ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Reinhard Müller, Herbert Wehner - Moskau 1937, Hamburger Edition, Hamburg 2004, 570 S., geb., 35 €.

Der Sozialdemokrat und frühere Kommunist Herbert Wehner zählt zu den umstrittensten Politikern der Bonner Republik - und zu ihren größten. Aus seiner Vergangenheit als Mitglied des Zentralkomitees der KPD hat er nie einen Hehl gemacht. Auch nicht aus der Tatsache, dass er in den Dreißigerjahren als Polit-Emigrant in Moskau war und sich dort in das feinmaschige Netz der sowjetischen Terrormaschinerie verstrickte. Gleichwohl, als einziger KPD-Führer von Rang hat Wehner mit dem Kommunismus gebrochen - eine Wende, die dem Gesamtdeutschen Minister und Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion viele nicht glauben wollen, selbst 15 Jahre nach seinem Tod nicht. Sicher, wer sich mit ihm befasst, tut gut daran, kritische Distanz zu wahren. Denn die Liste seiner politischen Irrtümer und Verfehlungen ist lang. Doch die seiner Verdienste um die soziale Demokratie in der Bundesrepublik und die deutsch-deutsche Verständigung auch.

Der Hamburger Historiker Reinhard Müller hat ein Buch geschrieben, worin er Herbert Wehners schwierigen und zerrissenen Lebensweg über den Leisten seiner Moskauer Jahre von 1937 bis 1941 schlägt. Müller war einer der ersten West-Historiker, die nach 1990 russische Geheimarchive sichten durften. Seitdem sammelt er Material über Wehner und versucht, ihm Verrat an Linken und KPD-Gefährten nachzuweisen. Mythenbildung ist hier um so leichter möglich, als der geheimnisumwitterte persönliche Wehner-Nachlass der freien Forschung nicht zur Verfügung steht.

Müllers neues Werk ist dick, schwer und voller Angriffe gegen den "Fundamentalisten", den "penetranten", "hyperaktiven", "exzessiven" NKWD-Informanten und "omnipotenten Experten für Parteisäuberungen und Kaderfragen". Sicher, Wehner war ein gläubiger, linientreuer Stalinist, der sich in der Partei auskannte wie kein zweiter und als Teil des Apparats, der in den Terror einbezogen war, Schuld auf sich lud. Doch diese Vorwürfe sind altbekannt, seit über zehn Jahren schon, und heute nicht richtiger oder unrichtiger als damals. So auch, dass Wehner 1937 führende KPD-Genossen, die zu seinen innerparteilichen Gegnern zählten, verraten und Stalins politischer Polizei ans Messer geliefert habe. Die Beweislage ist durch Müllers neues Werk jedoch nicht eindeutiger worden.

Der Autor schreitet weiter voran. Auf rund 500 Seiten, gespickt mit spekulativen Indizien und maliziösen Seitenhieben, legt er Wehner neue Verfehlungen zur Last. Müllers Hauptthese lautet: Durch eine "Expertise" über die "Trotzkistische Wühlarbeit in der deutschen antifaschistischen Bewegung" vom Februar 1937 sowie drei mündliche "Informanten-Berichten" an den NKWD habe Wehner eine "umfassende Verhaftungswelle" unter deutschen Emigranten in der Sowjetunion "ausgelöst". Verhaftungen und Todesurteile seien durch seinen "denunziatorischen Eifer mitinitiiert" worden. Sprich: Ohne Herbert Wehner wäre die sowjetische Geheimpolizei vielleicht nicht oder nicht so kenntnisreich auf die "Konterrevolutionäre" aufmerksam geworden. Stimmt das? Als Hauptbeweis vergleicht er Wehners "Expertise" mit einem "Direktivbrief" Jeschows vom 14. Februar 1937. Darin befiehlt der Chef des NKWD alle deutschen "Trotzkisten" in der Sowjetunion, die "noch nicht repressiert" wurden, zu verhaften. Diesen Massen-Haftbefehl habe das NKWD, so meint Müller, erst durch Wehners Zuträgerschaft verfertigen können. Die Hypothese soll mit Textvergleichen zwischen dem russischen Befehl und Wehners deutschem Bericht untermauert werden. Überzeugend ist Müllers Synopse von 34 Seiten nicht, jedenfalls nicht genug, um solche Behauptungen zu wagen, weil der Jeschow-Befehl im Vergleich zu Wehners Bericht ein Vielfaches an Namen und Sachhinweisen enthält und manches ganz anders darstellt.

Müller verquickt Fakten und Deutungen in unzulässiger Weise. Wer einmal versucht, die schweren Vorwürfe anhand des Materials, das der Autor in seinem voluminösen Band dokumentiert, zu verifizieren, gerät ins Zweifeln. Hier ein paar Beispiele:

Erstaunt stellt man fest, dass der Text der Wehner-"Expertise" vorliegt, nicht aber die drei inkriminierten "Informanten-Berichte". Deren Inhalt kennt niemand, auch Müller nicht, weil Mitschriften oder Protokolle schlicht verschwunden sind. Müller räumt das auch ein, lässt sich aber nicht beirren, Wehner anhand dieser verschollenen Berichte mit der Verhaftung von Heinz Epe in Verbindung zu bringen. Epe, Schreiber antistalinistischer Artikel, lebte damals in Oslo und wollte vier Jahre später mit Frau und Kind über die Sowjetunion nach Amerika reisen. Er wurde noch 1941 aufgrund des "Direktivbriefs" festgenommen und erschossen. Das Schicksal seiner Familie ist ungeklärt. Nun erwähnt Wehners schriftlicher Bericht den Namen Epe überhaupt nicht. Trotzdem meint Müller, er könne "nur vom kundigen Informanten Wehner mündlich beigesteuert worden sein". Ist es nicht ein wenig abenteuerlich, die konkrete Beteiligung eines Menschen am Tod anderer durch fehlende Quellen zu rekonstruieren?

