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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ziemann, Benjamin (Hrsg.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 1), Klartext Verlag, Essen 2002, 368 S., brosch., 19,80 €.

Der Krieg ist schon immer ein zentrales Thema der Geschichtswissenschaft gewesen und wird vor allem in der Politik- und Militärgeschichte untersucht. Eine eigenständige Beschäftigung mit dem Thema Frieden in der Geschichte hat sich dagegen erst sehr spät entwickelt und in Deutschland seit den 1980er Jahren als ‚Historische Friedensforschung' etabliert: "Die Historische Friedensforschung erforscht die Chancen und Grenzen der Realisierung des Friedens in all seinen geschichtlichen Dimensionen. Sie ist am Leitwert des Friedens orientiert und begreift die analytische Frage nach der Friedensfähigkeit moderner Gesellschaften als zentralen Antrieb und Bezugspunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit." (S. 9). Damit steht die Historische Friedensforschung in enger Verbindung, aber auch in Konkurrenz zur politik- und sozialwissenschaftlichen Friedens- und Konfliktforschung, der es nicht um die Analyse von Friedensbemühungen in der Vergangenheit, sondern vor allem um praxisrelevante Konzepte für die Lösung von Konflikten in Gegenwart und Zukunft geht. Was ist dann aber die "eigenständige Qualität" der Historischen Friedensforschung, sofern sie über "die wohlwollend-kritische Behandlung kriegsgegnerischer Personen und Prozesse sowie die Orientierung der Forscher am Grundwert des Friedens" (S. 17) hinausweisen soll? Welche Begriffe und Methoden stehen im Mittelpunkt der Historischen Friedensforschung? Welchen Themen sollte sich die Historische Friedensforschung in Zukunft vorrangig zuwenden? Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt der Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, die im November 2000 in Berlin stattfand und deren Beiträge nun in dem von Benjamin Ziemann herausgegebenen Band "Perspektiven der Historischen Friedensforschung" dokumentiert sind.

Benjamin Ziemann gibt in seiner Einleitung zunächst einen Überblick über die Entwicklung der Historischen Friedensforschung in Deutschland, deren ‚klassisches' Thema nach wie vor die Geschichte des Pazifismus und der organisierten Friedensbewegung ist. Künftige Arbeiten werden jedoch den " ‚heroischen' Charakter des Pazifismus stärker problematisieren und historisieren" müssen. "Notwendig ist auch eine Lösung von der Dominanz organisationsgeschichtlicher Arbeiten hin zu solchen, die stärker die kulturellen Symboliken und informellen Netzwerke von pazifistischen Bewegungen und deren kurzzeitigen Mobilisierungswellen in den Blick nehmen." (S. 30). Die größte Herausforderung besteht nach Ziemann jedoch darin, dass sich die Historische Friedensforschung endlich auch über ihre zentralen Begriffe ‚Frieden' und ‚Gewalt' verständigt, "denn ‚Frieden' und ‚Gewalt' - und nicht etwa ‚Krieg' und ‚Frieden' - sind als Leitbegriffe der Friedensforschung komplementär miteinander verbunden" (S. 24). Benjamin Ziemann betrachtet ‚Frieden' dabei nicht allein als (zeitweilige) Abwesenheit von Gewalt oder als einen Zustand vollkommener politischer Ordnung, sondern vor allem auch als ein Bündel ganz unterschiedlicher Hoffnungen, die in der Vergangenheit manchmal erfüllt, aber meistens eben doch enttäuscht worden sind. So liegen die besonderen Erkenntnischancen der Historischen Friedensforschung "nicht nur in der ‚Abwehr überzogener Erwartungen' an die Lerneffekte aus der Geschichte des Friedens, sondern vielmehr noch in der Rekonstruktion der widersprüchlichen Bedingungen, unter denen Frieden zum Gegenstand kollektiver Erwartungen geworden ist" (S. 28).

