ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karin Huser, Eine revolutionäre Ehe in Briefen. Die Sozialrevolutionärin Lidija Petrowna Kotschetkowa und der Anarchist Fritz Brupbacher, Zürich, Chronos-Verlag 2003, 434 S., geb., 38,80 €.

Diese Studie, die vor dem Hintergrund des untergehenden Zarenreichs knapp zwei Jahrzehnte aus dem Leben der russischen Ärztin und Revolutionärin Lidija Kočekova behandelt, könnte mit vielen bunten Wimpeln aus den jüngeren historiografiegeschichtlichen Debatten um Aufmerksamkeit heischen. Der Band stellt erstens eine Mikrogeschichte der russischen Revolution in der Provinz dar, an deren Vorbereitung die Landärztin als Mitglied der agrarsozialistisch orientierten, illegalen ,,Partei der Sozialisten-Revolutionäre" (PSR) beteiligt war. Zweitens geht es am Beispiel Lidija Petrovnas Ehe mit dem Zürcher Armenarzt Brupbacher um die Beziehung zwischen den Geschlechtern: im starren Gefüge der zarischen Gesellschaft sowie über die Distanz zwischen Schweizer Urbanität und einer russischen Wolgaprovinz. In diesem Zusammenhang leistet die Monografie, drittens, einen Beitrag zur Erforschung kultureller Missverständnisse zwischen Europa und Russland. Dies geschieht, viertens, auf der Grundlage von etwa 6000 Privatbriefen, von Selbstzeugnissen also, die historisch-anthropologisch argumentierende Historiker als Schlüssel zum Verständnis des historischen Ichs wiederentdeckt haben.

Diese Untersuchungsebenen strukturieren indes die Darstellung kaum über die Einleitung hinaus. Bis auf die letzten Kapitel (zum Feminismus und den kulturellen Missverständnissen) zeichnet sich das Buch mehr durch detailgetreue Erzählpassagen als durch analytische Tiefenschärfe aus. Die meisten Leser werden es freilich Karin Huser danken, dass sie die genannten vier Aspekte nicht zu einer transnationalen Geschlechterverflechtungs- und Diskursgeschichte verbaut hat. Sie begnügt sich mit einer vergleichsweise knappen Einordnung ihrer drei Leitfragen in den internationalen Forschungsstand. Erstens lenkt Huser den Blick auf die lokalen Wirkungsmöglichkeiten der PSR, die unter den Bauern an der mittleren Wolga eine überdurchschnittliche Resonanz fand. Nach der gescheiterten Revolution von 1905 trug die PSR-Funktionärin Kočekova im Raum Saratov zeitweilig die Hauptlast der Agitation und der Versuche, eine Parteiorganisation aufzubauen bzw. zu erhalten. Zweitens wird ihre ungewöhnliche Beziehung zu Brupbacher analysiert, die keine Zweckheirat war. Für Kočekova war ein komfortables Exil in der Schweiz keine Alternative; sie nahm selbst eine dreijährige Verbannung nach Nordrussland als Teil ihrer Berufung zur Revolutionärin hin. Drittens erforscht die Autorin die Ursachen für das Scheitern der Ehe zwischen Brupbacher und Kočekova in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Neben unüberbrückbaren weltanschaulichen und persönlichen Differenzen wird das Wechselspiel von Auto- und Heterostereotypen untersucht.

Huser zeichnet das Panorama der Ehe aus der Sicht vor allem von Kočekova, die nach dem gemeinsamen Medizinstudium in der Schweiz weitgehend getrennt von Brupbacher ihren Weg ging. Diese Einseitigkeit der Darstellung ist durchaus gewollt, weil zu Brupbacher bereits Forschungen vorliegen; aber sie ist nicht verzerrend, weil die Verfasserin die Perspektive Kočekovas sowohl in den biografischen als auch in den weiteren historischen Zusammenhang einzuordnen versteht. Den Lesern des großzügig bebilderten Bandes stehen ferner in kleinen Exkursen Zusatzinformationen (etwa zur intelligencija, zur ländlichen Selbstverwaltung der zemstva, aber z. B. nicht zu den reaktionären ,,Schwarzen Hundertschaften") zur Verfügung. Der Lesbarkeit förderlich ist sicherlich auch die einfache Gliederung, die dem filmreifen Lebensweg aber schon fast die Dramaturgie nimmt und ihn auf eine prosaische Chronologie reduziert. Fasziniert von dem Milieu russischer Studentinnen im Zürich der Jahrhundertwende, die dort anders als in ihrer Heimat die Möglichkeit hatten, u. a. Medizin zu studieren, verliebt sich Fritz Brupbacher in eine seiner Kommilitoninnen und übernimmt allmählich auch deren sozialistische Ansichten. Lidija Kočekova, die er erst einige Jahre später heiratet, kehrt nach dem Studium ins Zarenreich zurück, um als Zemstvo-Ärztin im und für das Volk zu wirken. Die Eheleute sehen sich allenfalls jährlich einige Wochen - Umstände, mit denen vor allem Brupbacher haderte. Zudem sorgte er sich nicht ohne Grund, dass er seine in der auch terroristisch aktiven PSR engagierte Gattin nur ,,,als Leichli`" (S. 196) wiedersehen werde. Die zunehmende Entfremdung zwischen den beiden können auch Brupbachers Besuche bei seiner verbannten Frau nicht aufhalten. Kočekova bricht, weil sie innerhalb der PSR zeitweilig als Verräterin gilt, auch mit ihrer politischen Vergangenheit. Sie publiziert radikale feministische Theorien, behält zugleich ihre schwärmerischen Ideale von einem besonderen russischen, bäurischen Sozialismus, die während des Weltkriegs in einem aggressiven und rassistischen Nationalismus aufgehen. So kompromisslos, wie sie zu Beginn des Jahrhunderts ihrer Berufung zur Revolutionärin nachging, beharrt sie jetzt auf einer natürlichen Überlegenheit alles Russischen gegenüber der vermeintlich dekadenten, materialistischen Kultur Europas. Solche Ansichten belasteten zusätzlich die Beziehung zu dem weiterhin internationalistischen und pazifistischen Brupbacher, der sich schließlich 1916 von seiner Frau trennte. Über ihr weiteres Schicksal ist wenig bekannt.

So sehr die Geschichte der Ehe zwischen Brupbacher und Kočekova im Mittelpunkt des Buches steht, führt die Darstellung Husers darüber hinaus. Sie erlaubt nicht nur Einblicke in die strukturellen Schwierigkeiten der PSR, ihr Prestige auf der lokalen Ebene in politische Macht umzumünzen, sondern auch in den Alltag der medizinischen Praxis in der russischen Provinz. Sie beschreibt mit reichen Belegen eine Fallstudie aus dem Milieu der radikalen antizarischen Opposition und macht, jenseits der sattsam bekannten theoretischen Positionen, deren Mentalität und Ressentiments ein Stück weit sichtbar. In der Verknüpfung mit einer außergewöhnlichen Biografie besteht der Reiz dieses Buches, dem man trotz aller Längen mehr Leser als Rezensenten wünscht.

Andreas Renner, Köln


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