ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Avantgarde und Stalinismus waren Gegenpole: Die eine wurde vom anderen abgelöst, als der sowjetische Kommunismus eine neue, totalitäre Qualität erlangte. Das Jahr 1930 markiert den Scheitelpunkt einer vergleichsweise offenen Entwicklung in Architektur und Städtebau, welche bereits 1932 von einem rigiden "Traditionalismus" überholt wurde. Er seinerseits gipfelte in den dreißiger Jahren in einer behäbigen Prachtarchitektur, welche die Moskauer Gorkistraße in ihrem Erscheinungsbild radikal veränderte. Als Kulturexport rahmte dieser typisch stalinistische Monumentalismus fünfzehn Jahre später auch die Berliner Stalinallee ein, - heute als Visitenkarte der in Stagnation verharrenden deutschen Hauptstadtarchitektur.

Die Autoren der Technischen Universität Berlin haben mit ihren beiden Publikationen die bislang vorherrschende Sichtweise auf die sowjetische Baukultur der Zwischenkriegszeit wesentlich ausdifferenziert und damit einen bemerkenswerten Beitrag zur neueren europäischen Architektur- und Städtebaugeschichte geleistet. Der Text- und Bildband von Christiane Post über die avantgardistische Architektur der Moskauer Arbeiterklubs präsentiert radikal moderne Baudenkmale. Knappe Baubeschreibungen und eine vorzügliche Bebilderung in der Kombination von Grundriss-Schemen und Fotomaterial aus den zwanziger und neunziger Jahren erleichtern den Zugang. Arbeiterklubs waren dezentrale Bildungsinstitutionen, welche in der Tradition der großstädtischen Volkshäuser aus der Jahrhundertwende Versammlungs- und Begegnungsstätten der Arbeiterschaft wurden.

Im Gegensatz zur mitteleuropäischen Arbeiterkultur, die mit prinzipiell oppositionell angelegten proletarischen Institutionen Parallelstrukturen in einer dominierenden Bürgerlichkeit entfaltete,1 wurden die sowjetischen Arbeiterklubs von der kulturpolitischen Organisation der sowjetischen KP (namens "Proletkult") seit 1917/18 zentral geplant und damit zu einem Herrschaftsinstrument des Staates. Sie waren Erziehungszentren der Arbeiter, in denen diese von "vernünftigen Vergnügen" (S. 26) profitieren sollten. Arbeiterklubs wurden überwiegend im großstädtischen Umfeld wichtiger Industriebetriebe gebaut. Sie waren ein Mittelding zwischen Volkshochschule, Volkstheater und Arbeiter-Bildungsstätte, - immer unter dem Kuratel der Partei. Dennoch oder gerade wegen dieser engen Verbindung von Kultur und Politik wurden in den zwanziger Jahren eine Vielzahl unterschiedlicher Typen entwickelt. Hierbei reichte die Spannbreite von den Arbeiter- und Dorfklubs sowie den fortbestehenden Volkshäusern zu den Palästen der Arbeit(er) bis zu den Lenin-Häusern und den Gewerkschaftsklubs. Diese Bautypen werden von Post in einem ersten Teil systematisch beschrieben.

Es überrascht der ungeheure architektonische Reichtum, mit dem die zwischen 1927 und 1930 errichteten frühen Moskauer Arbeiterklubs aufwarten können. Sie wurden bisweilen von hochklassigen russischen Architekten wie Konstantin Melnikow in der Formensprache einer kompromisslosen El Lissitzky-Moderne errichtet und stellen heute mit das Beste dar, was es in Europa an erhaltenen Baudenkmälern aus dieser Hochzeit der Moderne zu bestaunen gibt, in ihrem Rang vergleichbar der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung oder dem Dessauer Bauhaus. Mit der detaillierten Beschreibung von zehn Arbeiterklubs kann Post im zweiten Teil ihres Buches zeigen, bis zu welchem Grade der vergleichsweise vorsichtige Avantgardismus der Bauhaus-Moderne in Deutschland übertroffen werden konnte. So zeigt die Innenansicht des Zuschauersaals im Arbeiterklub "Kautschuk" noch eine vergleichsweise gemäßigte Halbrundgliederung (S. 110-113), während der tribünenartig gestaffelte Zentralraum von Melnikows Rusakov-Klub als "ein subversiver Illusionismus" (S. 164) komponiert wurde und damit neue Grenzlinien für die Gestaltungspotentiale von Betonarchitektur zog (S. 150-168).

