ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, Verlag C.H. Beck, München 2003, 426 S., geb., 39,60 €.

Kaum ein Historiker hat sich während der letzten Jahrzehnte so intensiv mit der Leibeigenschaft im deutschsprachigen Raum beschäftigt wie Peter Blickle. Sein hier besprochenes Werk enthält quasi die Summe seiner bisherigen Forschungen zum Thema. In breiter Perspektive und von allen Seiten her befaßt sich Blickle mit dem hochkomplexen und gerade aus moderner Sicht sehr fremden Institution der Leibeigenschaft. Blickle bietet eine äußerst fundierte Behandlung des Themas, die bei allem notwendigen und unvermeidbaren Detailreichtum die Grundzüge der Entwicklung nachzeichnet und dem Leser gut verständlich macht.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil enthält die Geschichte der Leibeigenschaft im Alten Reich. Der zweite bietet die auf Deutschland bezogen Ansichten Blickles über die Wurzeln moderner Menschen- und Bürgerrechte im Institut der Leibeigenschaft. In vergleichender Perspektive zeigt Blickle für das Alte Reich, was die mittelalterliche ,,Eigenschaft" von der neuzeitlichen ,,Leibeigenschaft" unterschied, auf welchen Wegen und warum sich während der frühen Neuzeit die Verschärfung von der ,,Eigenschaft" zur ,,Leibeigenschaft" vollzog. Einen Schwerpunkt des Buches bilden dabei die seit frühester Zeit zahlreich belegten Versuche der Bauern, auf verschiedensten Wegen der ,,Eigenschaft" zu entkommen und sich gegen die Einführung der Leibeigenschaft zur Wehr zu setzen. Deutlich werden die grundlegenden Unterschiede zwischen Leibeigenschaft im südwestdeutschen auf der einen und im nördlichen und östlichen Deutschland auf der anderen Seite. Im südwestdeutschen Raum hing die Etablierung der Leibeigenschaft eng zusammen mit der Bildung geschlossener Herrschaftsterritorien im Rahmen der frühneuzeitlichen Staatenbildung im Norden und Osten resultierte sie aus dem kontinuierlich anwachsenden Arbeitskräftebedarf expandierender Güter, die für den internationalen Markt produzierten. Im ersteren Fall äußerte sich Leibeigenschaft vornehmlich in Freizügigkeitsbeschränkungen und bestimmten Abgaben im letzteren bildeten zusätzlich ausufernde Arbeitsfronen bei gravierender Verschlechterung der bäuerlichen Besitzrechte die charakteristischen Elemente. Wie Blickle eindrucksvoll beschreibt, sanken im schlimmsten Falle nord- und ostdeutscher Leibeigenschaft Bauern de facto auf einen sklavenähnlichen Status herab.

Bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich in Südwestdeutschland die Leibeigenschaft soweit verflüchtigt, dass sie de facto kaum noch existierte. Diesen wichtigen, bisher in seiner Tragweite oft nicht richtig wahrgenommenen Prozess ausführlich behandelt zu haben, stellt ein weiteres Verdienst Blickles dar. Der flächendeckende Übergang vom Leibeigenen zum Untertanen hatte sich vollzogen. Blickles Meinung nach war hier bereits bis Ende des 18. Jahrhunderts sogar der weitergehende Schritt zum Bürger erfolgt. Für nord- und ostdeutsche Formen der Leibeigenschaft gestaltete sich die Entwicklung für die Bauern nicht so günstig. Fortschritte waren aber auch hier zu verzeichnen. Die bäuerlichen Arbeitsfronen ließen sich nicht mehr weiter ausdehnen, der bäuerliche Widerstand nahm soweit zu, dass auch hier im Zuge der Bauernbefreiung die Abschaffung der Leibeigenschaft erfolgte; allerdings um einen deutlich höheren Preis für die Bauern als im Südwesten.

Zusammenfassend läßt sich sagen, dass es in Deutschland gegenwärtig kein besseres Buch zum Thema Leibeigenschaft gibt. Hätte der Autor sich auf eine Geschichte der Leibeigenschaft beschränkt, so könnte man die Rezension jetzt ruhigen Gewissens an dieser Stelle beenden. Blickle strebt aber mehr an, nämlich eine Geschichte der Freiheit in Deutschland. Seine Grundthese lautet, dass unser Verständnis des modernen Bürgers sich letztendlich aus der mittelalterlichen Eigenschaft entwickelte. Auch die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte habe sich in Deutschland ohne erfolgreiche Revolution wenn auch über Umwege quasi organisch und aus eigener Kraft vollzogen: vom Leibeigenen über den Untertanen weiter zum Bürger. Auch wenn dies nirgends explizit formuliert wird, so legen Blickles Ausführungen die Konsequenz nahe, dass kein Grund besteht, selbst angesichts erfolgreicher bürgerlicher Revolutionen in den westlichen Nachbarstaaten und den USA der deutschen Geschichte Defizite zu bescheinigen. Deutschland ging nach Blickle in Bezug auf die Durchsetzung der Menschenrechte eben nur einen anderen Weg, aber es ging ihn nichtsdestotrotz genauso erfolgreich.

