Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Frank Becker/Thomas Großbölting/Armin Owzar/Rudolf Schlögl (Hrsg.), Politische Gewalt in der Moderne. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer, Aschendorff Verlag, Münster 2003, X + 352 S., geb., 64,00 €.
In diesem Band, der dem Münsteraner Historiker Hans-Ulrich Thamer zum 60. Geburtstag gewidmet ist, geht es um eine fundamentale Größe von Macht und Politik in der Neuzeit: die Gewalt, welche hier doppeldeutig als Staatsgewalt und als physische Gewalt ganz allgemein verstanden wird. Man nimmt den Band mit großen Erwartungen zur Hand, da schon der Titel verspricht, den gewohnten Rahmen einer Festschrift zu überschreiten. Wie die Herausgeber im Vorwort ankündigen, sollen die einzelnen Beiträge den Entstehungs- und Transformationsprozess von Gewalt, ihre sozialen Formen und ihre Funktion in historische Zusammenhänge einordnen. Sie haben es sich also zum Ziel gesetzt, die nahezu anthropologische Bedeutung zu historisieren, welche ,,Gewalt" spätestens seit Thomas Hobbes in der politischen Theorie besitzt. Implizit stellen sie damit auch in Aussicht, das in der historischen und politikwissenschaftlichen Friedensforschung allzu lange gültige und recht vage Interpretament der ,,strukturellen Gewalt" zu hinterfragen. Besonders attraktiv erscheint dabei ihr Ansatz, Gewalt als ,,Phänomen der Kommunikation" (S. V) zu interpretieren. Denn Gewalt werde immer auch ,,inszeniert, rituell gestaltet, in Medien vermittelt und auf diese Weise als geformte Gewalt präsent und vorstellbar." (ebd.). Verschiedene Dimensionen von Gewalt geraten dabei in den Blick: die Entstehung von Gewalt und die gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren von Gewaltausübung; die Formen und Ausübung staatlicher Gewalt, die ästhethische Fassung verschiedener Gewalformen sowie ihre Kommunikation, Gewalterfahrungen und schließlich die Rückwirkungen der Gewaltausübung für das politische System. Der von den Beiträgen abgedeckte Zeitraum erstreckt sich dabei von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart.
Einige Autoren haben die im Vorwort formulierte Herausforderung in der Tat angenommen. Zu dieser Gruppe von Beiträgen gehört Ewald Fries gelungener Aufsatz zur Mikrohistorie der Gewalt in Brandenburg-Preussen zwischen napoleonischen Kriegen und vormärzlicher Gutsherrschaft. Frie zeigt, wie der Adelige August Ludwig von der Marwitz angesichts der Erfahrungen von Tod und Gewalt in den napoleonischen Kriegen seinen Herrschaftsanspruch nun nicht mehr durch körperliche Gewalt, sondern über rituelle und symbolische Inszenierungen untermauerte. Ebenso anregend interpretiert Dieter Langewiesche in einer essayhaften Skizze die Revolution 1848/9 als Endpunkt liberaler und demokratischer Überzeugungen, revolutionäre Gewalt als legitimes Krisenmanagement zu betrachten. Interessant sind ferner Rolf-Dieter Müllers Erörterungen zu den Liebesbeziehungen deutscher Soldaten mit Frauen aus den besetzten Gebieten während des Vernichtungskrieges im Osten. Auch Anselm Doering-Manteuffel vermisst mit seinem Aufsatz zum Gewaltdiskurs in der Bundesrepublik der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre neues Terrain. Er interpretiert die kommunikative Auseinandersetzung mit der verbalen und physischen Gewalt linker Gruppen als Lernprozess weg von staatszentrierter Konfliktlösung hin zu kommunikativer Konfliktregulierung.
In seiner Gesamtheit jedoch wird der Band den im Vorwort geweckten hohen Erwartungen bedauerlicherweise nicht gerecht. Nicht alle Beiträge setzen sich mit dem Thema wirklich produktiv auseinander. Besonders enttäuschend ist, dass die meisten die Beiträge, die sich mit der Gewalterfahrung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen, dem konzeptionellen Kernproblem einer Geschichte der Gewalt ausweichen. Sie wenden sich dem komplexen Wechselverhältnis zwischen Gewaltbereitschaft einerseits und der Einhegung von Gewalt andererseits gar nicht zu. Der Leser erfährt deshalb kaum etwas über die gesellschaftliche Praxis und Erfahrung physischer Gewalt; auch gibt es wenig Erhellendes zum Zusammenhang von Gewaltdiskursen und Gewaltpraxis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es hätte einer kritischen Rezeption der neueren Gewaltsoziologie bedurft, wie sie durch Heinrich Popitz' Erörterungen über ,,Phänomene der Macht" angestoßen wurde, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Das Gesamturteil fällt also zwiespältig aus: ein Thema mit großem Potential, welches nicht alle Autoren erfolgreich umgesetzt haben.
Holger Nehring, Oxford