Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen. Begleitbände zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, DHM, Berlin 2004, 2 Bde., 970 S., 551 schwarz-weiß und 353 farbige Abbildungen, Pb., 49,80 €; Philipp von Zabern Verlag, Mainz 2004, geb., 128,- €.
Der Zweite Weltkrieg und seine Verbrechensbilanz nehmen ohne Zweifel eine Schlüsselrolle in den ,,Gedächtniskulturen" der nachfolgenden Generationen ein. Wie genau sich die ,,kollektive Erinnerung" an den Zweiten Weltkrieg in den verschiedenen europäischen Staaten formiert und entwickelt hat, steht im Zentrum der zu besprechenden Bände. Mit dem Worten der Herausgeberin geht es darum zu zeigen, wie die europäischen Nationen in der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg das erschütterte ,,emotionale Fundament" ihrer ,,Identität" durch ,,Geschichtskonstruktionen" neu erfanden. Die beiden voluminösen Bücher, die als Begleitbände zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums erschienen sind, bieten viel mehr als die Katalogisierung und Beschreiben der Exponate.
In 27 Aufsätzen erfahren nahezu sämtliche europäische Staaten eine monographische Behandlung. Zu ,,Europa" gerechnet werden die Sowjetunion, deren Nachfolgestaaten im Baltikum sowie die Ukraine, nicht jedoch die Türkei. Ergänzend werden auch Israel und die USA, deren Geschichte und Geschichtsbilder aus unterschiedlichen Gründen eng mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpft sind, in eigenen Aufsätzen behandelt. Herausgekommen ist zwar keine ,,vergleichende Studie" (Flacke, S. 12), wohl aber lassen sich die Beiträge, die einer gemeinsamen Fragestellung folgen, mit Gewinn vergleichend lesen.
Bei den Autoren handelt es sich durchweg um ausgewiesene Fachleute, die meist aus den behandelten Ländern selbst stammen. Gemeinsam ist ihnen eine erfreulich kritische Distanz gegenüber den dominierenden ,,Meistererzählungen" der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Wenn irgendwo, dann zeigt sich in dieser intellektuellen Skepsis gegenüber nationalstaatlichen Geschichtsbildern so etwas wie gemeineuropäischer Geist. Jeder der Beiträge wird durch einen 20 bis 30 Seiten umfassenden Essay eröffnet, wobei die Herangehensweise je nach Gegenstand differiert. Die Essays werden durch ausführliche Chronologien und Karten ergänzt, die dem Leser das notwendige Faktenwissen über die politische Geschichte der jeweiligen Länder und ihr Schicksal während des Krieges an die Hand geben. Denn wer kann von sich behaupten, wenigstens die Grundzüge der Geschichte der behandelten Ländern zu kennen? Entstanden sind oft fesselnd zu lesende Texte, von denen jeder für sich genommen eine eingehende Würdigung verdient hätte.
Den schwierigen Versuch, die vielfältigen Resultate zusammenfassend zu bewerten, hat in einem einleitenden Beitrag Etienne François unternommen. Wie er zurecht betont, entstanden die prägenden ,,Meistererzählungen" der Nachkriegszeit zunächst bei den Siegermächten. Sie feierten den militärischen Sieg über Nazi-Deutschland, hoben den Widerstand gegen die Besatzung hervor, entwickelten eine heroische Sicht des Krieges, gedachten ihrer Opfer und verehrten ihre Helden. Zugleich neigten sie zur Diabolisierung Deutschlands und einer harten Verfolgung derjenigen, die während des Krieges mit Deutschland sympathisiert oder zusammengearbeitet hatten. Teilweise gingen diese Vorstellungen auch auf die neutralen Länder und sogar die ,,Täterländer" über: Während Österreich sich als ,,erstes Opfer" des Nationalsozialismus zu definieren trachtete, wurde in Italien die Bedeutung der ,,resistenza" stark übertrieben. Die bundesrepublikanische Spielart bestand in einer Dämonisierung Hitlers und der NS-Eliten, die das im wesentlichen unbelastete deutsche Volk verführt hätten, sowie in der Verherrlichung der ,,Männer des 20. Juli".
