ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Claude D. Conter, Jenseits der Nation. Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004, 780 S., geb., 50,00 €.

Die Europa-Vorstellungen des 19. Jahrhunderts haben bislang nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Bisher gibt es hauptsächlich ideengeschichtliche Arbeiten, die sich mit politischen Einigungsvorstellungen beschäftigt haben. Die in ihrer Zeit relativ marginalen Visionen wurden jedoch häufig aus ihrem Kontext herausgelöst und in eine ahistorische Reihung von Europa-Konzepten eingegliedert - im Extremfall ergab sich dann eine direkte Linie von der Antike bis zur EU. In ihrer Zeit verortet und auf andere, zum Beispiel literarische Texte bezogen wurden solche politischen Ideen bisher dagegen kaum. Insofern bringt Claude D. Conters Bamberger Dissertation, der ein breiteres Verständnis des Europadiskurses zugrunde liegt, eine wertvolle neue Perspektive ein. Conter geht es darum, die Europabilder und -ideen des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen und herauszustellen, mit welchen rhetorischen Mitteln diese konstruiert und inszeniert wurden. Insgesamt fragt er, ob sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts ein Bewusstsein europäischer Identität feststellen lässt. Nicht nur die großen Namen, sondern die Normalvorstellungen, die sich aus heute häufig vergessenen Texten rekonstruieren lassen, werden dafür analysiert. Angesichts eines so ausladenden Programms lag es nahe, zumindest den Untersuchungsraum einzugrenzen, und tatsächlich konzentriert sich Conter - anders als es der Titel der Studie ausweist und der Umfang seines Buches vermuten lässt - im Wesentlichen auf deutsche Europavorstellungen zwischen Wiener Kongress und den 1850er Jahren.

Conter setzt mit den deutschen Reaktionen auf die vermeintlich universalmonarchischen Bestrebungen Napoleons ein und zeigt die Vielfalt der Positionen auf. Neben gleichgewichtstheoretischen Positionen, wie man sie etwa bei Friedrich von Gentz findet, entwickelten sich damals bereits Völkerbundvorstellungen. Während viele der in diesem Kapitel diskutierten Europavorstellungen auch schon von anderen untersucht worden sind, bietet das darauffolgende Kapitel im Kontext der Europaforschung weniger Bekanntes: Conter untersucht hier, vor allem anhand literarischer Quellen, jene Europavorstellungen, die sich aus dem Diskurs über Amerika ergeben. Mit diesem auch schon von Hartmut Kaelble angewandten Verfahren leuchtet er überzeugend die ,,Europamüdigkeit" und die Idealisierung der Projektionsfläche Amerika in den 1830er Jahren aus. Auch verdeutlicht er den Wandel im Folgejahrzehnt, als ein neuer Optimismus in Bezug auf Europa entstand, der sich nicht zuletzt aus einem kontinentalen Konkurrenzdenken speiste: In der doppelten Abgrenzung gegenüber Amerika und dem Orient erfuhr Europa damals einen Bedeutungsgewinn. Das dritte empirische Kapitel wendet sich der europabezogenen Revolutionsliteratur zu. Conter betont, dass vor allem im Gefolge der deutschen Reaktion auf die Juli-Revolution Europavisionen und nationalliberale Wünsche eng miteinander verzahnt wurden. Vor allem in dieser Phase gab es Positionen, die die Nation und Europa nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Identitätsangebote verstanden, wobei Conter auch auf textgattungsspezifische Entwicklungen aufmerksam macht. Erst nach 1848 entflochten sich beide Stränge wieder, und gleichzeitig wurde die europäische Dimension marginalisiert. Conter nennt das Epochenjahr deswegen ,,eine Zäsur im kommunikativen Gedächtnis" (S. 675). Das Abschlusskapitel greift Conters Eingangsfrage nach dem Bewusstsein europäischer Identität zusammenfassend auf; unter anderem analysiert er hier den Europamythos als Indikator für ein europäisches Wir-Gefühl. Insgesamt kann Conter zeigen, dass sich das gebildete Deutschland nach 1815 mehr für Europa interessierte, als man bisher angenommen hat.

Kritisch lässt sich anmerken, dass die Bedeutung der Texte im damaligen Diskurs noch deutlicher hätte werden müssen. Wer Normalvorstellungen untersucht, muss die relative Relevanz einer Position in den damaligen Debatten analysieren. In der literaturwissenschaftlich geprägten Arbeit sind außerdem einige historische Arbeiten zum Thema, vor allem Wolfgang Burgdorfs Buch zum antieuropäischen Denken und Volker Depkats Arbeit über deutsche Amerikabilder, nicht berücksichtigt worden.

Insgesamt überwiegt aber eindeutig ein positiver Eindruck: Inhaltlich legt Conter die Bandbreite der Europavorstellungen offen, die vom Einheitsstaat bis zur kosmopolitischen Gesellschaftsordnung reichten, von der sendungsbewussten Kolonialmacht bis zur europamüden Idealisierung Amerikas. Zugleich verweist er auf die Varianz der deutschen mental maps von Europa. Ob das Zarenreich und das Osmanische Reich zu Europa gehören sollten, war durchaus umstritten, und spannender Weise konnte gerade letzteres beides zugleich sein: Fluchtraum europäischer Sehnsüchte und Projektionsfläche für Feindbilder. Conter hat recht, dass sich aus diesen Vorstellungen keine konsistente Phänomenologie einer europäischen Identität ergibt. Sehr wohl lassen sich aber Tendenzen eines deutschen Bewusstseins europäischer Identität ausmachen, wie etwa der Übergang von der ,,Europamüdigkeit" der 1830er Jahre zu einem neuen Selbstbewusstsein im Folgejahrzehnt zeigt. Aufgrund der Breite der analysierten Quellen ebenso wie aufgrund ihrer Ergebnisse wird künftig niemand, der sich für jenes vergessene Europa ,,jenseits der Nation" im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert, an Conters Studie vorbeikommen.

Kiran Klaus Patel, Berlin


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