Angenommen Müller hätte trotzdem Recht, wie hießen die übrigen Opfer? Auch das lässt sich - wider Erwarten - nicht genau sagen. In einer Fußnote zu rund 60 Kurzbiographien von Personen, die zwar verfolgt wurden, doch mit Wehners Expertise fast nichts zu tun haben, gibt der Autor an, die Verhaftungen seien nicht "ausschließlich auf die Meldungen und Berichte Wehners zurückzuführen" - was immer das heißen soll. Bei genauer Prüfung kommt ans Licht, dass keine der Personen, die Wehner in seinem Februar-Bericht namentlich erwähnte, von sowjetischen Organen verhaftet worden ist. Wie auch? Bei den Genannten handelte es sich um leitende Genossen kleiner linker Exilgruppen, die im westeuropäischen Ausland operierten. Dem Zugriff des NKWD waren sie - soweit Wehner das wissen konnte - entzogen. Übrigens existiert in besagtem Februar-Bericht von 1937 auch ein Kapitel über "Trotzkistische Einflüsse in unserer Partei". Aber es fällt dort kein einziges Mal der Name eines lebenden oder noch aktiven KPD-Funktionärs in der UdSSR. Wenn Wehner als Denunziant wirklich so eifrig gewesen war, weshalb hat er hier geschwiegen?

Wahrscheinlich deshalb, weil er eben nicht in die Kategorie der skrupellosen, paranoiden Verräter gehört, in die Müller ihn stecken möchte. Dass der NKWD erst durch ihn über die Emigrantenszene Westeuropas aufgeklärt und dass die Terrormaschinerie gegen deutsche Genossen in der UdSSR erst durch ihn in Bewegung gesetzt worden sein soll, ist absurd und lässt sich anhand von Müllers beigebrachten Dokumenten auch nicht im Ansatz belegen. Herbert Wehner eine genuine Mittäterschaft am stalinistischen Terror zu unterstellen, entbehrt auch nach Lektüre des Buchs einer soliden Grundlage - selbst wenn der NKWD Teile der "Expertise", die übrigens nicht für ihn, sondern für die Komintern geschrieben war, abgeschöpft hat. "Listen" von "Trotzkisten" existierten schon 1936. Müller erwähnt sie selbst.

Wehner war ein Hardliner. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Er hat, wie damals üblich, über andere KPD-Funktionäre berichtet. Er war auch kein Freund "trotzkistischer" Abweichler, die er nach der gängigen Diktion der Stalinisten verdächtigte, für die Gestapo zu arbeiten. So trifft es zu, dass er den Vater von Max Diamant in Gefahr brachte, als er in seiner "Expertise" schrieb: "Angehörige" des SAP-Führers "leben noch in der SU". Im Oktober 1937 wurde Michail Diamant, der in Leningrad wohnte, verhaftet und sechs Wochen später erschossen. Aber es gibt im Fall Diamant eine Vorgeschichte, die man nicht außer Acht lassen darf: Bereits 1936 hatte die Sozialistische Arbeiter-Partei (SAP) beim Zentralkomitee der KPD gegen öffentliche Angriffe Herbert Wehners auf Max Diamant in der Deutschen Volkszeitung protestiert, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis auf dessen Eltern, die hierdurch in Schwierigkeiten gerieten. Dass Wehner in seinem Februar-Bericht nochmals auf Diamant zu sprechen kam, war schlimm genug, doch fügte er dem Text nichts hinzu, was die Behörden nach dem Protest der SAP nicht schon aus anderen Quellen wissen mussten. Geht so ein eifriger Denunziant vor? Natürlich kann es sein, dass der NKWD erst durch Wehners Hinweis im Februar-Bericht die Fährte von Michail Diamant wiederfand. Die Verhaftung kann aber auch ganz andere Hintergründe gehabt haben. Jeschows "Direktivbrief" vermerkt nämlich nur, dass Max Diamant "(bisher nicht geklärte) Verbindungen" in der UdSSR habe, von "Angehörigen" oder gar "Eltern" ist nicht die Rede. Lässt sich daraus eine Mittäterschaft oder gar Urheberschaft Wehners an den Trotzkisten-Verfolgungen in der Sowjetunion ableiten?

Materialreich ist Müllers Studie, keine Frage. Wer allerdings kritisch liest, die Informationen der verschiedenen Kapitel gegeneinander stellt und vom barocken Wust spekulativen Beiwerks befreit, wer Daten gegen Deutung hält, den kann Reinhard Müller mit seinen Vorwürfen nicht überzeugen.

Alexander Behrens, Bonn


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