Der Judenmord rückte zumindest in den demokratischen Staaten erst seit den 1960er Jahren allmählich ins Zentrum der Erinnerung, ohne dass allerdings die Perspektive der Opfer selbst bereits hinreichend berücksichtigt wurde. Mehrere Autoren betonen die Bedeutung, die die Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie ,,Holocaust" seit 1978 für den Bewusstseinswandel in den jeweiligen Ländern hatte. Beschleunigt durch den Generationswechsel kam es zu neuen vergangenheitspolitischen Kontroversen (Waldheim-Debatte, die wissenschaftliche und juristische Auseinandersetzung um Widerstand sowie Kollaboration in Italien und Frankreich und das Problem der finanziellen Entschädigung). In der Folge gerieten die entlastenden ,,Meistererzählungen" der Nachkriegszeit unter Druck, es kam zu einer Angleichung der nationalen Gedächtniskulturen, zu deren zentralem Referenzgröße der Völkermord am europäischen Judentum wurde.
Im Einflussbereich der Sowjetunion blieb dagegen bis in die späten 1980er Jahre die zur Staatsdoktrin erhobene Deutung des Krieges als ,,Großer Vaterländischer Krieg" und internationaler antifaschistischer Kampf verbindlich. Allerdings waren hier die Divergenzen zwischen offiziellem Geschichtsbild und privater Erinnerung größer als im Westen. Mit dem Ende der Diktaturen gerieten die verordneten Geschichtsbilder unter Druck. Dabei trat zunächst die Abrechnung mit dem Stalinismus und der sowjetischen Herrschaft in den Vordergrund, während die Kooperation mit NS-Deutschland und die Mitverantwortung an der Ermordung der Juden kaum beachtet wurden. Die meisten Autoren zeigen sich aber optimistisch, dass die Aushandlungsprozesse in den postkommunistischen Nationalstaaten zu einem ,,offeneren Gedächtnis" (S. 25) führen, also allmählich mit dem europäisierten ,,westlichen Gedächtnis" konvergieren werden.
Indem Monika Flacke davon spricht, dass neben die nationale Erinnerung zunehmend eine gemeineuropäische Perspektive des Gedenkens trete (S. 9), und indem Etienne François betont, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg werde immer weniger unter nationalen Gesichtspunkten als unter ,,universellen ethisch-politischen Kriterien" bewertet (S. 25), scheinen sich die tödlichen Feindschaften des Krieges in einer gemeinsamen, harmonischen Gedenkkultur aufzulösen, bei der die politische Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern an Bedeutung verliert. Das mag so stimmen. Aber könnte es nicht sein, dass hier bei allem dekonstruktivistischen Eifer gegenüber den Nachkriegsdeutungen gleichsam durch die Hintertür eine neue, eine europäische ,,Meistererzählung" eingeführt wird?
Dass das ,,kollektive Gedächtnis" des 20. Jahrhunderts in hohem Maße visuell geprägt wurde, gehört zum Befund sämtlicher Autoren. Zu den Vorzügen der versammelten nationalgeschichtlichen Essays gehört daher auch die reflektierte Verwendung des Bildmaterials. Die Abbildungen sind hinreichend genau nachgewiesen, und sie werden ausnahmslos in den Gang der Argumentation eingebunden. Gleichwohl entwickeln nur einige Autoren ihre Argumentation aus dem verwendeten Bildmaterial selbst, wie etwa der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann in seinem Beitrag über das Kriegsgedenken in der Bundesrepublik.
