Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ,,Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Akademie Verlag, Berlin 2003, 402 S., geb., 49,90.
Der Erste Weltkrieg erfreut sich einer anhaltenden Konjunktur nicht nur in der (jubiläums-) interessierten Öffentlichkeit, sondern auch in der historischen Forschung. Nachdem lange die Stimmungsentwicklung der Bevölkerung sowie die Muster der kollektiven Wahrnehmung und Sinndeutung des Krieges im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben, stellt die Bielefelder Dissertation von Steffen Bruendel über die ,,Ideen von 1914" gewissermaßen eine Volte rückwärts zur politischen Ideengeschichte dar. Denn trotz aller einleitenden Bemühungen um eine kulturalistische Konzipierung des Themas geht es hier doch wesentlich um eine eher traditionell angelegte Darstellung und Analyse der im Krieg von deutschen Gelehrten entwickelten Vorstellungen über die politische Neugestaltung Deutschlands. Das muss indes keineswegs ein Manko sein, denn der Erste Weltkrieg wirkte in Deutschland wie in allen anderen beteiligten Ländern als machtvoller Katalysator nationalpolitischer Sinndeutungen und Zukunftsentwürfe. Der wichtigste Erkenntnisgewinn der vorliegenden Arbeit liegt zweifellos in der klar und überzeugend herausgearbeiteten Differenzierung zwischen inklusiven und exklusiven Konzeptionen der nationalen Einheit.
Im Zeichen des ,,Burgfriedens" von 1914 wurden, zumindest dem Anspruch nach, alle Teile der Bevölkerung in die kriegspolitische nationale Einheitsfront integriert, und die daraus abgeleitete Formel der innenpolitischen ,,Neuorientierung" zielte dementsprechend auf politische Reformen, die einer solchen, alle sozialen, politischen, regionalen und religiösen Gruppen umfassenden nationalen Einheit Dauer verleihen sollten. Der radikale Nationalismus der zweiten Kriegshälfte dagegen wandte sich nicht nur gegen die äußeren Kriegsgegner, sondern er beschwor auch (erneut, wie man einfügen möchte) innere Feindbilder und grenzte große Bevölkerungsteile in aggressiver Weise aus der nationalen Einheit aus. Seine der 1917 gegründeten Vaterlandspartei nahe stehenden Vertreter waren nicht mehr im traditionellen Sinne konservativ; sie propagierten vielmehr einen antidemokratisch-korporatistisch konzipierten, autoritären Staat, dessen verschwommene, völkisch begriffene Modernität den Kampf gegen den ,inneren Feind', vor allem gegen Sozialisten und Juden, in den Mittelpunkt der Politik rückte.
Auch wenn die Unterscheidung zwischen inklusivem und einem exklusivem Verständnis der nationalen Einheit insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis zwischen den ,,nationalen Erhebungen" von 1914 und 1933 nicht ganz neu ist, kann Bruendel doch in überzeugender Weise herausarbeiten, wie machtvoll sich die intime Verbindung von der Beschwörung nationaler Volksgemeinschaft mit der rigorosen Stigmatisierung und Bekämpfung ,innerer Feinde' bereits im radikalen Kriegsnationalismus der Jahre 1917/18 ausgeprägt hat. Ein weiterer Vorzug seiner Arbeit liegt in der differenzierten Behandlung einzelner Motive, Gruppierungen und Autoren im Zusammenhang der politischen Neuordnungsdebatte des Ersten Weltkrieges. Darüber hinaus ist der Ertrag der vielfach hoch gelobten Studie allerdings auch zwiespältig zu sehen, insbesondere wenn man ihn an den selbst entworfenen Ansprüchen misst.
