Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Dietmar Süß, Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945 bis 1976 (Bayern im Bund Bd. 4, Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Bd. 55), Oldenbourg Verlag, München 2003, 505 S., geb., 39.80 €.
Arbeitergeschichte "befindet sich in der Krise" (S. 9). In seinem einleitenden Forschungsüberblick (S. 9-18) stellt der Autor fest, dass über die Geschichte der bundesdeutschen Arbeiter seit Jahrzehnten nicht mehr geforscht wird! - Das ist ein verblüffendes Resümee vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Innovationen in der Vergangenheit: Kommen die historiographischen Innovationen der Alltags-, der Erfahrungs- und der Kultur-, schließlich auch der Geschlechtergeschichte ohne die Geschichte von Arbeiterschaft und Arbeiterklasse aus? Haben sich die Potentiale einer Gesellschaftsgeschichte ganz in Richtung der Bürgertumsgeschichte verschoben?
Dietmar Süß vermutet, dass es "nicht nur politische, sondern in noch stärkerem Maße methodische Probleme [sind], die die Arbeitergeschichte in die Defensive gezwungen haben." (S. 9) Hierzu zählt er die Abkehr von einer Politikgeschichte der Parteien, der Verbände und Gewerkschaften sowie der Arbeiter-Vereine. Süß stärkt demgegenüber die politische Sozialgeschichte der Arbeiter, indem er sie kulturwissenschaftlichen Fragestellungen öffnet. Dieser breite Ansatz zielt auf eine Konflikt- und eine Sozialisationsgeschichte der Berufsgruppe sowie auf die Beschreibung ihrer "Arbeiterkultur". Diese Themenfelder haben in den achtziger Jahren bereits breite Beachtung gefunden. Sie wurden allerdings lediglich für das Kaiserreich und die Weimarer Republik aufgearbeitet und separiert in Konflikt- oder in Kulturgeschichten. Süß geht es jedoch um eine integrierte Betrachtungsweise der Arbeiter. Für die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik ist das gegenwärtig eine Pionierleistung, zumal sie zusätzlich Arbeiter- und Unternehmensgeschichte miteinander verknüpft.
Als Fallbeispiele wählte der Autor die Oberpfälzer Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg und die Bayerische Braunkohlen-Industrie AG im oberpfälzischen Haidhof aus. Beide Unternehmen, die 2002 und 1984 stillgelegt wurden, beschäftigten in den Sechzigerjahren insgesamt 10.000 Montan- und Bergarbeiter. Sie zeichnen sich durch eine bemerkenswert dichte Überlieferung interner Quellenbestände aus, welche durch Material der lokalen und regionalen SPD ergänzt werden konnten sowie durch Oral History. Auf dieser Grundlage entsteht ein bemerkenswert dichter Informationspool über politischen Konflikt- und Arbeits-Alltag in der oberpfälzischen Schwerindustrie.
Süß wählt einen chronologischen Zugang, indem er zunächst Arbeiterbewegung und "Arbeiterleben" in der Zeit der amerikanischen Besatzung analysiert (Kap. II) und dann sehr ausführlich auf die innerbetrieblichen Konfliktlinien in den Fünfzigerjahren eingeht, die unter dem Eindruck der Montanmitbestimmung neu zugeordnet wurden (Kap. III). "Blockadestrategien" auf Unternehmerseite und die Praxis der Betriebsrätearbeit sind der Rahmen, innerhalb dessen die soziale Lage der Arbeiter untersucht wird. Dazu gehören insbesondere Lohnentwicklung, Arbeitsbewertung, Rationalisierung und schließlich "Arbeiteridentität". Dieser Zugang wird in den nachfolgenden Kapiten IV und VI auf eine minutiöse Analyse der Partei- und Gewerkschaftsorganisation ausgedehnt, unterbrochen von einer umfassenden Analyse des Wandels der Arbeits- und Sozialbeziehungen in den Jahren zwischen 1963 und 1976. Diese überzeugende Verklammerung heterogener Analyseperspektiven eröffnet Süß einen fundierten und breit abgesicherten Zugang in das Themenfeld.
Einerseits kann er etwa die Arbeitsbewertung eines Gießers akribisch darstellen, für die nach wie vor die Unterscheidung in "handwerkliche[] Arbeit und [...] einfache[] Handarbeit am Produkt" [155] maßgeblich war. Damit werden fundamentale sozialgeschichtliche Differenzen innerhalb der Arbeiterklasse aufgezeigt. Andererseits kann der Autor aufgrund seines hervorragenden Quellenmaterial die Oberfläche strukturgeschichtlicher Befunde durchbrechen, wenn er die aus einer unterscheidbaren Arbeiter-Mentalität herrührenden kulturellen Konflikte aufzeigt. In dem Kapitel "Arbeit und Bier: Arbeiteridentität, Männlichkeit und sozialer Konfilkt am Hochofen" (157-176) gelingt dies auf anschauliche Weise. Hier werden "Körperlichkeit" (158 - 161), "Verantwortung und Arbeitsbewusstsein in der Arbeitskolonne" und der "Kampf um Bier" (172 - 176) als zentrale Bestimmungsmomente einer Arbeiter-Mentalität in der Schwerindustrie erläutert. So naheliegend diese Quellenarbeit nach der Lektüre erscheint, so ungewöhnlich ist sie doch noch immer in der gegenwärtigen Forschungslandschaft, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es Vergleichbares für die Arbeitergeschichte der Bundesrepublik bislang noch nicht gibt.