So sorgfältig und überzeugend die Teile des Buches ausfallen, die sich auf die Leibeigenschaft konzentrieren, so selektiv fällt die Wahrnehmung historischer Fakten und Prozesse in Bezug auf die Genese der Menschen- und Bürgerechte in Deutschland aus. Streckenweise dominieren dürftig belegte Kausalketten und gewagte Assoziationen, um zu begründen wie Menschenrechte nicht nur gegen sondern aus den Freiräumen und der Ausgestaltung der Institution Leibeigenschaft heraus entstanden sein sollen. Geschichtsphilosophische Bekenntnisse zum Wesen der menschlichen Freiheit an sich müssen dann so manche Argumentationslücke schließen. Alternative Ansätze, die das genuin Neue und Revolutionäre der im Zuge der Aufklärung entwickelten Menschen- und Bürgerrechte betonen und die in der Forschung und Öffentlichkeit eindeutig dominieren, werden nicht einmal erwähnt geschweige denn kritisch diskutiert. Eine Abwägung der eigenen Position im Vergleich zu konkurrierenden Sichtweisen erfolgt nicht. Als Beispiel sei hier nur angeführt, dass in Bezug auf die Abschaffung der Leibeigenschaft eine Diskussion der Handlungsakteure, Motivationen und vor allem der strikten Grenzen des aufgeklärten Absolutismus nicht stattfindet. Diese hätte verdeutlicht, dass es vor der französischen Revolution weder einen gewundenen noch einen fließenden Übergang vom Untertanen zum Bürger im modernen Sinn gegeben hat. Selbst die Abschaffung der Leibeigenschaft scheiterte in den meisten Fällen. Menschen- und politische Bürgerrechte, die im Individuum begründet sind, standen dabei nicht auf der Agenda selbst der aufgeklärtesten Potentaten in der Habsburger Monarchie und Preußen. Vielmehr hatte auch die (versuchte) Abschaffung der Leibeigenschaft in diesen Staaten immer mit der Steigerung staatlicher Effizienz und dem Machterhalt zentralstaatlicher Bürokratien zu tun. Der Krieg war hier einer der wichtigsten Väter der Bauernbefreiung. Als Haupt- wenn nicht sogar einziger Akteur erscheint bei Blickle dagegen das (bäuerliche) Volk, dass sich am Ende die Bauernbefreiung zäh und vornehmlich auf friedlichem Wege erkämpft hätte. Unscharf bleiben dagegen die konkreten Mechanismen und Handlungsabläufe, die dazu führten, dass dem Willen der Bauern schließlich entsprochen wurde. Dass die Bauern zusehends auf die Abschaffung der Leibeigenschaft drängten, sei nicht in Abrede gestellt, doch gab es neben dem ,,Volkswillen" eben auch noch andere Akteure auf der historischen Bühne mit ganz eigenen Interessen. Die Bedeutung Napoleons und der französischen Revolution für das Aufbrechen verkrusteter politischer Strukturen und der Durchsetzung politischer Rechte in Deutschland werden folgerichtig von Blickle komplett marginalisiert und eigentlich für überflüssig erklärt. Nicht nur dass dieser Ansatz konträr zur zeitgenössischen Wahrnehmung steht, er ignoriert fast die gesamte historische Forschung.

