ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 15), Oldenbourg Verlag, München 2004, 364 S., geb. 69,80 €.

Die von Frieder Günther 2003 bei Anselm Doering-Manteuffel in Tübingen eingereichte Dissertation geht den Veränderungen des Staatsverständnisses in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre zwischen 1949 und 1970 nach. Die Arbeit stellt den überzeugenden und beeindruckenden Versuch dar, zwei Denkkollektive - organisiert einerseits um Carl Schmitt, andererseits um Rudolf Smend - und die Entwicklungen und Auseinandersetzungen der dazugehörigen Denkstile - einerseits die Schmitt'sche Dezisions-, andererseits die Smend'sche Integrationslehre - im Kontext der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu analysieren. Die Arbeit steht in Zusammenhang mit dem von Anselm Doering-Manteuffel u.a. in Tübingen entwickelten Konzept der Westernisierung, das versucht, die Herausbildung einer gemeinsamen transatlantischen Werteordnung seit dem 18. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, ohne diese auf einseitige Kulturtransfermodelle in Sinne von Amerikanisierung zu reduzieren. ,,Die Frage nach ideeller Westlichkeit erscheint somit als ein Schlüssel zum Verständnis der Debatten über das Staatsverständnis in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre." (S. 13). Günther stützt sich auf die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Ludwik Flecks und lenkt so die Aufmerksamkeit auf die soziale Produktion rechtswissenschaftlicher Erkenntnis, die er ,,als Resultat eines überaus komplexen Prozesses [begreift], für dessen Beschreibung auf fachspezifische, individuumsbezogene und allgemein soziale Aspekte zurückgegriffen werden muss" (S. 15).

Zu Beginn untersucht Günther die Formation der spezifischen Denkansätze von Schmitt und Smend vor 1945. Er arbeitet dabei den übereinstimmenden antiliberalen Charakter sowie die gemeinsame Fokussierung auf den Staat heraus. Während Schmitt seine Überlegungen aber i.d.R. polemisch auf politische Extremsituationen zuspitzte, vom Ausnahmezustand her dachte und damit Entscheidungssituationen herbeiführen wollte, ,,hatte Smends Denken die Vision eines friedlichen und von allgemeiner Harmonie geprägten Normalzustandes zum Ausgangspunkt" (S. 35). Die so formatierten Denkstile hatten sich dann in der Nachkriegszeit innerhalb der Koordinaten Demokratisierung, Wiederherstellung des Rechtsstaates und explizit dem Inkrafttreten des Grundgesetztes zu verorten. Während die Smend-Schule bemüht war, unter Verzicht auf grundsätzliche Kritik sich konstruktiv mit der neuen demokratischen Ordnung auseinander zu setzen, inszenierte sich die Gruppe um Carl Schmitt - in den Worten Ernst Forsthoffs - als ,,die aktiven Feinde des Grundgesetzes" (zit. n. S. 84).

Carl Schmitt stand ganz klar im Zentrum ,,seines" Denkkollektivs, dessen Zusammenhalt ,,auf einer engen persönlichen Bindung der Schüler an Carl Schmitt als ihrem charismatischen Lehrer" beruhte (S. 112). Der Zusammenhalt ergab sich darüber hinaus aus einem gemeinsamen Gefühl der Ausgrenzung. Besonders auffällig, dies kann Günther immer wieder plastisch herausarbeiten, ist die Tendenz Schmitts und seiner Schüler, sich in Außenseiter- oder Einzelgängerrollen zu inszenieren. Sie sahen sich gern als diejenigen, die sich trotz massiver Angriffe und Widerstände nicht verbiegen ließen und standhaft ihre nur der ,,Wahrheit" verpflichteten Positionen hielten. Es erstaunt hier ein wenig, dass Günther nicht auf Carl Schmitts ,,Theorie des Partisanen" Bezug nimmt, die doch ein interessantes Licht auf die Praktiken der Selbstinszenierung werfen könnte. Ist der Schmitt´sche Partisan doch derjenige, der angesichts des Zusammenbruchs der Staatlichkeit zum Träger des Politischen wird, der den ,,wahren" Feind erkennt und Feindschaft geradezu existenziell erlebt.(1) Vor diesem Hintergrund profilierte sich die Schmitt-Schule ,,bis in die siebziger Jahre hinein als Trägerin eines Traditionsbestandes antiwestlichen Denkens" (S. 117), das auf einem expliziten etatistischen Dezisionismus gründete.