Kern des Konfliktes um den Bier-Konsum waren lange als Besitzstand überkommene Traditionen der Arbeiterklasse. Die Arbeiter wollten diese Privilegien bewahren, selbst wenn sie die eigene Unfallsicherheit gefährdeten. Und darum wurde erbittert gekämpft, wenn im Jahre 1960 der freie Bierkonsum am Arbeitsplatz zum Konfliktfall mit der Werksleitung wurde. Denn in der Maxhütte konsumierten Arbeiter durchschnittlich 17 Liter, im Haidhofer Braunkohlewerk aber bis zu 33 Liter pro Monat! Das waren vormoderne Mengen, welche unser Bild einer "modernisierten" Wirtschaftswunder-Gesellschaft empfindlich stören.
Tatsächlich schnitten sich in der Frage des Bierkonsums Welten. Ihre Grenzen steckt Süß ab, wenn er betont: "Zur Körperlichkeit der Arbeit und zum ,Eigen-Sinn' der Arbeiter gehörte Alkoholkonsum unmittelbar dazu." (173) Eine solche Mentalität war eine Kollektiverfahrung. Sie brach sich in politischem Protest Bahn, als sie bedroht wurde. Vom Betriebsrat musste sie mühsam kanalisiert werden. Dabei fungierte er als Sprachrohr einer Rationalität, welche auf die Einschränkung der Tradition abzielte. Der Betriebsrat erlangte die Rolle eines Kommunikators völlig unterschiedlicher Mentalitätsbezüge.
An dieser Stelle treten die Vorzüge von Süß´ Studie unmittelbar hervor, die vor allem in der Verklammerung von Erfahrungs- und Politikgeschichte bestehen. Hier liegen auch beträchtliche Chancen für die künftige Arbeiter-Historiographie. Denn ohne die kommunikative Funktion der organisierten Arbeiterbewegung zu analysieren, ist auf mittlere Sicht keine Arbeitergeschichte zu schreiben. Süß zieht die Verbindungslinien zwischen diesen traditionell getrennten Polen und zeigt dadurch, dass die Organisationsgeschichte Anknüpfungspunkte für ihre kulturalistische Erweiterung im Arbeiter-Milieu bietet. Die Erfahrungsperspektive des Kollektivs kann aus derjenigen des Individuums gewonnen werden, das ist der methodische Ertrag dieser Studie.
Süß betritt darüber hinaus in seinen Kapiteln über die Arbeits- und Sozialbeziehungen zwischen 1963 und 1976 und die Politikgeschichte der ostbayerischen SPD von Godesberg bis 1976 inhaltlich Neuland, denn über diese Phase wissen wir bislang noch viel zu wenig. Gewinnbringend sind insbesondere seine Ergebnisse über Grenzbereiche der Konfrontation in der Arbeiterschaft: mit aufmüpfiger Jugendlichen und mit ausländischen Beschäftigten. Gleichzeitig analysiert Süß auch die traditionellen Konsensbereiche mit den Gewerkschaften in großen Streiks. Sie hatten in den sechziger und siebziger Jahren nichts von ihrer ursprünglichen Dramatik eingebüsst. Diese Ausführungen sind spannend zu lesen.
Schließlich widmet Süß einer Grenzüberschreitung ein langes, äußerst instruktiv wie vergnüglich zu lesendes Kapitel: dem Zusammenprall von SPD, Jusos und Schüler- und Studentenbewegung in den frühen siebziger Jahren. Unter dem Eindruck eines soziokulturellen Mentalitätswandels lavierte die Schwandorfer Arbeiterpartei in eine Existenzkrise. Sie war das nicht-intendierte Ergebnis ihrer beträchtlichen Rekrutierungserfolge im jugendlichen Milieu der späten sechziger Jahre. Die daraus herrührenden tragfähigen Diskussionskulturen veränderten das Arbeitermilieu und auch die Milieupartei. Sie konnte ihre Selbst- und Fremdzuschreibung als alte "neue Arbeiterklasse" nur schwer aushalten und versuchte dennoch das neue Jugendmilieu politisierter Akteure in einem großen Diskurs zu vereinnahmen. Das war eine beeindruckende gesellschaftliche Integrationsleistung, die Süß hier erstmals akribisch darstellt und in ihren gesellschaftsgeschichtlichen Bezügen feinsinnig analysiert.
Nein, es ist nicht so, der "Abschied von der Proletarität", den Josef Mooser paradigmatisch in den achtziger Jahren aus der veröffentlichten Statistik herleitete, hat sich in der Bundesrepublik nicht wirklich vollzogen, denn die Milieus blieben intakter, als viele von außen dachten, und sie entfalteten mit ihrem Sinndeutungshorizont Eigengesetzlichkeiten, die erst durch akribische Fallstudien aufgedeckt werden können. Süß hat eine solche für 31 Jahre bundesrepublikanischer Geschichte bis 1976 vorgelegt. Er setzt damit selbstbewusst die Tradition des Bayern-Projektes über die Arbeitergeschichte fort und knüpft in kulturalistischer Absicht an die ältere sozialgeschichtliche Historiographie der achtziger Jahre an.
Georg Wagner-Kyora, Hannover/Halle