Der genaueren Klärung der "Begriffe und Konzepte" der Historischen Friedensforschung widmet sich dann auch der erste Teil des Tagungsbandes, in dem nicht nur Beiträge von Historikern, sondern auch von Vertretern benachbarter Disziplinen enthalten sind. So diskutiert Ernst-Otto Czempiel den Friedensbegriff in der politikwissenschaftlichen Friedensforschung, der dort mindestens ebenso umstritten ist wie bei den Historikern. Nach Czempiel herrscht Frieden "in einem internationalen System dann, wenn die in ihm ablaufenden Konflikte zwischen den Staaten kontinuierlich und auf Dauer ohne die Anwendung organisierter militärischer Gewalt bearbeitet werden" (S. 46). Frieden bedeutet in diesem Sinne mehr als nur eine "Pause zwischen zwei Kriegen" (S. 47) und erfordert neue Politikansätze und einen neuen Sicherheitsbegriff, der nicht mehr auf der höchstmöglichen militärischen Verteidigungsfähigkeit beruhen kann. Thomas Kater versucht im folgenden Beitrag seinerseits, sich dem Begriff des Friedens über die Analyse von Friedensdarstellungen in der Kunst zu nähern. Er stellt fest, dass Frieden als solcher nicht gezeigt werden kann, sondern lediglich Attribute des Friedens wie "Ordnung", "Macht", "Harmonie" oder "Wohlstand". Frieden ist für Kater deshalb ein "Relationsbegriff", der "allein aus sich heraus [...] keine imaginative Kraft" zu entwickeln vermag (S. 75). Daraus schließt Thomas Kater auch, dass der Gegenstand der Historischen Friedensforschung weniger der Frieden selbst ist als vielmehr Mittel und Wege zum Frieden hin.

Unmittelbar mit dem Begriff des Friedens verbunden ist der Begriff der Gewalt. Dirk Schumann schlägt in seinem Beitrag deshalb eine Definition von "Gewalt" als Leitbegriff der Historischen Friedensforschung vor, die sich deutlich von Johan Galtungs Konzept der "strukturellen Gewalt" und auch von Wolfgang Sofskys Auffassung von Gewalt als "Schicksal der Gattung" unterscheidet. In Anlehnung an Heinrich Popitz bezeichnet Dirk Schumann Gewalt als "Sammelbegriff für Akte physischen Zwangs, die darauf abzielen, Verletzungen und Schmerz hervorzurufen, und deren Ausmaß und Grenzen in individuellen und gesellschaftlichen Lernprozessen festgelegt werden" (S. 95). Die Aufgabe der Historischen Friedensforschung sieht Schumann vor diesem Hintergrund in erster Linie darin, gesellschaftliche Lernprozesse zu untersuchen, die Gewalt ermöglichen oder begrenzen. Birgitta Nedelmann unterzieht Schumanns Ansatz in ihrem "Kommentar" einer umfassenden Kritik und plädiert dafür, dass sich die Historische Friedensforschung vorrangig auf das Problem der "gewaltbewältigenden Gewalt" konzentrieren möge, also etwa auf die Geschichte der Friedenserzwingung durch bewaffnete Interventionen.

Neue Impulse für die Historische Friedensforschung sind auch aus der Geschlechtergeschichte zu erwarten. Das zeigen die Aufsätze von Jennifer Anne Davy über "German Women's Peace Activism and the politics of motherhood" und von Irene Stoehr zum Thema "Kalter Krieg und Geschlecht. Überlegungen zu einer friedenshistorischen Forschungslücke", die von Kathleen Canning unter dem Titel "Engendering the History of War and Peace" kommentiert werden. Gleichermaßen anregend sind die Überlegungen von Alexander Pollak zu Möglichkeiten und Grenzen der "kritischen Diskursanalyse". Dieses Konzept muss - so fordert Benjamin Ziemann schon in der Einleitung - gerade in der Historischen Friedensforschung dringend Anwendung finden, denn "noch verstärkt durch den oftmals gewählten biographischen Zugriff dominiert hier ein ganz ungebrochen emphatisches Verständnis vom Pazifisten als einem wahrhaftigen, authentischen Sprecher, bei dem Wort und Tat ineinanderfallen und unvermittelt auf sein Subjekt zurückführbar sind" (S. 36).

