ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Günter Hockerts/Christiane Kuller (Hrsg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland? (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 3), Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 288 S., kart., 20,- €.

Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts ist nicht länger jenes Expertenthema, das in der Öffentlichkeit kaum Beachtung fand und mit dem sich ausschließlich Politiker, Ministerialbeamte und Juristen befassten. Mit zeitlichem Abstand zur NS-Herrschaft und zunehmendem Wissen über das Ausmaß der Verfolgung entwickelte sich in den achtziger Jahren ein gesellschaftliches Interesse bezüglich der Frage nach einer finanziellen Kompensation für die "vergessenen Opfer"; auch die Geschichtswissenschaft begann kurze Zeit später die Entstehung der Rückerstattungs- und Entschädigungsgesetzgebung als spezifische Form deutschen Umgangs mit der Vergangenheit zu untersuchen.
Seitdem ist die Wiedergutmachung ein wiederkehrender Diskussionsgegenstand: Die Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter in jüngster Vergangenheit, die Frage nach der Beteiligung von Schweizer Banken am NS-Raubgoldhandel und die Forderung des polnischen Parlaments nach einem angemessenen monetären Ausgleich für die während der deutschen Besatzung erlittenen Schäden evozieren öffentliche und politische Debatten.

Diese Entwicklung von Entschädigungsforderungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts bildete den Ausgangspunkt des dritten, im Oktober 2002 veranstalteten Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte. Vertreter der Geschichtswissenschaft, der Theologie, der Rechtswissenschaft und Experten aus der Praxis der Entschädigung führten dort einen interdisziplinären Dialog über Phasen und Formen, Leistungen und Mängel der deutschen Wiedergutmachung. Der aus dieser Tagung hervorgegangene Sammelband dokumentiert die Beiträge der Veranstaltung und soll laut Herausgeber über den Stand und die Befunde der Forschung, Desiderate und Perspektiven informieren.

Hans Günter Hockerts gibt in seinem einführenden Beitrag einen profunden Überblick über die wichtigsten Entwicklungen der deutschen Wiedergutmachung von 1945 bis zur Zwangsarbeiterentschädigung und zeigt auf, dass die Verwendung des Wiedergutmachungsbegriffs unumgänglich ist, auch wenn er wegen seiner exkulpatorischen Implikationen vielfach kritisiert wurde. Als einzig verfügbare semantische Klammer umspannt er nach Hockerts eine Reihe von Handlungsfeldern, für die es im Einzelnen jeweils genauere Unterbegriffe gibt.
Der Herausgeber stellt die Wiedergutmachung als ein dynamisches und flexibles Konstrukt dar: Ihre Gestalt und Umsetzung waren stets durch das ungleich starke Einwirken zeitspezifischer politischer Machtverhältnisse, durch internationalen Druck, gesellschaftliche Normen und mentale Denkschemata geprägt. Obwohl sich Entschädigung und Restitution direkt auf die Verfolgungswirklichkeit bezogen, waren sie doch immer "Produkt[e] der jeweiligen Gegenwart" und ihrer entsprechenden Interpretation der Schadenstatbestände. Dass nicht jeder, dem während des Nationalsozialismus Unrecht angetan wurde, auch eine Entschädigung erhielt, mussten beispielsweise jene Opfergruppen erfahren, die erst in den achtziger Jahren durch das Engagement der GRÜNEN sowie bildungsbürgerlich-protestantischer Gruppen als "vergessene Opfer" von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Auch zahlreiche ausländische Verfolgte wurden von Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) ausgeschlossen. Die Geschichte der Wiedergutmachung bietet Hockerts zufolge somit "Sonden und Indikatoren", die darüber Aufschluss geben, wie sich die deutsche Gesellschaft in den Jahrzehnten nach Kriegsende mit ihrer NS-Vergangenheit auseinander gesetzt hat.