In Moskau entwickelten Architekten und Bauingenieure einen "neuen sozialistischen Bautyp", der in der Kombination einer symmetrischen "Großform" mit konstruktivistischen "Nutzungseinheiten" entstand. Multifunktionalität und die Verwendung industrieller Baumaterialien wurden ein Kennzeichen dieser Architektur. Allerdings blieb der Erfolg begrenzt. Zwar wurden zwischen 1929 und 1932 Finanzmittel für 500 Arbeiterklubs in der Sowjetunion bereit gestellt. Aber im Verlauf des ersten Fünfjahrplanes wurde die avantgardistische Klubhausarchitektur als "Formalismus" diskreditiert, wurde der Stil der Moderne politisch denunziert. Bereits gebaute Entwürfe wurden Anfang der dreißiger Jahre durch barockisierende Zutaten ihres luziden Charakters beraubt und in ihrer Außenwirkung auf schlechtes Durchschnittsniveau herab gewürdigt.

Die institutionen- und politikgeschichtlichen Rahmenbedingungen dieser retardierenden architekturhistorischen Entwicklung werden ausführlich in der von Harald Bodenschatz und Christiane Post herausgegebenen Überblicksdarstellung über den Städtebau der frühen Stalin-Ära aufgearbeitet, die als Teamwork aus einem an der TU-Berlin angesiedelten DFG-Forschungsprojekt hervorgegangen ist. Erstmals liegt nun eine gewichtige Monographie dieser Umbruchphase in der sowjetischen Architekturgeschichte vor. In einer Art Zeitenwende wurde die konzeptionelle Abkehr von der transkontinentalen Moderne der Zwischenkriegszeit irreversibel vollzogen.2 Wie die Autoren betonen handelt es sich um ein bislang zu wenig beachtetes kulturpolitisches Schnittfeld von Diktatur und Moderne. Erst durch die Aufwertung der stalinistischen Mehrgeschoss-Bauten in den neunziger Jahren als gleichwertige konzeptionelle Lösung von Großstadt-Architektur gewann dieses Forschungsfeld in der Kunst- und Architekturgeschichte an Bedeutung (S. 7-11). Sein interdisziplinärer Anspruch reicht allerdings in die Totalitarismus-Forschung hinein.3

Kann der Stalinismus als Wegbereiter einer abgeknickten Städtebau-Moderne gelten, die in dessen symbolischem Monumentalismus verändert fortlebte? Auf der Basis dieser strittigen These haben die Autoren die avantgardistischen Wurzeln im Pseudo-Traditionalismus der dreißiger Jahre gesucht, der mit überdimensionierten Straßenbreiten und wuchtigen Blockrand-Solitären das Erscheinungsbild des repräsentativen Moskau zu verändern begann. Sie wurden fündig in einem beeindruckenden Konglomerat sich überlagernder Städtebau-Debatten, welche eine "eigenständige Variante der Modernisierung der Großstadt im 20. Jahrhundert entwickelt haben" (S. 274), - so ihr Fazit.

Wegmarken waren einerseits die Abkehr von einer sich kompromisslos gerierenden Moderne in den Jahren 1930/31 und andererseits "die bedeutendste städtebauliche Debatte des 20. Jahrhunderts in Europa" (S. 279), die spätestens 1935 in die hauptstädtische Großplanung Moskaus einmündete. Das Besondere dieser konzeptionellen Gemengelage war es, dass sie durch den Zustrom ausländischer Experten, die zu mehr als zwei Dritteln aus Deutschland, aber auch aus den USA kamen, maßgeblich geprägt wurde. Dadurch gewann sie zeitgenössisch, wenngleich eigentlich nur für die Dauer eines Jahres, nämlich von Herbst 1930 bis Herbst 1931, eine konkurrenzlose internationale Bedeutung, welche die nationalen Städtebau-Diskurse Deutschlands, Italiens und der USA brennspiegelartig verdichtete. Gerade dieser Melting Pot-Effekt ist aufgrund verständlicher ideologischer Scheuklappen, die während des Kalten Kriegs die internationale kulturwissenschaftliche Forschung einengten, bislang noch nicht aufgearbeitet worden. Bodenschatz/Post weisen der sowjetischen Architekturgeschichte somit erstmals ihren europäischen Rang zu und sie ordnen darin nationale Diskurstraditionen kenntnisreich zu.

