ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerd Koenen, Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 365 S., geb., 22,90 €.

Gerd Koenen möchte mit dem hier zu besprechenden Buch dazu beitragen, die Entstehungsbedingungen des Terrorismus in der Bundesrepublik zu beleuchten. Auf seiner Suche nach der/den "Urszene(n) des deutschen Terrorismus" (Untertitel, sowie S. 223) widmet er sich den miteinander verbundenen Lebenswegen von Bernward Vesper, Sohn des NS-Dichters Will Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Neben dieser "Dreiecksbiographie" (S. 341) bietet Koenen wichtige Einblicke in die Entstehungsgeschichte von Vespers Buch "Die Reise", als einer Mischung aus Autobiografie, Drogen- und Reisebericht. Dieses Werk wurde erst sehr spät nach seinem Selbstmord (Mai 1971) publiziert: im Juli 1977. Es galt seit dem Deutschen Herbst als wichtiges Dokument, bisweilen gar als ‚Nachlass einer Generation' (S. 11). Auch Koenen betrachtet "Die Reise" als ein "Generationsdokument par excellence" (S. 13).

Nach einem Blick auf wichtige Passagen des Buchs "Die Reise" (S. 13-22) schildert Koenen das Aufwachsen Vespers auf dem Familiengut Triangel bei Hannover (S. 25-92). Es folgt die Darstellung von Vespers Beziehungen, vor allem mit Gudrun Ensslin (S. 90- 210). Darüber hinaus beschreibt Koenen Vespers weiteren Lebensweg, die Entwicklung des bundesdeutschen Terrorismus sowie die Radikalisierung von Baader und Ensslin bis zu ihren Festnahmen im Sommer 1972. Im einzelnen geht es u.a. um die Arbeit mit Heimzöglingen ("Heimkampagne"), die Kinderladenbewegung, Baaders und Ensslins Aufenthalt in Paris, gruppendynamische Spannungen sowie Auslandsverbindungen. Am Ende des Buchs steht ein kurzer Ausblick auf die weitere Geschichte der RAF bis 1977 (S. 317-338).

Koenen schildert die Bemühungen von Vesper und Ensslin, zu Beginn der 1960er Jahre eine Will-Vester-Gesamtausgabe herauszugeben, wobei es auch Kontakte zu deutschnationalen Verlagen und Personen gab. Gleichzeitig wurde aber auch eine Anthologie von Stimmen gegen die Atombombe publiziert (S. 26 ff). Neben der plastischen Darstellung der Irrungen und Wirrungen in Bernward Vespers Leben skizziert Koenen die allmähliche Radikalisierung von Baader und Ensslin. Vom jugendkulturellen Aufbruch in den künstlerischen Club- und Drogenszenen sowie in den Wohngemeinschaften Berlins Mitte der 1960er Jahre, über die Wahlunterstützung von Willy Brandt (Bundestagswahl 1965) bis hin zu den Straßenprotesten oder gar dem Bau von ersten Rauchbomben im Sommer 1967. Bis dahin, so Koenen zu Recht, trug das alles noch "eher spielerischen Charakter" (S. 126).

Einen ersten Einschnitt markieren die Brandanschläge auf zwei Frankfurter Kaufhäuser, die Baader, Ensslin sowie Thorwald Proll und Horst Söhnlein in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 verübten. Koenen schildert nicht nur den darauf folgenden Gerichtsprozess, sondern auch die weitere Radikalisierung seit Herbst 1968 (Stichwort: Schlacht am Tegeler Weg in Berlin): Die "Zeit des Spielens war vorbei" (S. 187). Im Winter 1968/69 gab es immer häufiger Brandanschläge aus dem Berliner Underground, auch auf das Jüdische Gemeindezentrum (S. 258 f.). Allerdings gehörte der V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes Peter Urbach zum "Gründungspotential" dieser militanten Aktivistenszene (S. 257). Ensslin und Baader gingen nach ihrer vorläufigen Haftentlassung im Juni 1969 nach Frankfurt. Im Juni 1970 befanden sie sich dann mit anderen in einem Trainingscamp in Jordanien.