Der unüberschaubaren Variabilität der Bildmedien und -formen, die von Fotografien und Filmen bis zu Denkmälern, Briefmarken, Plakaten und Emblemen reichen, aber auch den spezifischen Wirkungsweisen der Bilder hat Horst Bredekamp einen zweiten zusammenfassenden Beitrag gewidmet. Da Bilder Geschichte nicht nur passivisch widergäben, sondern ihre Einschätzung auch prägen könnten, so sein Argument, ließe sich das öffentliche Gedenken an den Zweiten Weltkrieg als Folge von ,,Bildakten" analysieren. Zwar waren Fotografie, Film und Fernsehen diejenigen Medien, die die meisten ,,Ikonen" der Kriegserinnerung schufen. Gleichwohl plädiert Bredekamp dafür, die zahlreichen Denkmäler nicht zu übersehen, die nach seiner gut belegten Auffassung auch in der Mediengesellschaft der Gegenwart erhebliche Wirkung entfalten. Überwog in den Nachkriegsjahrzehnten das figürliche Denkmal mit der aus dem 19. Jahrhundert herrührenden Opfer-. Märtyrer- und Siegerikonographie (am wirkungsmächtigsten vermutlich die figürlichen Ensembles zum Gedenken an den ,,Großen Vaterländischen Krieg"), so machte die zunehmende Konzentration der Erinnerung auf den Judenmord neue Formen des Denkmals erforderlich. Die Frage nach der visuellen Darstellbarkeit des Völkermordes ließ ,,Antidenkmäler" entstehen, die die klassische Ikonographie negierten. Herausragendes Beispiel ist Peter Eisenmans ,,Denkmal für die ermordeten Juden Europas".
Unglücklich wirkt der Titel des Unternehmens. Es ist verständlich, dass damit an das erfolgreiche Ausstellungs- und Buchprojekt von 1998 angeknüpft werden sollte. Damals wurden die Ursprungsmythen der europäischen Nationalstaaten, wie sie im 19. Jahrhundert von vielen intellektuellen Wortführern ,,konstruiert" wurden, behandelt.(1) Im Falle der ,,Meistererzählungen" der ersten Nachkriegsjahrzehnte handelt es jedoch im wesentlichen um offizielle ,,Geschichtspolitik", die nicht von weit entfernten Zeiten handelte, sondern unmittelbar Erlebtes im Dienste kurzfristiger staats- oder machtpolitischer Interessen zu deuten beanspruchte. Unter diesen Bedingungen konnte die historische Erinnerung nur ausnahmsweise ,,mythische" Züge annehmen.
Auch legt der Titel ,,Mythen der Nationen" eine nationale Uniformität der kollektiven Erinnerung nahe, die es - wie viele der versammelten Beiträge zeigen - auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht gegeben hat. Es existierten neben konkurrierenden Deutungen innerhalb der einzelnen Staaten stets auch grenzüberschreitende Formen der Erinnerung, nicht nur im Einflussbereich des Sowjetunion und ihres verordneten ,,Internationalismus", sondern auch bei den ehemaligen Soldaten oder bei verschiedenen ,,Opfergruppen". Die Frage nach der tatsächlichen Reichweite der nationalen ,,Meistererzählungen", danach, welche gesellschaftlichen Gruppen zu welchem Zeitpunkt von welchen Geschichtsbildern erfasst worden sind, berührt allerdings eines der schwierigsten Probleme bei der Erforschung von ,,Erinnerungskulturen".(2) Das ,,kollektive Gedächtnis" ist stets in Gefahr, selbst zum ,,Mythos" zu werden.
Insgesamt handelt es sich bei den vorliegenden Bänden um ein einzigartiges Kompendium, das den ehrgeizigen Anspruch, einen Überblick der europäischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu geben, einlöst. Die Beiträge bieten solide recherchierte Information, die leserfreundlicher präsentiert und didaktisch gut aufbereitet sind. Sie regen zum Nach- und Weiterdenken an und sind für die Verwendung in der Lehre hervorragend geeignet. Bereichernde Lektüre also nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Reisende, die sich offenen Auges in Europas Geschichtslandschaften bewegen.
Andreas Biefang, Bonn
Fußnote:
1 Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Begleitband zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin 1998, 22001.
2 Christoph Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff - Methoden - Perspektiven, in: GWU 54 (2003), S. 548-563.