Lassen sich die zwölf Artikel der Bauern von 1525 und die Menschenrechtserklärungen der französischen und amerikanischen Revolution wirklich ohne weiteres auf eine Ebene bzw. in eine entwicklungsgeschichtliche Linie stellen? Waren die zwölf Artikel nicht eher der letzte Ausfluß eines machtvollen Stroms chiliastischen Denkens des Mittelalters, daß schon lange vor der Reformation bibelgestützt einen primitiven Egalitarismus predigte und mitnichten der Beginn modernen Freiheitsdenkens? Erwähnt sei hier nur, daß sich die Idee der Volkssouveränität als Quelle aller politischen Macht und Legitimation aus den Menschenrechtserklärungen der französischen und amerikanischen Revolution als logische Konsequenz ergibt nicht aber aus den Forderungen der Bauern nach göttlicher Gerechtigkeit. Ganz im Gegenteil, die Rebellionen der deutschen Bauern entfalteten wie alle egalitären bäuerlichen Bewegungen keine eigenständige gestaltende institutionelle Kraft. Wozu es noch reichte war die Idee vom ,,guten Kaiser". Ein völlig anderer, alternativer politischer Rahmen lag bis zu den Revolutionen der Aufklärung jenseits der Vorstellungskraft aller unzufriedenen Leibeigenen und Untertanen. Es waren auch erst die bürgerlichen aufgeklärten Revolutionäre die erkannten, daß Freiheit ohne neu zu schaffende institutionelle Absicherung keinen Sinn macht. Zentraler Bestandteil einer Geschichte der Freiheit in Deutschland muß daher sein, warum auf allen Ebenen der deutschen Gesellschaft vom Denken bis zum Handeln im wahrsten Sinne des Wortes die ,,kritische Masse" fehlte, um aus eigener Kraft Menschen- und Bürgerrechten in der ihr angepaßten parlamentarischen Regierungsform zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Frage ist und bleibt heute genauso wie 1945 aktuell, auch wenn man das Dritte Reich nicht mehr als Fluchtpunkt der gesamten deutschen Geschichte ansieht. Blickle hat dem wenig entgegenzusetzen.

Zum Teil umgeht Blickle diese kritischen Fragen indem er die Menschenrechte einfach ohne weitere Diskussion auf ihren genuin ökonomischen Kern beschränkt: Recht auf Eigentum und Freizügigkeit. Diese hat man tatsächlich auch in Deutschland vollständig realisiert allerdings bei vehementer und erfolgreicher Abwehr aller politischen Konsequenzen aus der Idee universeller Menschen- und Bürgerrechte. Es war ja geradezu preußische Politik, dem Bürger ökonomische Freiheit zu gewähren um den Preis, daß er auf substantielle politische Teilhabe verzichtet. Es gibt den von Blickle implizit unterstellten zwangsläufigen Zusammenhang zwischen ökonomischen und politischen Freiheitsrechten nicht. Das eine läßt sich durchaus ohne das andere realisieren. Bestes Beispiel sind Deng Xiao Pings erfolgreiche Agrarreformen nach 1978. Sie gaben den chinesischen Bauern volle ökonomische Freiheiten (Privateigentum und Freizügigkeit) mit durchschlagender wirtschaftlicher Wirkung, ohne dass sich am politischen System irgend etwas substantiell geändert hat. Zumindest die chinesischen Bauern können damit sehr gut leben ähnlich wie die deutschen Bauern nach 1848 mit der erledigten bürgerlichen Revolution. Deng Xiao Ping ist genauso wenig ein Vorkämpfer der Menschenrechte wie der ,,Bauernbefreier" Freiherr vom Stein. In einem Punkt hat Blickle allerdings ungewollt recht. Seine angestrebte Abkoppelung der Menschenrechte von Aufklärung und Bürgertum macht diese tatsächlich leichter universalisierbar. Allerdings nur in einer politisch abgespeckten rein ökonomisch ausgerichteten Version, die auch in fast jeder Diktatur erreichbar ist. Wachstumspolitik und Demokratisierung sind keine unzertrennlichen Zwillingsschwestern.

Häufig läßt sich feststellen, daß Blickle Neues im Alten sieht, wo eigentlich nichts ist und Analogien suggeriert, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Exemplarisch sei die Beteiligung der unfreien Bauern an der dörflichen Gerichtsbarkeit genannt, die Blickle zur Konstituierung eines öffentlichen Raumes hochstilisiert, den Herr und Bauer gemeinsam gestaltet haben sollen. Ganz abgesehen davon, daß die bäuerliche Teilhabe an der Rechtsfortbildung im Laufe der Zeit immer mehr abnahm und meistens sogar verschwand, so betraf diese Rechtsprechung in den allermeisten Fällen Fragen der kollektiven Nutzung des Landes bzw. mit anderen Worten Nachbarschaftsstreitigkeiten. Kollektive Regelungen innerdörflicher Streitigkeiten gibt es wohl seit der Jungsteinzeit über die ganze Welt verbreitet in allen bäuerlichen Gesellschaften. Ein öffentlicher Raum im modernen Sinne, wie ihn nur der europäische Kulturkreis entwickeln konnte, läßt sich aus ihnen nur schwerlich ableiten.

Michael Kopsidis, Halle/Saale


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