Die Problematik des Ausschlusses von Entschädigungsleistungen nehmen die Beiträge von Barbara Distel und Cornelius Pawlita auf. Bei Distel stehen die Mängel und Probleme bei der jüngst durchgeführten Entschädigung ehemaliger sowjetischer Lagerhäftlinge, denen BEG-Leistungen verweigert wurden, im Vordergrund ihrer kritischen Betrachtung. Der Jurist Pawlita untersucht die restriktive Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und verschiedener Landes- und Oberlandesgerichte zur Entschädigung von Kommunisten, Zwangssterilisierten, Zeugen Jehovas und im Widerstand aktiver Personen in den fünfziger und sechziger Jahren. Dabei lotet er die judikativen Spielräume bei der Interpretation des Begriffs der "politischen Verfolgung" aus.

Christiane Kuller betrachtet die "Dimensionen nationalsozialistischer Verfolgung", welche von räumlicher Allgegenwart, unkontrollierter Eigendynamik und Radikalisierung des Terrors geprägt waren. Unübersichtlich gestaltete sich der institutionelle Aufbau der Gegnerverfolgung, ebenso diffus waren die ideologischen Motive der unterschiedlichen Verfolger. Kuller arbeitet überzeugend die Diskrepanz zwischen den wirklichen Verfolgungstatbeständen und der konstruierten Verfolgungsdefinition des BEG heraus, die schwerlich den realen Umständen des Terrors Rechnung tragen konnte.

Mit dem Ziel, derartige Mängel der Gesetzgebung zu kompensieren, entstanden zeitnah zu den staatlichen Wiedergutmachungsbemühungen gesellschaftliche Eigeninitiativen. Christian Staffa und Dietmar Süß thematisieren in ihren informativen Beiträgen konfessionelle Formen der Entschädigung. Der Theologe Staffa zeichnet die Entwicklung der protestantischen "Aktion Sühnezeichen" nach, die sich seit ihrem gesamtdeutschen Gründungsaufruf 1958 vor allem ausländischen Verfolgten zuwandte. Dabei streift er thematisch auch die ungleichen Arten der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der BRD und in der DDR. Genese, Profil und Hilfsleistungen des 1973 aus der katholischen Friedensbewegung Pax Christi hervorgegangenen Maximilian-Kolbe-Werks, das ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager unterstützte, wird von Süß aufgezeigt. Ungeachtet diplomatischer und kirchenpolitischer Barrieren des Ost-West-Konfliktes gewährte das Hilfswerk osteuropäischen Verfolgten gleichzeitig finanzielle und humanitäre Leistungen.

Die systemspezifischen Unterschiede im Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und in der DDR, die bereits bei Staffa anklingen, stellt Constantin Goschler vertiefend heraus und hinterfragt ihren Einfluss auf die Wiedergutmachung. Die Wahrnehmung der NS-Vergangenheit, die rechtlichen Grundprinzipien, Intentionen und Umsetzungen von "Wiedergutmachung" in der Bundesrepublik und "sozialer Betreuung" in der DDR waren ebenso von den jeweiligen gesellschaftspolitischen Perspektiven abhängig wie die Bestimmung des Kreises der Anspruchsberechtigten.

