ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Schafranek/Johannes Tuchel (Hrsg.), Krieg im Äther. Widerstand und Spionage im Zweiten Weltkrieg, Picus Verlag, Wien 2004, 367 S., geb., 26,90 €.

Der Zweite Weltkrieg wurde nicht nur mit militärischen und propagandistischen Mitteln geführt. Es gab auch geheime, gewissermaßen unsichtbare und unterirdische Fronten, an denen der NS-Staat und seine Kriegsgegner einander bekämpften. Spionage, Spionageabwehr, Diversion und Sabotage spielten in oftmals enger Verbindung eine wichtige Rolle und verfolgten das Ziel, die militärische und wirtschaftliche Kraft der anderen Seite zu schädigen oder - durch den Vorsprung an Informationen - wenigstens zu verringern. Nicht selten bedienten sich die Akteure der Mitarbeit von Widerstandskreisen, aber auch von Überläufern, Deserteuren oder von gefangenen Agenten der Gegenseite, die man mit massiven Mitteln zum Verrat zwang. Irreführend ist der Titel des Buches insofern, als die Beiträge sich keineswegs auf die durch Funktechnik praktizierte Spionage und Diversion beschränken, sondern auch Fälle behandeln, in denen Personen direkt im gegnerischen Gebiet eingesetzt wurden. Ebenfalls einbezogen werden staatliche Apparate, die solche Einsätze auf der einen Seite organisierten und auf der anderen verfolgten.

In vierzehn Einzelbeiträgen über weitgehend unbekannte Fälle und Einzelaspekte decken die beiden Herausgeber, Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, und der Wiener Historiker Hans Schafranek, dieses ungemein vielfältige Themenspektrum ab. In ihrer Einleitung skizzieren sie die wesentlichen Kategorien von Gruppen, um die es hier geht. Eine besondere Stellung nahm hier der innerdeutsche Widerstand an, der sich teilweise des Mittels des Verrats und der Spionage zugunsten der Kriegsgegner bediente. Die Gruppe ,,Rote Kapelle", so Peter Steinbach in seinem Beitrag über die verschiedenen Widerstandsformen von außen, stellt eines der bekanntesten Beispiele dieser Art dar und sollte ebenso dem Widerstand zugerechnet werden wie die Gruppe von Fallschirmagenten während des Krieges, bei denen es sich um deutsche Kommunisten handelte, die von den Sowjets in deutschen Uniformen mit gefälschten Papieren über dem Reichsgebiet abgesetzt wurden, um Kontakte zu Widerstandskreisen aufzubauen oder fortzusetzen und zugleich Spionage- und Diversionstätigkeiten zu organisieren (Vladimir Chaustov). Dass sowohl diese Fallschirmeinsätze als auch die Aktivitäten der Widerstandszellen meistens von der Gestapo aufgedeckt wurden und für die überwiegende Zahl der Beteiligten tödlich endeten, wissen wir vom Beispiel der ,,Roten Kapelle". In seinem Beitrag schildert Hans Coppi, übrigens ein Sohn des gleichnamigen Mitglieds dieser Gruppe, die Versuche des Reichssicherheitshauptamtes, mit Hilfe einiger durch Folter und Zwang umgedrehter Widerstandskämpfer seinerseits die von sowjetischer Seite unterstützten Widerstands- und Spionagenetze zu zerschlagen, wobei der von den Sowjets sträflich vernachlässigte Quellenschutz eine wesentliche Ursache für das Scheitern dieser Gruppen war.

Sowohl die sowjetischen Spionage- und Geheimdienstapparate als auch entsprechenden Dienste des NS-Staates werden untersucht, wobei der Zusammenhang zur Gesamtthematik manchmal ein nur weitläufiger ist. Wolfgang Neugebauer skizziert Organisation und Effizienz des NS-Terrorsystems in Österreich während des Krieges, während ein anderer Beitrag die Nachrichtendienste von Gestapo, SD und Abwehr beleuchtet (Franz Weisz) und ein weiterer die Rolle der Abwehrstelle Prag gegen alliierte Nachrichtendienste (Stanislav Koko_ka). Etwas zu detailliert schildert dagegen ein Aufsatz die Struktur der sowjetischen Nachrichtendienste und ihre häufigen bürokratischen Reorganisationen während des deutsch-sowjetischen Krieges (Nikita Petrov). Durch seine trockene Darstellung ist es dem Verfasser gelungen, eine sonst höchst spannende Materie von der Lektüre her ungenießbar zu machen.

Ergänzend zu den deutschen und sowjetischen Diensten geht Jan Foitzik auf die Deutschland-Aktivitäten des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS, der Vorläuferorganisation der CIA, und seines britischen Partnerdienstes in den Jahren 1944/45 ein. Bekanntlich arbeiteten die Sowjets in starkem Maße mit deutschen Kommunisten zusammen, aber auch die Westmächte griffen auf die Mitarbeit deutscher Emigranten meist sozialdemokratischer und linkssozialistischer Couleur zurück. Allein das britische Intelligence Corps hatte etwa 450 Emigranten verpflichtet, im OSS waren 37 tätig und 55 in anderen amerikanischen Geheimdienststellen, wobei die Dienste der beiden Westalliierten eng zusammenarbeiteten und gleichermaßen gemeinsam die Mitwirkung von exilierten Hitlergegnern in Anspruch nahmen. Sie befassten sich nicht nur mit Planungen für Nachkriegsdeutschland, sondern versuchten bereits vor Kriegsende politische Strukturen vorzubereiten. So hatte der am 1. September 1944 bei Papenburg mit dem Fallschirm abgesetzte frühere ISK-Funktionär Jupp Kappius den Auftrag, wieder ein Netz von ISK-Gruppen zu knüpfen. Dies war der erste von insgesamt 38 erfolgreichen Einsätzen.

