Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Kurt Pätzold, Stalingrad und kein Zurück. Wahn und Wirklichkeit, Militzke Verlag, Leipzig 2002, geb., 206 S., 9,95 €.
Anfang Februar 1963 empfahl der Generalinspekteur der Bundeswehr, Friedrich Foertsch, der Truppe eine abendliche Alarmübung. Sie sollte just an dem Tag stattfinden, an dem das Fernsehen einen Film über Stalingrad ausstrahlte, vor dessen kritischer Tendenz gegenüber der Wehrmachtführung Foertsch seine Soldaten meinte schützen zu müssen (S. 159). Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Schlacht an der Wolga setzte damit eine alle zehn Jahre pünktlich zur Wiederkehr des Ereignisses in Büchern, Zeitschriftenserien, Filmen, Fernsehdokumentationen und anderen medialen Produkten kulminierende Erinnerungskultur ein, die heute noch ebenso kontroverse Positionen einschließt wie diese fast vergessene Episode aus den Kinderjahren des Fernsehens und der Streitkräfte in der Bundesrepublik.
Mit seinem Buch, das sich selbst in dieses periodische Gedenkritual einbringt, will Kurt Pätzold eine kritische Lesart an die Stelle bisheriger Mystifizierungen der Schlacht von Stalingrad setzen. Er versucht vor allem Antworten auf die Frage zu geben, warum die politische und militärische Führung wider besseres Wissen auf die Katastrophe zusteuerten und warum Truppe und Zivilbevölkerung ihr selbst angesichts der nicht mehr zu leugnenden Niederlage die Gefolgschaft nicht verweigerten. Ausgangspunkt sind für Pätzold die militärischen Nah- und politischen Fernziele des Ostkriegs: die ökonomischen Ressourcen Erdöl und Weizen und die kolonialimperialistischen Vorstellungen der Naziführung. Im Zentrum stehen die Einschätzung der eigenen und gegnerischen Kräfte durch die Wehrmachtführung, die vom NS-Regime in die Welt gesetzte und bis heute wirksame Heldenlegende und Funktionalisierung des Untergangs der 6. Armee für die Mobilisierung der Kriegsanstrengungen. Außerdem erörtert er ausführlich die Frage, inwiefern Stalingrad eine Wende des Zweiten Weltkriegs darstellte.
Zu diesen Themen findet der Leser teilweise durchaus kluge Gedanken, die allerdings so neu nicht sind, wie Pätzolds kritische Bemerkungen gegen seine Kollegen aus der alten Bundesrepublik nahe legen. Weder haben diese allesamt die Kriegsziele unterschlagen und ökonomische Faktoren vernachlässigt noch die Heldenlegende fortgesponnen. Überhaupt scheint Pätzold die neuere wissenschaftliche Literatur kaum zur Kenntnis genommen zu haben. Anders lässt sich nicht erklären, warum er noch einmal, wie Heinz Boberach schon zehn Jahre vor ihm, die ,,Meldungen aus dem Reich" zur Analyse der Auswirkung von Stalingrad auf die Stimmung in der deutschen Zivilbevölkerung auswertet, oder, wie Wolfram Wette ebenfalls schon vor einem Jahrzehnt, die Erfindung der Stalingrad-Legende durch die NS-Führung rekonstruiert, ohne beide Autoren zu erwähnen. Selbst Michael Kumpfmüllers wichtige Studie über die "Metamorphosen eines deutschen Mythos" von 1996 ist dem Autor offenbar nicht bekannt, wie er sich überhaupt fast ausschließlich auf ältere Publikationen und längst gedruckt vorliegende Quellen stützt.
Trotz seines kritischen Anspruchs unterscheiden sich Pätzolds Einschätzungen über weite Strecken nicht wesentlich von konventionellen Deutungsmustern, etwa wenn für die fatalen militärischen Entscheidungen Hitlers und seiner Berater ,,abenteuerlicher Eroberungswahn" (S. 33) als Ursache genannt wird oder der Leser erfährt, dass der Befehl Hitlers zur Besetzung von Stalingrad eine ,,Ausgeburt von Größenwahnsinn" (S. 49) gewesen sei. Diese populäre, aber letztlich nichtssagende Psychologisierung nach dem Vorbild der Fernsehdokumentationen von Guido Knopp soll auch das opportunistische Taktieren von Generalfeldmarschall Erich von Manstein erklären: Als Ursache für dessen unterbliebenen Versuch, den Kessel von Stalingrad zu entsetzen, konstatiert Pätzold bei diesem einen ,,gedanklichen Verdrängungsprozess", den er im übrigen auch beim Oberkommando der Wehrmacht ausmacht (S. 80). Die Sicht von Unterführern und Mannschaften auf ihre aussichtslose Lage rekonstruiert er ausschließlich nach zwei Publikationen von Feldpostbriefen aus den Achtziger- und Neunzigerjahren, neuere Studien und Editionen zu dieser Quellengattung wertet er dagegen nicht aus, was den methodischen Horizont dieser Passagen obsolet erscheinen lässt.