Folgt man Bruendel, so sind die ,,Ideen von 1914" bisher vor allem in moralisierender Weise als irrationale, präfaschistische Verirrungen abqualifiziert worden, deren ,,begrifflich rekonstruierbaren rationalen Kern" es nun endlich werturteilsfrei und streng kategorial aufzuzeigen gelte. Die bisherige Forschung zeichne sich generell durch unscharfe Bestimmung des Gegenstandes und seiner Trägergruppen sowie durch eine ,,unzureichende formale und zeitliche Differenzierung der untersuchten Quellen" (S. 18) aus. Doch abgesehen davon, dass es sich bei Gegenstand und Quellenauswahl oft eher um ein Problem der Fragestellung handelt, weist Bruendels Ausweg, die Konzentration auf die Kriegsschriften der politisierenden Hochschullehrer, fürwahr seine eigenen Beschränkungen auf. Welchen Sinn etwa kann es machen, den ,,Volksstaat" zu einem von zwei leitenden Begriffen zu erheben, wenn gleichzeitig die ihn zuallererst propagierenden Sozialdemokraten mit den Exklusionsmechanismen des Kaiserreichs aus dem Untersuchungsfeld ausgeschlossen werden? Auch zentrale Begriffe der gesellschaftspolitischen Neuordnungsdebatte wie ,,Gemeinwirtschaft" und ,,Kriegssozialismus" geraten damit an den Rand der Betrachtung. Und warum überhaupt die Beschränkung auf einen kleinen Kreis von Gelehrten obwohl sie doch auf dem politischen Massenmarkt des Kaiserreichs längst ihre exklusive Rolle als gesellschaftliche Sinndeuter und politische Wegweiser verloren hatten, die sie so gerne wieder spielen wollten? Die sozialgeschichtlich hochinteressante Frage indes, warum ihr Versuch, in die Rolle der modernen Mandarine zurückzuschlüpfen, im Krieg eigentlich so grandios gescheitert ist, bleibt indes außerhalb des ideengeschichtlich begrenzten Betrachtungsrahmens.
Großen Wert legt Bruendel darauf, die ursprünglichen ,,Ideen von 1914" vom Vorwurf des Präfaschismus zu befreien. Doch der engagierte Versuch, sie werturteilsfrei in ihrem historischen Eigenwert zu rekonstruieren, gerät unter der Hand schnell zur Apologie. Waren die Gelehrten beim Entwurf ihrer Zukunftsprogramme wirklich geprägt ,,von der Bedrohung durch eine ,Welt von Feinden'" (S. 136)? Allerhöchstens doch wohl von dem Eindruck einer solchen. Und auch das muss angesichts der in aller Öffentlichkeit ventilierten deutschen Kriegsziele höchst zweifelhaft erscheinen. Zweifellos waren die deutschen ,,Ideen von 1914" im Vergleich zu den universalistischen Wertvorstellungen der westlichen Kriegsgegner (Freiheit, Demokratie) eher selbstreferentiell. Doch die Betonung, sie seien außenpolitisch nur diffus gewesen und hätten, geprägt von einer defensiven Grundhaltung, kaum einen missionarischen Anspruch beinhaltet, ist nur haltbar, wenn die werturteilsfrei-kategoriale Deutung den Kontext des Krieges ausblendet. Bezieht man diesen Kontext mit ein, waren die ,,Ideen von 1914" keine rationalen oder irrationalen Entwürfe für die innere Neugestaltung Deutschlands, sie waren Kriegsideologie, Sinnstiftung des ,,heiligen deutschen Krieges", zutiefst verbunden mit dem Projekt einer im Krieg vorbereiteten, deutsch bestimmten Zukunft Europas.
Bisher sind die ,,Ideen von 1914" dabei zugleich als Gegenpol zu 1789 interpretiert worden, zur revolutionär konstituierten bürgerlichen Gesellschaft, gegen die die deutschen ,,Kulturkrieger" im Ersten Weltkrieg zu Felde zogen. Aus Bruendels nachvollziehender Perspektive dagegen nimmt sich das ganz anders aus: ,,Sie bedeuteten vielmehr deren Aufhebung in einer höheren Kultussynthese. Im neuen Deutschland sollte die ,deutsche' Freiheit als Gemeinwohlorientierung freier Bürger herrschen, die kameradschaftliche ,,Gleichheit des Dienstes" (Johann Plenge) die sozialen Unterschiede relativieren, ein brüderlicher, weil ,,nationaler Sozialismus" sollte die Mitbestimmung vor allem im ökonomischen Bereich gewährleisten (S. 139). Was für eine märchenhafte, aus der Mobilmachungseuphorie von 1914 abgeleitete Zukunftsvision: keine inneren Konflikte mehr, keine politische Zerrissenheit, schon gar keine Klassenkämpfe, das deutsche Volk in trauter Eintracht, korporativ gebunden und doch ganz modern geleitet durch ,,eine spezifisch kommunitär ausgerichtete inklusive Ordnungsidee" (S. 141). Gerade weil der Autor die sozialdemokratischen Verfechter einer innenpolitischen ,,Neuorientierung" ausblendet, entgehen ihm wichtige Auffassungsunterschiede dieser ,,Neuorientierung".