Besonders lesenswert ist der Beitrag von Hans Schafranek über das Unternehmen ,,Nordpol" (auch bekannt als ,,Englandspiel"), mit dem die deutsche Abwehr in den besetzten Niederlanden angeblich im Namen niederländischer, für das Vereinigte Königreich arbeitender Funk- und Fallschirmagenten einen ,,Dialog" mit der britischen Seite führte, um durch Folter, List und Täuschung die Preisgabe weiterer Agenten zu ermitteln. Diese Methode war in den Jahren 1942-1944 durchaus erfolgreich, wobei die sträfliche Nachlässigkeit der britischen Seite viele der mit ihr zusammenarbeitenden niederländischen Akteure der Gestapo in die Arme trieb. Von 72 Namen, die Schafranek hier auflistet, überlebten nur elf den Krieg; ein Agent verunglückte tödlich, einer starb nach Kriegsende in Mauthausen und ein Fall ist ungeklärt. Drei wurden hingerichtet, alle übrigen wurden in deutscher Haft ermordet. Von den niederländischen Kollaborateuren der Gestapo, die beigetragen hatten, ihre Landsleute ans Messer zu liefern, wurden zwei nach dem Kriege zum Tode verurteilt und hingerichtet, zwei weitere erhielten langjährige Haftstrafen, ein fünfter beging in seiner Gefängniszelle Selbstmord. Die beiden deutschen Hauptakteure in diesem schmutzigen Spiel wurden nach dem Kriege zwar kurzfristig inhaftiert, aber nicht angeklagt und anschließend mühelos entnazifiziert, sodass sie in ihr früheres Berufsleben zurückkehren konnten.

Man weiß, dass im Kriege die neutralen Länder in Europa, aber selbst in fernen Weltgegenden, wichtige Operationsbasen von Nachrichtendiensten bildeten. Portugal, die Schweiz, Schweden, aber auch einige Länder in Asien, boten Raum für ,,Nachrichtenbörsen" und Möglichkeiten für Kontakte zur Gegenseite. Mehrere Beiträge des Sammelbandes gehen auf die Rolle sowjetischer Spionagedienste bzw. ihrer ausländischen, vor allem deutschen Mitarbeiter in der Schweiz (Peter Huber), in Schweden (Michael F. Scholz) sowie in China und Persien (Peter Erler) ein.

Die Thematik hatte in einigen Fällen ein skurriles Nachspiel in der Nachkriegszeit. Einerseits wurde manchen Akteuren von Seiten der Sieger wenig gedankt, sodass sie oft mühsam um ihre Anerkennung als Antifaschisten kämpfen mussten. Andere dagegen wurden von der DDR zu Helden hochstilisiert, so der mit der Roten Kapelle zusammenarbeitende Fallschirmagent Albert Hößler, der während des Krieges gefasst und von der Gestapo ermordet worden war. In seinem überaus spannenden Beitrag schildert Johannes Tuchel, wie sehr sich das Ministerium für Staatssicherheit zwischen 1966 und 1989 um die Biographie Hößlers kümmerte und aus Gründen einer Traditionspflege für die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit im Geheimdienstbereich an seiner Legende strickte. - Den Abschluss des Bandes bildet der Vortragstext eines Zeitzeugen (Kurt Hälker), der noch im März 1945 von den Amerikanern als Fallschirmagent in Frankreich ausgebildet wurde, aber infolge des Kriegsendes nicht mehr zum Einsatz kam.

Abschließend stellt sich der Leser die Frage, wie weit der geheimdienstliche Einsatz den Kriegsgegnern auf beiden Seiten wirklich genützt und militärische Abläufe entscheidend beeinflusst hat. Gewiss, mancher Kenntnisvorsprung konnte strategisch präventiv genutzt werden, mancher Verrat von Informationen aus dem Rüstungsbereich mag der gegnerischen Seite wichtige technische und taktische Vorteile verschafft haben. Ob aber der gesamte Sektor des Untergrundkrieges den Kriegsverlauf entschieden hat, lassen die Beiträge des Sammelbandes, für den man sich allerdings dringend ein Personenregister gewünscht hätte, größtenteils unbeantwortet. Was vor allem in Erinnerung bleibt, sind die vielen, von beiden Seiten in Kauf genommenen Opfer, deren Einsätze hinsichtlich ihres Sinnes und Nutzens zu hinterfragen wären. Dieser interessante Sammelband sollte trotz der Dramatik des Untergrundkrieges und seiner spannenden Details eher nachdenklich stimmen.

Patrik von zur Mühlen, Bonn


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