In bewusster Absetzung von seinen Kollegen vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr bejaht Pätzold die Frage, ob die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad die Wende des Zweiten Weltkriegs eingeleitet habe: andernfalls wäre der Krieg erst 1946 oder 1947 zu Ende gegangen (S. 157). Nun spielen jene Stalingrad aber keineswegs herunter, wie Pätzold unterstellt, sondern setzen vielmehr die Kriegswende bereits davor an: Die Niederlage der Wehrmacht an der Wolga habe dann nur noch für jedermann deutlich sichtbar gemacht habe, dass die deutschen Kriegsziele im Osten nicht mehr zu erreichen seien. Letztlich bleibt Stalingrad für Pätzold doch ein Heldenepos, wenn er die militärischen Ereignisse aus der Sicht der sowjetischen Militärgeschichte betrachtet und deren Geschichtsmythen die Stelle der westdeutschen besetzten lässt.
Diese Perspektive behält er auch bei, wenn er die apologetischen Generalsmemoiren, die nach 1945 in der Bundesrepublik erschienen, mit den Erinnerungen einer Handvoll Generäle und Offiziere konfrontiert, die sich als Kriegsgefangene dem "Bund deutscher Offiziere" anschlossen und nach ihrer Entlassung die DDR als Wohnsitz wählten. Insbesondere Friedrich Paulus habe sich in der Gefangenschaft zu der Erkenntnis geradezu ,,hinaufgeschunden", dass die Wehrmacht in Stalingrad nichts zu suchen gehabt habe (S. 161). Aber weder Paulus noch Otto Korfes, Arno von Lenski oder die anderen Verfasser von Memoiren, die von Verlagen der DDR publiziert wurden, gestanden sich und ihren Lesern jemals ein, dass sie mit dem Eroberungs- gleichzeitig einen rassenideologischen Vernichtungskrieg geführt hatten.
Auch darin folgt ihnen Pätzold: Der Krieg selbst sei schon das ,,große Verbrechen" gewesen, in dem es noch ,,tausendfache `kleine`" gegeben habe (S. 144), und nicht erst durch die Art, wie er geführt wurde, zum Verbrechen geworden (S. 164). Von hier aus kritisiert er konsequenterweise den Begriff des ,,rassenideologischen Vernichtungskriegs", da dieser ,,die realen imperialistischen Ziele der Eroberer ganz beiseite" lasse und ,,so auch den Blick auf die Kontinuität" vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg verstelle (S. 30). Dieser Einwand wäre in der Tat berechtigt, wenn der Krieg im Osten ausschließlich als Vernichtungskrieg charakterisiert würde. Nun waren aber die rassistisch motivierten Massenmorde keineswegs nur eine Methode der Kriegführung, auch keine sekundären Kriegsverbrechen, sondern nahmen das Fernziel vorweg, nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Größe und Struktur der Bevölkerung in den okkupierten Territorien neu zu ordnen. Angesichts von Pätzolds berechtigtem Insistieren auf die Bedeutung der ökonomischen Kriegsziele im Osten ist es ein empfindlicher Mangel, dass seine Darstellung der Ostplanungen auf keine einzige neuere Studie zum ,,Generalplan Ost" Bezug nimmt.
So bleibt die angestrebte Revision des Stalingrad-Mythos allzu fragmentarisch, in mancher Hinsicht geradezu fragwürdig. Teils wiederholt Pätzold die von ihm kritisierten westdeutschen Historiker, teils bleibt er hinter ihren Forschungsergebnissen zurück, und teils versucht er, überholte westdeutsche Mythen durch ebensolche der Sowjetunion und der DDR zu ersetzen. Zumindest in einem Punkt nähert er sich sogar der von Romanautoren wie Heinz G. Konsalik, Heinrich Gerlach und Fritz Wöss vertretenen frühen westdeutschen Legende der von ihrer eigenen Führung ,,verratenen Armee": Pätzold könnte sich nämlich als Ergänzung der Hamburger ,,Wehrmachtsausstellung" eine zweite über ,,Die Verbrechen deutscher Militärführer an den deutschen Soldaten" (S. 14) vorstellen.
Bernd Boll, Hamburg