbeit für die DKV anlässlich ihres 75jährigen Firmenjubiläums im Jahre 2002 entstanden ist. Wie der Autor schreibt, hat die DKV-Leitung diese historische Forschungsarbeit vorbehaltlos und ohne Beeinflussungsversuche unterstützt.

Die Arbeit gliedert sich nach den bekannten historischen Zäsuren: Das erste Kapitel betrachtet die PKV vor 1933, das zweite Kapitel fokussiert das Jahr 1933 und analysiert die unmittelbaren Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtübernahme. Es folgt ein Kapitel über die Zeitspanne von 1933 bis 1939. Der PKV in den Kriegsjahren ist das nächste Kapitel gewidmet. Daran schließt sich ein Kapitel zur PKV in den besetzten und annektierten Gebieten an. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit dem Wiederaufbau der PKV und ihrer Haltung zur eigenen NS-Vergangenheit. Diese großen Abschnitte untergliedern sich in Unterkapitel, die mal die PKV als Branche betrachten, mal die DKV als einzelnes Unternehmen. Der Abschnitt über die Zäsur 1933 enthält beispielsweise zwei Kapitel zur Selbstgleichschaltung und zur antisemitischen Politik der PKV im allgemeinen und eines zu den Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtübernahme speziell auf die DKV, wobei auch hier Selbstgleichschaltung und Antisemitismus als hervorstechende Veränderungen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.

Obgleich die jüdische Bevölkerungsgruppe mit ihrem hohen Anteil an Selbständigen die klassische Klientel der PKW bildete, betrieben einige PKV schon vor 1933 eine konsequente Ausgrenzungspolitik ihren jüdischen Versicherten gegenüber. So warb der Deutsche Ring, eine Gründung des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes und seit 1929 Versicherungspartner der NSDAP, 1925 damit, in seiner Satzung den Ausschluss von Juden festgelegt zu haben.

1933 traten viele PKV-Manager der NSDAP bei. Dies geschah ohne Druck, denn die Parteimitgliedschaft hatte keinen Einfluss auf den Verbleib auf bestimmten Posten. Antisemitische und deutschnationale Einstellungen waren in den Vorständen der PKV schon vor 1933 weit verbreitet. Der Radikalisierungsgrad der PKV-Manager reichte 1933 an den der Vorstandsmitglieder von besonders NSDAP-nahen Versicherungen wie der Volksfürsorge heran, so der Befund des Autors.

Diese Gesinnungskonformität führte in der Praxis schnell zu antisemitsch begründeten Ausgrenzungen von jüdischen Versicherten und jüdischen Ärzten. Bis April 1940 geschah dies ohne die ausdrückliche Billigung, ja sogar gegen den erklärten Willen des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung (ab 1943 für das Versicherungswesen).

Beim Ausschluss der jüdischen Ärzte aus der Erstattungspflicht der PKV fand die PKV in der deutschen dem Nationalsozialismus gegenüber aufgeschlossenen Ärzteschaft einen starken Bündnispartner. Ohne die Mitwirkung staatlicher Stellen wie das Reichsarbeits- und das Reichswirtschaftsministerium einigten sich ärztliche Standesvertretungen und Krankenversicherungen im Mai 1933 darauf, von jüdischen Ärzten ausgestellte Arztrechnungen nicht mehr zu erstatten. Nur jüdische Versicherte durften noch Rechnungen jüdischer Ärzte einreichen. Da der Anteil der jüdischen Ärzte an der gesamten Ärzteschaft 1933 bei 13 Prozent lag, war der Ausschluss jüdischer Ärzte von der Erstattungspflicht für nichtjüdische Patienten mit spürbaren Nachteilen verbunden. Nimmt man den Ausschluss von der Erstattung durch die Krankenkassen nach der Reichsversicherungsordnung hinzu, so konnte von freier Arztwahl für nichtjüdische Versicherte keine Rede mehr sein. Paradoxerweise waren jüdische Versicherte im Vorteil. Nur sie konnten noch Rechnungen jüdischer Ärzte einreichen. Die andere Stoßrichtung des Antisemitismus, der Ausschluss jüdischer Versicherter mit dem Argument des "schlechten Risikos", da Juden angeblich häufiger krank wurden und Leistungen in Anspruch nahmen, ging einher mit antisemitischer Kundenwerbung. Die Versicherungen überboten sich mit Erfolgsmeldungen über den Ausschluss von Juden als Versicherte oder Ärzte. Die Konstruktion der PKV als Versichertengemeinschaft bedingte, dass die Inanspruchnahme von Leistungen einzelner die Versicherungsverträge anderer Versicherter beeinflusste. Dies, aber auch die ohnehin hohe Affinität des selbständigen Mittelstands zum Nationalsozialismus als Hauptklientel der PKV, erklärt den Erfolg antisemitischer Kampagnen. In den Geschäftsstellen der PKVen hingen Listen mit den Namen der jüdischen Ärzte aus, die von der Erstattungspflicht ausgeschlossen waren.

