Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Hans Manfred Bock (Hrsg.), Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-französischen Jugendwerk 1963-2003 (Frankreich-Studien, Bd. 7), Leske + Budrich, Opladen 2003, 333 S., geb., 24,90 €.
"In Durchführung des Vertrages vom 22.1.1963 über die deutsch-französische Zusammenarbeit schlossen die Bundesrepublik und Frankreich am 5.7.1963 ein Abkommen über die Errichtung eines Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW), das "die Bande zwischen der Jugend beider Länder enger gestalten und ihr Verständnis füreinander vertiefen" sollte. Aus Anlass des vierzigjährigen Bestehens dieser ebenso bekannten wie unerforschten Institution legt Hans Manfred Bock nun einen von deutschen und französischen Wissenschaftlern verfassten Sammelband vor, der die Leistungen des DFJW kritisch unter die Lupe nimmt. Mit einer konsequent "politisch-soziologischen Optik" (S. 11) untersuchen die Autoren auf der Basis des erstmals ausgewerteten DFJW-Archivs einerseits "die Struktur und Entwicklung dieser Pioniereinrichtung bilateraler und europäischer Gesellschafts- und Kulturbeziehungen" (S. 5), andererseits deren Stellung zwischen den Organisationen der auswärtigen Kulturpolitik beider Staaten und den Trägern des transnationalen Jugendaustauschs.
In seinem einführenden Beitrag über private deutsch-französische Verständigungs-Initiativen nach 1949 stellt Bock den 1954 gegründeten "Arbeitskreis der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit" vor. Besonderes Interesse verdient der APIIBB seines Erachtens deshalb, weil er "eine neuartige Auffassung von internationalen Kulturbeziehungen" offenbart habe, die Ende der 1950er Jahre auf die Formel des "erweiterten Kulturbegriffs" (S. 26) gebracht worden sei. Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass dieser von Ralf Dahrendorf in den 1970er Jahren geprägte Terminus mit der sozialliberalen Koalition zum Leitbegriff Bonner auswärtiger Kulturpolitik geworden ist, sei er, so führt Bock etwas versteckt in der Fußnote eines anderen Beitrags aus, "in der Sache und auch als Konzept in den deutsch-französischen Beziehungen" bereits zwei Jahrzehnte früher "geläufig" gewesen (S 63, Anm.8) - entwickelt nicht von regierungsamtlichen Stellen, sondern von Protagonisten der Zivilgesellschaft. Als Beleg dient ihm insbesondere das Protokoll eines vom APIIBB im Mai 1957 veranstalteten Kongresses internationaler Erwachsenen- und Jugendbildungsvereinigungen, auf dem ein Kulturbegriff angemahnt worden sei, der breitere Kreise der Bevölkerung und weiter gefasste Manifestationen kulturellen Schaffens einschließen sollte.
Bei näherem Hinsehen vermag Bocks Interpretation nur bedingt zu überzeugen. Denn zum einen wurden die sachlichen Forderungen nicht nur von zivilgesellschaftlichen Multiplikatoren, sondern auch von Vertretern der Ministerialbürokratie erhoben. Und zum anderen war in den Ludwigsburger Diskussionen allem Anschein nach nicht von "erweitertem Kulturbegriff", sondern von erweitertem Kulturaustauschbegriff die Rede. Bock aber sieht den fraglichen Terminus dort "allgemein als Prämisse akzeptiert" und deutet dies als "eine wichtige Vorbereitungsstufe [...] für den Prozess der Ausarbeitung und Konkretisierung der Modalitäten sozio-kultureller Zusammenarbeit im Deutsch-Französischen Vertrag und im Abkommen zur Gründung des DFJW im Jahre 1963" (S. 30).
Auch Ansbert Baumann betont in seiner Studie über die Gründungsphase des Jugendwerks die Pionierrolle zivilgesellschaftlicher Organisationen als "tragende Säule des Jugendaustauschs" (S. 41), unterstreicht indes zugleich die tatkräftige Unterstützung durch staatliche Stellen. Welche Schwierigkeiten die "operative Umsetzung des Ziels der Ausweitung und Verbesserung deutsch-französischer Jugendbegegnung" (S. 69) in den ersten Jahren nach der Gründung des DFJW hervorrief, veranschaulicht Bock in einem zweiten Aufsatz. Darin geht er den Ursachen und Ausprägungen der wachsenden Kritik an den Aktivitäten des Jugendwerks nach, leuchtet die von der Studentenbewegung ausgehenden "gesellschaftlichen Infragestellungen und Innovationsansprüche" (S. 62) aus und weist der Institution das Verdienst zu, als "Gegengewicht" zur politischen Abkühlung zwischen Bonn und Paris fungiert zu haben (S. 90).
Dass diese These nur begrenzt Gültigkeit beanspruchen kann, beweist der Befund von Katja Marmetschke, wonach das Jugendwerk Anfang der 1970er Jahre vor dem Hintergrund abermals angespannter Regierungsbeziehungen in eine "der größten Krisen seiner bisherigen Existenz" geriet (S. 91). Plausibel erörtert sie die mannigfachen Probleme des DFJW sowie die daraus resultierende Reform der Verwaltungsstruktur, seiner Arbeitsweise und des Selbstverständnisses und schildert dann kenntnisreich die weitere Entwicklung nach dem "Neubeginn" des Jahres 1974 (S. 102). Förderlich für die "fortsetzende Stabilisierung" in den 1980er Jahren waren dem überzeugenden Urteil François Beileckes zufolge auch die "offiziell-gouvernementalen Rahmenbedingungen" (S. 124) in den Ären Giscard d'Estaing-Schmidt bzw. Mitterrand-Kohl. Trotz neuer Herausforderungen durch Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Umfeld blieb dem DFJW eine Wiederholung der früheren Turbulenzen erspart. Wie Bock in seinem dritten Beitrag zu zeigen vermag, zwangen die weltpolitischen Veränderungen 1989/90 und das Auftauchen neuer Institutionen das DFJW allerdings schneller als gewünscht zur abermaligen Selbstreflexion. Zwar galt es aus der Perspektive beider Regierungen als "institutionelle Säule des Bilateralismus" (S. 158), blieb aber von den Umbrüchen der 1990er Jahre nicht verschont.
Nach den an der Zeitschiene entlang geschriebenen chronologischen Untersuchungen bietet der Sammelband in einem zweiten thematischen Block Längsschnitte, die spezifische Förderungstätigkeiten nachzeichnen. Zu Beginn kommt Ulrich Pfeil in einem Überblick über die Einbindung der neuen Bundesländer in die Aktivitäten des DFJW zu dem ernüchternden Urteil, dass sie auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands "noch in ihrem Diasporastatus verharrten" (S. 216). Corinne Defrance analysiert anschließend luzide vier Jahrzehnte Universitätsaustausch im Rahmen der DFJW-Arbeit. André Koch geht Inhalten und Etappen der Sportbegegnungsprogramme nach. Anne-Kathrin Auel berichtet über die 1975 eingeleitete Künstlerförderung, wohingegen Carla Albrecht die "Drittländerprogramme" beleuchtet und dabei die Förderung der Demokratisierungsprozesse in Süd- und Osteuropa hervorhebt.
Ungeachtet der von Bock eingeräumten methodologischen und materiellen Grenzen kann der mit einer umfangreichen Bibliographie angereicherte Sammelband nicht hoch genug gerühmt werden. Seine innovativen und herausfordernden Interpretationen werden die Forschung gewiss lange beschäftigen.
Ulrich Lappenküper, Bonn