ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas F. Schneider/Joachim Castan (Hrsg.), Hans Calmeyer und die Judenrettung in den Niederlanden. Mit einem Grußwort von Johannes Rau (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs; Band 17), V&R unipress, Göttingen 2003, 128 S., Pb., 15,90 €.

Der Jurist Hans Calmeyer gehört zu jenen wenigen Deutschen, die von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem im Auftrage des Staates Israel mit dem Titel ,,Gerechter unter den Völkern" geehrt wurden. Allerdings konnte diese Ehrung, die im Jahre 1992 erfolgte, nur posthum verliehen werden. Denn der 1903 in Osnabrück geborene Calmeyer verstarb schon im Jahre 1972. Zu seinen Lebzeiten erfuhr kaum jemand etwas von den Rettungstaten, die dieser Mann während des Zweiten Weltkrieges in den deutsch besetzten Niederlanden vollbracht hatte. Wohl wissend, dass Judenrettung auch in den Jahrzehnten nach dem Kriege in Deutschland kein populäres Thema war, vermied es Calmeyer strikt, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen. Er renommierte nicht mit seinem praktizierten Anstand. Die Geretteten scheinen ihrerseits Gründe gehabt zu haben, zu schweigen, bis es dann doch - aufgrund der Zeugnisse von geretteten Juden - zu besagter Ehrung kam, der sich die Stadt Osnabrück 1994 durch eine eigenständige Würdigung anschloss. Diese Rezeptionsgeschichte eines deutschen Judenretters ist keineswegs die Ausnahme, sondern eher die Regel.

Bereits im Jahre 1965 hatte sich der niederländische Historiker Jacques Presser in einem Buch über die Verfolgung der Juden seines Landes in den Jahren 1940-1945(1) auch mit Calmeyer befasst und seine Tätigkeit sehr anerkennend als die eines Helfers und Retters gewürdigt. Man muss wissen, dass 76 Prozent der 140.000 niederländischen Juden (entspricht 1,5 Prozent der Bevölkerung), die zur Zeit des deutschen Überfalls in diesem Lande lebten, deportiert und ermordet wurden. Damit nehmen die Niederlande einen negativen Spitzenplatz in den westeuropäischen Ländern ein. Trotz des besonderen Verfolgungsklimas, das in diesem Lande herrschte, konnte Calmeyer etwa 3.700 Juden retten, mehr als jeder andere deutsche Retter (vgl. S. 72, 74 u. 125).

Die Ehrung durch den Staat Israel regte die historische Forschung in Deutschland dazu an, sich näher mit diesem ungewöhnlichen Mann zu beschäftigen, der von März 1941 bis zum Kriegsende beim deutschen Generalkommissar für Verwaltung und Justiz in Den Haag Dienst tat. Im Jahre 2001 veröffentlichte der Osnabrücker Autor Peter Niebaum eine erste Biographie Calmeyers.(2) 2003 folgte eine juristische Dissertation von Mathias Middelberg, in welcher die Judenpolitik in den Niederlanden und der Handhabung des ,,Judenrechts" durch Calmeyer näher untersucht werden.(3) Auf der Basis dieser Spezialstudien sowie der fundierten geschichtswissenschaftlichen Literatur über die Niederlande unter deutscher Besatzung konnte in Osnabrück im Jahre 2003 erstmals eine Ausstellung über ,,Hans Calmeyer und die Judenrettung in den Niederlanden" präsentiert werden. Bei dem hier zu besprechenden Buch handelt es sich um den Katalog zu dieser Ausstellung. Joachim Castan verfasste den hervorragend bebilderten Hauptteil (S. 13-83), in welchem der Lebensweg Calmeyers sowie die Tätigkeit seiner Dienststelle dargestellt werden, eingebettet in den Kontext der deutschen Besatzungs- und Judenpolitik. Das geschieht nicht in abstrakten Verallgemeinerungen, sondern durch die anschauliche Präsentation der maßgebenden Personen des deutschen Besatzungsregimes, der Mitarbeiter und der Vorgesetzten der ,,Dienststelle Calmeyer" sowie einiger Geretteter, u.a. der Theater- und Filmschauspielerin Camilla Spira. Unter den Mitarbeitern war auch ein ,,Retter in Uniform", nämlich der Wehrmacht-Hauptmann Dr. Gerd Wander, dessen vertrauensvolle und aktive Zusammenarbeit mit Calmeyer von Johannes Winter erforscht wurde.(4)