Vor allem die Teile, die sich mit dem subkulturellen Underground sowie dessen Wechselwirkungen mit dem politischen Untergrund befassen, gehören zu den aufschlussreichsten Passagen von Koenens Buch. Ähnliches gilt für die ‚dichten Beschreibungen' der Persönlichkeiten von Vesper, Ensslin und - etwas weniger intensiv - von Baader sowie die Analyse der gegenseitigen Beziehungen. Interessant ist auch die Frage Koenens, ob die "68er" Aktivisten an den "stets herbeizitierten Massenverbrechen der Nazis wirklich so intensiv und emphatisch gelitten haben" oder ob es nicht eher um einen Kampf gegen die "Beschädigung ihres eigenen Selbstbildes" bzw. gegen eine "narzisstische Kränkung" (S. 312) ging. Ein "trivialisiertes ‚Auschwitz' wurde so zum ultimativen Mittel der Delegitimierung des ‚Systems'" (S. 315). Dieser eher instrumentelle Charakter der Skandalisierung der NS-Vergangenheit ist inzwischen auch von geschichtswissenschaftlichen Studien herausgearbeitet worden.

Analytisch weniger überzeugend wird es hingegen, wenn Koenen Entstehung und Entwicklung des Terrorismus zu erklären versucht. Hierbei blendet er die anregenden Erkenntnisse der in den frühen 1980er Jahren entstandenen sozialwissenschaftlichen Arbeiten u.a. von Heinz Steinert und Sebastian Scheerer völlig aus. Stattdessen stützt er sich vorrangig auf psychologische Erklärungen sowie auf totalitarismustheoretische Überlegungen. So vergleicht Koenen die "Geburt des bewaffneten Untergrunds aus dem subkulturellen Underground" speziell in Westberlin mit einer "blinden Suchbewegung, einem Orgonautenzug" (S. 223). Zudem wertet er das Agieren seiner Protagonisten als unbewusste Imitation des Verhaltens ihrer während der NS-Herrschaft sozialisierten Väter (S. 312 f.) Mit Blick auf Bernward Vesper betont er: Wenn Vesper glaubte, die Sprache seiner radikalen Vorbilder zu sprechen, ähnelte das eher der von "Kindesbeinen an vertrauten Sprache eines Joseph Goebbels". Diese Ähnlichkeiten resultieren für Koenen daraus, dass das "Erbe der Familie und Gesellschaft" verworfen wurde. Einer "totalitären Selbstermächtigung" gleichkommend, waren diese 68er-Aktivisten nur noch bereit, ihre "roten Anti-Autoritäten" anzuerkennen, die man auf den "Springprozessionen als Ikonen mitführte".

Darüber hinaus steuert der Buchtext zu eng auf das alternativlose Ende zu: Alle Protagonisten zerbrechen nicht nur, sie sterben. Begriffe wie "Pfad" (vorderer Klappentext), "Geburt" (S. 223) oder gar "Unentrinnbarkeit der ‚Blutsbande'" (S. 67) legen diese Unausweichlichkeit der Entwicklungen hin zum Terrorismus nahe.
Zudem bergen Koenens Erklärungsansätze die Gefahr einer Entpolitisierung des Handelns der militanten Aktivisten. Terrorismus sollte jedoch nicht auf ein familiäres Sozialisationsproblem reduziert werden, das wäre ein Rückfall hinter die Forschung.
Denn ihre familiäre Sozialisation und die psychische Ausstattung der Aktivisten können den Weg in den Untergrund kaum allein erklären. Zudem waren diese Entwicklungen weder gradlinig noch unabwendbar vorgezeichnet.

Koenens Buch unterstreicht einmal mehr, wie schwierig es ist, die Entwicklung des bundesdeutschen Terrorismus mittels Sozialisations- und Lebenslaufanalysen von Einzelpersonen zu analysieren. Wie bereits in den 1980er Jahren betont worden ist, sollte es in Zukunft mehr um die Analyse von Terrorismus und weniger um die Analyse von Terroristen gehen. Vor allem müsste das Wechselverhältnis von militantem Aktivismus, Medien und Staat analysiert werden. Denn nach wie vor fehlt eine breite Einbettung des Terrorismus in eine (noch zu schreibende) Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit.

Klaus Weinhauer, Bielefeld


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