Doch wie auch immer die Protagonisten der ,,Ideen von 1914" den geschichtsphilosophischen Anspruch einer synthetisierenden Überwindung der vermeintlich rein destruktiven Freiheitsideale von 1789 in einer deutsch bestimmten Zukunft begründet haben: Die völlige Gegensätzlichkeit dieser im besten Fall naiven, in ihrer Realisierung mit innerer Notwendigkeit autoritären Utopie zum Pluralismus der modernen bürgerlichen Gesellschaft - bei den westlichen Kriegsgegnern wie in Deutschland selbst - bleibt unübersehbar, wenn man nur, auch dies ein durchaus wissenschaftlicher Anspruch, ein wenig kritische Distanz zum Gegenstand wahrt.
Im weiteren Verlauf arbeitet Bruendel vor dem Hintergrund der Auflösung des Burgfriedens kompetent und klar die zunehmende Polarisierung der politischen Neuordnungsentwürfe heraus, in denen er inhaltlich zugleich grundlegende Weichenstellungen für die bürgerliche politische Kultur der Weimarer Republik erkennt: die vorsichtige, gewissermaßen ,vernunfrepublikanische' Öffnung der liberalen Professoren zur demokratisch-konstitutionellen Leitidee auf der einen, insbesondere aber die bereits angesprochene Entwicklung einer exklusiven, innere Feinde beschwörenden, aggressiv antidemokratischen Vorstellung nationaler Einheit und Geschlossenheit im konservativen Lager der Gelehrtenschaft auf der anderen Seite. Etwas zu kurz kommen dabei allerdings die jenseits aller Konflikte immer noch feststellbaren Gemeinsamkeiten der ,,Ideen von 1914", neben dem gemeinsamen Glauben an einen deutschen Sieg etwa eine distanzierten Haltung zum ,westlichen' Parlamentarismus wie zur offenen Austragung sozialer Konflikte. Und wenn Bruendel abschließend allein dem radikalnationalistischen Korporatismus präfaschistische Qualitäten zuspricht, die ,,Ideen von 1914" insgesamt aber politisch neutral als eine ,,irreversible Delegitimierung der alten Ordnung" (S. 313) interpretiert, so ist dem nicht nur entgegenzuhalten, dass diese Ideen zeitgenössisch wohl doch weit mehr ein (letzter, scheiternder) Versuch der Identifikation mit eben dieser alten, kriegsideologisch verklärten Ordnung waren. Vielmehr stellt sich auch die Frage, ob nicht die vermeintlich moralisierende, tatsächlich aber umfassendere gesellschaftsgeschichtliche Interpretation der Kriegsideologie weiter trägt als die reine Ideengeschichte. In diesem Licht erscheinen die ,,Ideen von 1914" jenseits eindimensionaler Kontinuitäten vor allem als ein deutlicher Ausdruck dafür, wie distanziert das Verhältnis großer Teile der intellektuellen (und anderer) Eliten des Kaiserreichs zur modernen bürgerlichen Gesellschaft, zu sozialen Konflikten, pluralistischen Interessen und politischer Demokratie tatsächlich war. Wer dies in historischer Perspektive mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus verbinden mag, der sollte sich von den neuen Hütern angeblich (str)enger Objektivität auch weiterhin nicht davon abhalten lassen.
Wolfgang Kruse, Hagen