Die Smend-Schule war nicht primär über hierarchische Lehrer-Schüler-Beziehungen organisiert, sondern lebte von einem ,,Geist von Liberalität, Toleranz und literarischer Gelehrsamkeit" an Smends Göttinger ,,Staats- und verfassungstheoretischem Seminar". Es herrschte eine Grundhaltung, die moralische Verantwortung für das demokratische Gemeinwesen konsequent in das Rollenbild des Staatsrechtslehrers einschloss. Ihr Denkstil erwies sich mit der Zeit als bedeutend flexibler als die Schmitt´sche Variante. Smends Integrationslehre ließ sich normativistisch umdeuten. ,,An die Stelle eines Denkens vom Staat her trat gewissermaßen ein Denken von der Verfassung her. Damit paßte die Smend-Schule ihr Denken an die äußeren Rahmenbedingungen des bundesdeutschen Verfassungssystems an." (S. 166). Das Interesse richtete sich auf die Integration verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und die Stabilisierung eines harmonischen, demokratischen Gemeinwesens.

Die Gesamtentwicklung der Staatsrechtslehre in den 1950ern betrachtend fällt auf, dass außerhalb der Smend-Schule Westernisierungstendenzen kaum feststellbar sind. Dies zeigt sich u.a. auch in der teilweise entschiedenen Frontstellung vieler Staatsrechtler gegenüber der neu entstandenen Politikwissenschaft, die als empirische Sozialwissenschaft und Demokratiewissenschaft auftrat und entschieden zur Verwestlichung des Denkens beitrug. Erst in der ersten Hälfte der 1960er Jahre fand ein Umbruch statt. Auch in der Staatsrechtslehre drängten nun zunehmend Vertreter einer jüngeren Generation mit z.T. expliziter Kritik am Betrieb des eigenen Fachs nach vorn - mit dem Ziel, ,,in der Staatsrechtslehre einen pluralistischen Umbruch herbeizuführen" (S. 214). Insgesamt dominierte aber weiterhin ein traditionelles Staatsverständnis, das von Westernisierungstendenzen wenig berührt wurde. Große Teile der Staatsrechtslehre gerieten dadurch in den Ruf, autoritär und obrigkeitlich, unzeitgemäß, rückständig oder reaktionär zu sein. Insbesondere aus Perspektive der westlich orientierten Politikwissenschaft bot sie sich ,,damit als negative Projektionsfläche förmlich an, von der man den eigenen, auf westeuropäisch-atlantischen Ideen beruhenden Denkansatz auf mustergültige Weise abgrenzen konnte" (S. 235).

Neben der Politikwissenschaft traten Vertreter der Smend-Schule mit deutlich pluralistischer und pro-westlicher Orientierung hervor und setzten sich für die Überwindung der Trennung von Staat und Gesellschaft in einer Weise ein, die von Schmitt und seinen Schülern nur schwerlich nachvollzogen werden konnte. Der Smend-Schule gelang so eine methodische Neuorientierung entlang neuer gesellschaftlicher Realitäten und der Anschluss an westliche Denkmuster. Schmitt und seinen Anhängern gelang eine solche Transformation des Denkstils nicht. ,,Die Fragen, die die älteren Angehörigen der Schmitt-Schule stellten, und die Antworten, die sie gaben, galten unter der Mehrheit der jüngeren Staatsrechtslehrer als nicht mehr zeitgemäß. Aus dem Blickwinkel der älteren Generation vollzog sich in der Staatsrechtslehre hingegen eine verhängnisvolle Entwicklung, vor deren längerfristigen Konsequenzen man nur mit Nachdruck warnen konnte." (S. 264 f.).

Ende der 1960er Jahren fand endgültig ein Wandel der Staatsrechtslehre statt. Das Selbstverständnis einer Mehrheit der Staatsrechtler wurde das eines ,,verantwortungsbewußten Staatsbürgers", der politisch Einfluss zu nehmen trachtete. Die Staatsrechtler wiesen sich selbst nun eine besondere Verantwortung für das Gemeinwesen zu, die in Richtung eines ,,gelebten Pluralismus" wirkte. Gleichzeitig kam es zur Anpassung konzeptioneller Grundlagen des staatsrechtlichen Denkens an die Wirklichkeit eines pluralistischen Staats. So vollzog die Staatsrechtslehre insgesamt ,,eine gemäßigte Neuorientierung, indem sie die traditionellen Strömungen deutschen staatsrechtlichen Denkens in den Hauptstrom westeuropäisch-atlantischer Verfassungsvorstellungen einführte." (S. 309).

Sicher vermisst man an einigen Stellen der Arbeit einen stärker diskursanalytischen Blick auf jene diskursiven Praktiken, Begriffssysteme und rhetorischen Strategien bzw. Metaphern, mittels derer die Staatsrechtler den Gegenstand ihrer Überlegungen zuallererst hervorbrachten. Zwischen dieser ebenfalls notwendigen Ebene und der soziologischen Analyse sozialer Beziehungen und Praktiken der Denkkollektive besteht doch ein etwas zu großes Ungleichgewicht. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass Frieder Günther eine präzise Analyse der Transformationen nicht nur der Staatsrechtslehre sondern des Felds des Politischen gelingt, die in überzeugender Weise Wissenschaft als soziale Praxis zu begreifen weiß und so ihren gleichzeitig konstituierten und konstituierenden Charakter deutlich macht.

Timo Luks, Oldenburg


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