Des weiteren enthält der ansprechend aufgemachte Katalog vier wissenschaftliche Aufsätze, die es den Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich in die politischen Verhältnisse hinein zu versetzen, unter denen Calmeyer seine Rettungstätigkeit leistete. In einem literarischen Essay beleuchtet Peter Niebaum den Osnabrücker Bürger Calmeyer als einen ,,homme de lettres" und würdigt ihn als einen Mann, ,,dessen vorbildliches Verhalten in finsteren Zeiten und unter schwierigsten Umständen große Hochachtung verdiente" (S. 84). Die spezifische Technik, die dieser Jurist bei seinen Rettungsaktionen anwandte, bezeichnet Niebaum treffend als ,,intelligente Aktensabotage". Der niederländische Historiker Johan Cornelius Hendrik Blom, Direktor des Instituts für Kriegsdokumentation in Amsterdam, stellt in seinem Beitrag die deutsche Besatzungszeit in den Niederlanden (1940-1945) dar. Er schildert die Umstände, unter denen die niederländischen Juden ,,durch ein System der Registratur, Isolierung, ökonomischen und moralischen Schwächung, der Treibjagd und Deportation größtenteils ausgerottet" wurden, wobei für den zurückblickenden Historiker der Eindruck überwiegt, ,,dass die Juden in ergebener Gelassenheit und der Rest der Bevölkerung mit untätigem Zuschauen reagierten" (S. 93). Der Stuttgarter Historiker Gerhard Hirschfeld schildert in einem quellennah geschriebenen Beitrag die Verfolgung und Vernichtung der Juden in den Niederlanden. Schließlich fasst Mathias Middelberg die Ergebnisse seiner juristischen Dissertation zusammen. Er beleuchtet insbesondere, wie in der ,,Entscheidungsstelle über die Meldepflicht" nach der Verordnung Nr. 6/41 (,,Meldepflicht von Personen, die ganz oder teilweise jüdischen Blutes sind") gearbeitet wurde. Ihre Zuständigkeit, über so genannte ,,Zweifelsfälle" zu entscheiden, eröffnete Handlungsspielräume, die von Calmeyer und seinen Mitarbeitern zugunsten verfolgter Juden genutzt wurden.

Dem von Calmeyer geleiteten ,,Judenreferat" des ,,Reichskommissariats für die besetzten niederländischen Gebiete" oblag die Entscheidung darüber, ob ein Mensch - nach dem Maßstab der Nürnberger Gesetze von 1935 - als Jude zu gelten hatte oder nicht. Presser betont die Bedeutung dieser Aufgabe, indem er zu bedenken gibt, ,,dass ein Parteimann auf seinem Platz eine Katastrophe gewesen wäre" (S. 83). Calmeyer war weder formal noch hinsichtlich seiner Überzeugungen ein Parteimann. Er ging seiner Arbeit auf der Basis einer humanen und zum Risiko bereiten Grundeinstellung nach. Das heißt, er nutzte vom Beginn seiner Tätigkeit an die Chancen, welche ihm seine Dienststellung bot, um möglichst viele Zweifelsfälle zugunsten der betroffenen Jüdinnen und Juden zu entscheiden. Um Calmeyers Selbstzweifel und Schuldgefühle zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass diese Zweifelsfälle nur etwa 4 Prozent der niederländischen Juden ausmachten. Auf das Schicksal der übrigen 96 Prozent hatte er keinerlei Einfluss, und die ,,Zweifelsfälle" konnte er, wenn das ganze Rettungsunternehmen nicht auffliegen sollte, auch nicht alle zugunsten der Verfolgten entscheiden. Tatsächlich hat Calmeyer 65 Prozent der 5.700 Fälle, über die er zu befinden hatte, zugunsten der mit Deportation und Ermordung bedrohten Juden entschieden und sie damit gerettet, was jedoch gleichzeitig den Tod der restlichen 35 Prozent bedeutete.

Vereinzelt ist Calmeyer der Vorwurf gemacht worden, er habe durch sein Verbleiben im Reichskommissariat letztendlich am reibungslosen Ablauf der Deportationen mitgewirkt (S. 83). Dieses Urteil ist fraglos ungerecht. Treffender ist die ambivalente Bewertung von Bundespräsident Johannes Rau, der Calmeyer in seinem Grußwort zu den Menschen zählt, ,,die damals geholfen haben, aber durch ihre Verstrickung in das Unrechtsregime auch schuldig geworden sind" (S. 7). So hat sich Calmeyer auch selbst gesehen. Er fühlte seine Unzulänglichkeit und haderte zeitlebens mit dem schrecklichen Geschehen, das er trotz seiner vielen lebensrettenden Maßnahmen nur punktuell hatte beeinflussen können.


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