Der zweite Teil des Tagungsbandes beschreibt mögliche künftige Forschungsfelder der Historischen Friedensforschung. Ursula Lehmkuhl stellt das politikwissenschaftliche Konzept der "Global Governance" vor, das neue Formen der Steuerung jenseits von Staat und Hierarchie beschreibt und der Historischen Friedensforschung zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet, insbesondere bei der Beschäftigung mit internationalen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Auch bei der Analyse von Friedensverhandlungen und Friedensverträgen kann "Global Governance" eine Rolle spielen, wie Jost Dülffer in seinen Überlegungen zum "Frieden zwischen Politik, Völkerrecht und Mentalität" deutlich macht. Zugleich sollte sich die Historische Friedensforschung aber auch künftig weiter gezielt mit staatlichen Institutionen und Konflikten zwischen Staaten beschäftigen, denn bei aller Berufung auf "Global Governance" und Gewalt als Leitbegriff der Historischen Friedensforschung muss nach wie vor auch der Krieg als zwischenstaatliche Auseinandersetzung untersucht werden. Diesen Standpunkt vertritt Wolfgang Knöbl in seinem Aufsatz über die "Historische Friedensforschung und die These vom Verschwinden des Staates" und warnt darüber hinaus vor der "Gefahr der thematischen Zerfaserung" (S. 228) der Historischen Friedensforschung. Ulrich Bröckling präsentiert anschließend neuere Forschungen zur Mediation als Möglichkeit der gewaltlosen Konfliktlösung, während Sven Reichhardt einen Überblick über die Feindbildforschung gibt. Darüber hinaus stellt Bernhard Chiari Überlegungen zu "Erkenntnisgewinn und Praxis" der Militärgeschichte an. Er betont, dass Militärgeschichte heute nicht mehr als "Generalstabsgeschichte" und auch nicht mehr von Militärs allein betrieben wird. Trotz dieser "zivilistischen Aneignung der Militärgeschichte" (S. 288) finden militärgeschichtliche Erkenntnisse aber nach wie vor Eingang in die militärische Ausbildung: "Militärgeschichte kann den Offizieren einer Armee nicht beschreiben, wer sie sind, aber ihnen Anstöße geben, darüber nachzudenken, wer sie nicht sind, und auf diese Weise die Eigenart ihres gegenwärtigen Berufsbildes im historischen Vergleich zu begreifen." (S. 297).

Der kritische Rückblick auf eigene historische Erfahrungen kann auch der Friedensbewegung helfen, ihre Position in aktuellen politischen Debatten besser zu bestimmen. Darauf macht Jeffrey Verhey in seinem Beitrag über "Die Geschichtsschreibung des Pazifismus und die Friedensbewegung" aufmerksam. Demnach hat die Friedensbewegung dazu beigetragen, in Deutschland einen Wandel von der Kriegskultur zu einer Friedenskultur herbeizuführen. Der Anteil der Historischen Friedensforschung an dieser Entwicklung bestand darin, dass sie Vorbilder hervorgehoben hat, mit denen eine positive Identifikation möglich war, die ihrerseits den Wertewandel verstärkte. Damit sind sowohl die Friedensbewegung als auch die Historische Friedensforschung "Teil der Legitimation von Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik geworden" (S. 279) und können nicht mehr aus der Außenseiter-Position heraus argumentieren. Für Jeffrey Verhey bedeutet das jedoch nicht, dass Friedensbewegung und Historische Friedensforschung nunmehr "ihren Zweck erfüllt" hätten. Hauptaufgabe der Friedensbewegung ist heute die aktive Teilnahme an der Diskussion um die mögliche weltweite Durchsetzung der Menschenrechte (auch) mit Waffengewalt, während die Historische Friedensforschung sich vor allem der Analyse der Entwicklungsgeschichte einer "modernen pragmatischen politischen Ethik" (S. 284) widmen sollte.

Mit dem von Benjamin Ziemann herausgegebenen Tagungsband, der mit einem Literaturbericht von Edgar Wolfrum zu "Krieg und Frieden in der Erinnerung" sowie zwölf Einzelrezensionen schließt, liegt ein guter Überblick über das Selbstverständnis und die "Perspektiven der Historischen Friedensforschung" vor. Die einzelnen Beiträge behalten die in der Einleitung formulierten Leitfragen immer im Blick und beziehen sich aufeinander, wenn es geboten ist. Das Buch eignet sich sowohl zur Einführung in die Historische Friedensforschung als auch als Ausgangspunkt für neue Projekte. Die Debatte um Frieden, Gewalt und Krieg ist nicht abgeschlossen, und "mit dieser Präzisierung und Reflexion ihrer Fragestellungen und Erkenntnismittel wird die Historische Friedensforschung auch in der Zukunft weiterführende Beiträge zur allgemeinen Geschichtswissenschaft leisten" (S. 39).

Christian Scharnefsky, Berlin


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