Die konkrete Umsetzung der Entschädigungs- und Restitutionsgesetzgebung untersuchen Jürgen Lillteicher, Alfons Kenkmann und Tobias Winstel.
Lillteicher kann überzeugend nachweisen, dass die Durchführung der von den Besatzungsmächten oktroyierten Rückerstattung seit Beginn von erheblichen Konflikten, großen Widerständen und Revisionsversuchen seitens der Bevölkerung, aber auch seitens administrativer Organe begleitet war. Es bedurfte auf justizieller und politischer Ebene einer genauen alliierten Kontrolle, um gezielte Angriffe von deutscher Seite auf individuelle Rückerstattungen oder auf das ganze Programm der Restitution zu verhindern. Lillteicher bilanziert, dass bis Ende der sechziger Jahre nur begrenzt von einem kollektiven Lernprozess der Deutschen gesprochen werden kann, in welchem die "Arisierung" mit zunehmendem Abstand vom Geschehen als Unrecht und als eine NS-Verfolgungsmaßnahme erkannt wurde.
Alfons Kenkmann befasst sich mit den Themen Raub und Restitution unter Verwendung einer biographischen Herangehensweise. Er stellt die Lebensgeschichten und Handlungsoptionen einer ausreisewilligen jüdischen "Verfolgten" und die eines leitenden westfälischen Finanzbeamten als "Verfolger" gegenüber. Dabei thematisiert er den "Spießrutenlauf" der Jüdin durch das deutsche Behördenwesen und die Verstrickungen eines "klassischen Vertreters aus der Kerngruppe des obrigkeitlichen Beamtentums" in den Raub jüdischen Eigentums. Kenkmanns Betrachtungen bleiben - entgegen der Ankündigung im Titel des Aufsatzes - stärker auf die Berufsbiographie des Staatsdieners konzentriert, als dass sie die versprochenen "Konfrontationen" von Opfer und Täter behandeln.
Interessant ist der neuartige Ansatz von Tobias Winstel, der "erfahrungsgeschichtliche Annäherungen" an die Bedeutung der Wiedergutmachung im Leben von jüdischen Verfolgten versucht. Seiner Analyse der Wirkungsmacht von Entschädigung und Restitution liegt ein erweiterter Wiedergutmachungsbegriff zu Grunde, der neben dem finanziellen Ersatz ebenso das Angebot einer Verständigung von Tätern und Opfern sowie die Anerkennung von Leid und das Eingestehen von Schuld umfasst.

Abschließend berichtet Günter Saathoff, der an der Ausarbeitung des Stiftungsgesetzes der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" beteiligt war, über Erfahrungen bei der Durchführung der Zwangsarbeiterentschädigung und lenkt darüber hinaus den Blick auf die Defizite der Wiedergutmachung. Kritisch stellt er die Versäumnisse der Regierung hinsichtlich der "vergessenen Opfer" heraus, für welche die Bundesstiftung keine Leistungen bereithielt. Obwohl die Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter aus der Diskussion um die "vergessenen" Verfolgten resultierte, ergaben sich für diese Betroffenen keine neuen gesetzlichen Regelungen. Saathoff führt aus, dass die Bundesstiftung zwar auf den politischen Willen der rot-grünen Regierungskoalition 1998 zurückging, für ihre Entstehung überdies der massive ökonomische Druck auf die deutsche Wirtschaft katalysierend wirkte. Er manifestierte sich in Form von Sammelklagen gegen jene Unternehmen, die im Nationalsozialismus von der Zwangsarbeit profitierten.

Die Herausgeber haben einen informativen, thematisch breit gefächerten und für die weitere Forschung anregenden Sammelband vorgelegt, dessen Beiträge zahlreiche Aspekte der deutschen Wiedergutmachung behandeln. Durch das interdisziplinäre Konzept des Bandes werden auch bislang unbeachtete Bereiche der Entschädigung und Restitution - wie etwa das Rechtswesen und nicht-staatliche Wiedergutmachungsbemühungen - in den Blick genommen, an deren Analyse sich zukünftige Forschungen orientieren sollten. Der Einfluss von Rechtsanwälten (und auch Opferorganisationen) bei der Entscheidung über Leistungsvergaben wäre beispielsweise ein weiterer interessanter Forschungsaspekt. Wichtig ist auch eine Fortführung der - in einzelnen Beiträgen erstmalig behandelten - erfahrungsgeschichtlichen Fragestellungen, welche auf die Wirkungsmacht materieller wie immaterieller Kompensation abzielen. Denkbar wäre auch eine Übertragung dieses Ansatzes auf das Personal der Wiedergutmachung. Denn bislang ist unklar, welchen Effekt der direkte Umgang des einfachen Sachbearbeiters mit den NS-Opfern und ihren zerstörten Biographien zum einen auf sein eigenes Leben hatte, zum anderen, in welcher Weise diese Erfahrungen sein Handeln beeinflussten. Gerade die Analyse der lebensgeschichtlichen Dimension verspricht Antworten auf die Frage nach dem Gelingen oder Scheitern der deutschen Wiedergutmachung, die auch der Untertitel des Sammelbandes stellt.

Henning Tümmers, Bochum


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