Die PKV blieb 1933 von staatlichen oder parteiamtlichen Zwangsmaßnahmen verschont, weil sie in einer Art vorauseilendem Gehorsam die Gleichschaltung in den eigenen Reihen vornahm. Die PKV verhielt sich - so der Befund des Verfassers - besonders systemkonform und rassistisch. 1933 bedeutete folglich für die PKV weniger einen Kontinuitätsbruch als 1945.

Während des Nationalsozialismus setzte sich der 1924 begonnene wirtschaftliche Aufwärtstrend der PKV fort. Vergleichbar zu anderen Wirtschaftszweigen wurde mit dem Wirtschaftsaufbaugesetz von 1934 auch im Versicherungsgewerbe das Führerprinzip eingeführt. Innerhalb der Reichsgruppe Versicherungen bildete die PKV eine eigene Fachgruppe. Das Reichswirtschaftsministerium sicherte sich so seinen direkten Einfluss auf die Versicherungsbranche. Die PKV internalisierte die nationalsozialistischen bevölkerungs- und gesundheitspolitischen Vorstellungen und bot diesbezügliche Leistungen an, die eigentlich in ihren Versicherungsbedingungen ausgeschlossen waren. Obwohl die PKV nicht zur Übernahme der Kosten für Sterilisationen verpflichtet war, übernahmen viele Gesellschaften diese Leistungen. Bevölkerungspolitisch engagierte sich die PKV durch familienpolitische Zusatzleistungen, etwa durch besondere Großzügigkeit bei der Aufnahme kinderreicher Familien zu nicht risikogerechten niedrigeren Prämien in den Versicherungsschutz. Diese Großzügigkeit blieb ausdrücklich dem "erbgesunden" Nachwuchs vorbehalten.

Die Zusatzleistungen trieben die PKV in der zweiten Hälfte der 30er Jahre jedoch auf eine Finanzkrise zu. Aufgrund des vom Reichsaufsichtsamt für Privatversicherung kontrollierten Preisstopps konnte sie die Prämien nicht den gewachsenen Ausgaben anpassen. 1938 stellte Hitler persönlich die zur Debatte stehende Verstaatlichung der PKV für mindestens zehn Jahre zurück.

Mitte der 30er Jahre konnten sich Juden in fast keiner der PKV-Gesellschaften mehr versichern. Der Topos des "schlechten jüdischen Risikos" zeitigte nachhaltige Wirkung. Nach den Novemberpogromen von 1938 konnten sich zudem viele Juden ihre Versicherungen nicht mehr leisten und kündigten von selbst.

Während des Krieges gelang es der PKV, ihre Bestände und Prämieneinnahmen zu steigern. Der Krieg erhöhte das Vorsorgebedürfnis der Bevölkerung. Kriegsbedingter Arbeitskräftemangel und Rationalisierungsmaßnahmen senkten die Verwaltungskosten und versetzten die Gesellschaften in die Lage, kriegsbedingte Sonderleistungen zu erbringen, etwa die prämienfreie Sterbegeldversicherung für Soldaten. Durch Anlage ihres Vermögens in Reichsanleihen sowie durch direkte Finanzierung von Rüstungsbetrieben in Form von Schuldscheinen, finanzierte die PKV den Krieg mit.

Die Gesellschaften waren frei in ihrer Entscheidung, sich in den besetzten und annektierten Gebieten zu engagieren. Sie machten damit keine Gewinne, da eine eigene Vertriebsorganisation und Verwaltung aufgebaut und die Verwaltung von übernommenen, einheimischen Unternehmen ebenfalls neu organisiert werden musste.

Nach dem Krieg war die wirtschaftliche Konsolidierung der PKV nur mittels Leistungseinschränkungen zu erreichen. Seit Jahren waren die Tarife nicht mehr kostendeckend. So wurden beispielsweise das Sterbegeld und die günstigen Tarife für Familienangehörige abgeschafft. Mit dem "Kalten Krieg" und dem Fortbestand des gegliederten Versicherungssystems im westlichen Deutschland entging die PKV 1949 der Bedrohung ihrer Existenz durch Schaffung einer Einheitsversicherung.