Die schon damals prominenten deutschen Stadtplaner Ernst May aus Frankfurt und Kurt Meyer aus Köln haben mit ihren gegensätzlichen städtebaulichen Vorstellungen diese Debatte maßgeblich geprägt. Während Ernst May als Verfechter einer kompromisslosen Moderne sowohl für die Neuplanung der Hauptstadt Moskau als auch für die neue Industriestadt Magnitogorsk am Ural dezentrale Siedlungszellen in Zeilenbauweise propagierte und damit vorübergehend große, wenngleich folgenlose Aufmerksamkeit in der sowjetischen Fachöffentlichkeit erregte, gewann Kurt Meyer mit seiner an Fritz Schumacher geschulten Kompaktplanung für Köln großen Einfluss auf die später realisierte moderate Stadtplanung Moskaus (S. 139-144).4

Gerade am Fallbeispiel der sowjetischen Hauptstadtplanung können die Autoren mit einer Fülle hervorragenden Bildmaterials den abrupten Übergang weg von der Avantgarde der Jahre 1929/30 zeigen, die funktionale Grundrisse in Wohnmaschinen plante, welche in weit ab vom Zentrum entfernten Trabantenstädten in konstruktiven Mustern angelegt werden sollten. Hier sollten Kommunehäuser entstehen, in welchen die Familienfunktionen auf das Schlafen in Kleinstwohnungen reduziert würden, während Essen, Kinderbetreuung und Freizeit zur Sache der Allgemeinheit gemacht werden sollten. Später realisiert wurde jedoch eine an den überkommenen Stadtgrundriss angelehnte Neubebauung, die primär ein großräumiges Verkehrsnetz und die monumentale innerstädtische Block-Einfassung umsetzte, zudem die Stadterweiterung mit dem historischen Siedlungskern verknüpfte. Ein überaus repräsentativer Metro-Bau in kühler, repräsentativer Sachlichkeit (S. 254-259) und eine kulturpolitisch überformte Landschaftsarchitektur, die im Gorki-Park archetypisch realisiert wurde (S. 166-170), sind weitere Stationen dieser Entwicklung.

Wie stark die sowjetische Städtebau-Debatte der frühen dreißiger Jahre international ausstrahlte, geht aus dem Umstand hervor, dass der Vierte Internationale Kongress für Neues Bauen in Moskau geplant war, aber dort nicht mehr abgehalten wurde, weil sich im Verlauf des Zweiten Fünfjahrplanes seit 1932 die städteplanerischen Parameter bereits vollständig verschoben hatten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde der Bedeutungsverlust Ernst Mays offenkundig, der im Jahr zuvor noch "als Künder der sozialistischen Stadt im Westen" (S. 111) aufgetreten war und so eine personifizierte histoire croisée abgab, ein Wanderer zwischen den Welten war, die im Vorhof ihrer Zukunft als totalitäre Gewaltregime ungeheuer produktiv waren.

Bodenschatz/Post lassen die gesamte Creme der europäischen Architektur-Moderne in den Debatten über Moskau und Magnitogorsk zu Wort kommen, angefangen von Le Corbusier über Walter Gropius und Siegfried Gideon (S. 112f.) bis hin zu den sowjetischen Exponenten eines diskursiv aktiven Städtebaus (Krasin, VOPRA-Gruppe, S. 147-150), die schließlich im Zeichen eines Massenkonsums und der breiten Akzeptanz behäbiger ästhetischer Richtlinien das repräsentative Stalin-Moskau bauten, das wir noch heute vorfinden können.