Die Führungsriege der PKV war stärker als die anderer Versicherungszweige von der Entnazifizierung betroffen, weil sich ihre Manager früher und intensiver nationalsozialistisch engagiert hatten. Daher bedeutete das Jahr 1945, als viele Führungskräfte wegen nationalsozialistischer Betätigung gehen mussten, einen stärkeren Einschnitt in der Unternehmensgeschichte der PKV als der Einschnitt 1933, bei dem ausschließlich jüdische Führungskräfte ihre Posten verloren. Obwohl die meisten jüdischen Versicherungsverträge vor der aus 1940 datierenden diesbezüglichen Anordnung des Reichsaufsichtsamtes für das Versicherungswesen aufgehoben worden waren, die PKV also nicht auf Druck von außen gehandelt hatte, gelang es der PKV nach 1950, ihren Anteil an den antisemitischen Verfolgung aus dem öffentlichen Bewusstsein fern zu halten. Klagen von Geschädigten auf Wiedergutmachung wiesen die Gerichte regelmäßig ab.

Am Beispiel der DKV zeigt der Autor die Uneinsichtigkeit der Führungspersonen, die die Entnazifizierung als Siegerjustiz interpretierten. In den offiziellen Verlautbarungen nach 1950 schwieg die DKV die NS-Zeit tot.

Als Ursachen für die Überanpassung der PKV an den Nationalsozialismus seit 1933 nennt der Autor die Nähe zur Ärzteschaft, die sich wie keine andere Berufsgruppe aufgeschlossen gegenüber dem NS-Regime und seiner Ideologie zeigte. Der Autor zeigt auf, dass nicht wirtschaftliche Gründe, sich möglichst schnell von den Verträgen jüdischer Versicherter zu trennen, maßgebend waren, sondern rassistische. Während Juden wegen des "schlechten jüdischen Risikos" reihenweise ausgegrenzt wurden, nahm die PKV gleichzeitig Frauen und Kinder, die nachweislich mehr Leistungen als Männer in Anspruch nahmen, aus bevölkerungspolitischen Gründen zu nicht rentablen niedrigen Prämien auf.

Die Befunde, die der Autor für die Branche der PKV herausarbeitet, decken sich mit denen der Unternehmensgeschichte der DKV. Hier weist der Autor anhand einzelner Beispiele der Verstrickung von Managern der DKV in nationalsozialistische und antisemitische Maßnahmen akribisch nach, dass es nicht staatlichen oder parteiamtlichen Drucks bedurfte, um nationalsozialistische Politik durchzusetzen. Leider beschränkt sich der Focus der untersuchten Ausgrenzungspolitik auf die antisemtische. Wie sich die PKV für nationalsozialistische Gesundheits- Sozial- und Bevölkerungspolitik instrumentalisieren ließ, und damit gezielt als rassisch oder sozial minderwertig eingestufte Versicherte diskriminierte, erfährt der Leser nicht. Das Ausmaß der Verstrickung in die Zwangssterilisationen durch ihre Finanzierung zeigt die vorliegende Arbeit beispielsweise nicht auf. Dies mag auf einen Quellenmangel zurückzuführen sein. Der Autor nennt in seiner Einleitung ausdrücklich die ungenügende Quellenlage als Grund für die nur oberflächliche Behandlung der innerbetrieblichen Personal- und Sozialpolitik, kommt jedoch auf die sozialstigmatisierende Ausgrenzung, z.B. auch gegenüber Homosexuellen oder Suchtkranken, nicht zu sprechen. Dies mag damit zusammenhängen, dass unter der Klientel der PKV-Versicherten, gemessen an der Gesamtbevölkerung, sozial oder rassistisch definierte Randgruppen eher gering repräsentiert gewesen sein dürften.

Das Quellenmaterial bezieht der Autor weniger aus dem nicht sehr ergiebigen Firmenarchiv der DKV als vielmehr aus dem Archiv der Hamburg-Mannheimer als Mehrheitsaktionärin der DKV bis 1940 sowie aus staatlicher Überlieferung. Einer der zentralen Bestände war der des Reichsaufsichtsamtes für das Versicherungswesen, das bis 1940 nur für Privatversicherungen zuständig war. Daneben hat der Autor die Überlieferung des Reichswirtschaftsministeriums einbezogen. Bezüglich der Entnazifizierungsakten sind die Landesarchive in Berlin und Hamburg konsultiert worden. In den ehemals von Deutschland besetzten oder annektierten Gebieten scheiterte die Archivbenutzung nicht selten an sprachlichen Barrieren oder vereinzelt an der Unzugänglichkeit der Archive.

Elke Hauschildt , Koblenz und Hamburg


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