Moskau wurde in den dreißiger Jahren zu einem frühen Experimentierfeld überlegter Totalsanierung der Altstadt, welche bisweilen Staunenswertes vollbrachte, wenn mit hochartifiziellen technischen Mitteln die Verschiebung von historischer Bausubstanz an der Gorkistraße umgesetzt wurde, um den Abriss zu vermeiden. Auch in der Sanierung waren die Sowjets moderner als man es lange im Westen wahrnehmen wollte, wenngleich sozialistische Sanierung dennoch überwiegend auf den Totalabriss hinaus lief (S. 183), etwa im Falle des Sucharev-Stadturmes, welcher der Ringstraßen-Verbreiterung geopfert wurde (S. 226f.). Sie orientierte sich an der geglückten Stadtsanierung Roms (S. 132), aber nur indirekt an deutscher Stadtplanung, die zu sehr am Überkommen festzuhalten schien, wenngleich vermittelt über die Person Kurt Meyer der Kölner Städtebau Adenauers die Planungsgeschichte Moskaus entscheidend beeinflusst hat, - eine bemerkenswerte, ironische Volte der Geschichte.

Mit den Architekturplanungen für den Palast der Sowjets, einem über vierhundert Meter hohen Turmhausbau mit monumentaler Leninfigur-Bekrönung (S. 174), und für übergroße Verwaltungsbauten am Roten Platz (S. 220-222) erreichte der Stalinismus Mitte der dreißiger Jahre gigantomanische Ausmaße, einen "Schub in Richtung hypertropher Monumentalisierung des Städtebaus" (S. 175). In diesem Grenzbereich zur Utopie der Bilder, zur schnellen Architekturzeichnung des träumenden Planers leistet das zuverlässige Bildmaterial des im Übrigen außergewöhnlich gut gestalteten Bildbandes Hervorragendes, etwa wenn als historisierende Variante des Sowjetpalastes ein italianisierender Dogenpalast-Entwurf samt Lenin-Campanile abgebildet wird (S. 173). Damit kann schlaglichtartig einerseits die intensive Verbindung zum italienischen Städtebau der zwanziger Jahre belegt werden und andererseits der Nachhall einer überraschenden konzeptionellen Offenheit, welche den historischen Ort des sozialistischen Architektur-Symbolismus in seinen europäischen Bezügen neu bestimmen hilft.

Auch der Vergleich der Monumentalarchitekturen mit den utopischen Speer/Hitler-Planungen für Berlin wird durch die Monographie erleichtert. Hier zeigt die populäre Ausstellungsdidaktik bisweilen einen voyeuristischen, geradezu fatalen Hang diese Pappmache-Träumereien als mentale Dauerpräsentation deutscher Architekturgeschichte zu nutzen und damit nicht nur grandios überzubewerten, sondern sie auch implizit nachträglich zu legitimieren, aber die Leistungen der deutschen Architektur-Moderne aus den zwanziger und dreißiger Jahren dahinter zu verstecken. Nach der Lektüre des Bandes von Bodenschatz/Post drängt sich der Eindruck auf, Hitlers Planungen seien als ein zeitgenössisches Plagiat der bereits in den dreißiger Jahren publizierten Moskauer Entwürfe (S. 186f.) zu bewerten. Zumindest relativiert die Chronologie den Stellenwert der NS-Architektur als hohle Wiederholungs-Pose, die im Übrigen in Deutschland folgenlos blieb, - ganz im Gegensatz zur NS-Stadtplanung.

Damit sind zentrale Vergleichsperspektiven, europäische und nationale, genannt, welche den Band von Bodenschatz/Post auszeichnen. Nach dem zweibändigen Werk von Durth, Düwel und Gutschow über den frühen Städtebau der DDR5 liegt damit erneut eine hervorragende Studie über eine Schnittstelle europäischer Stadtbau-Entwicklung vor. Es erübrigt sich beinahe, solche Pionierstudien auch für die Bundesrepublik in ihrer langen Wiederaufbau-Periode der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzufordern.

Georg Wagner-Kyora, Hannover/Halle


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