ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Band I: Aufstieg, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, 752 S., Ln., 39,90 €.

Die Zeiträume werden kürzer, die ihnen gewidmeten Bücher länger. Bedeutsamkeit, so mag es scheinen, verleihen nicht die schmalen, zupackenden, die Befunde pointierenden Synthesen, sondern die großen, die ausladenden Erzählungen: papierne Denkmäler, mit denen Historiker diesseits und jenseits der Grenzen Anerkennung und Prominenz, wohl auch Nachruhm zu gewinnen trachten. Das reicht von der ,,Deutschen Gesellschaftsgeschichte" über den ,,langen Weg nach Westen" bis zu ,,Hitler". Nun also das ,, Dritte Reich", angelegt auf drei Bände von je 750 Seiten, versehen mit lapidaren Titeln: ,,Aufstieg", ,,Diktatur", ,,Krieg". Verantwortlich dafür zeichnet Richard J. Evans, im Vereinigten Königreich einer der renommiertesten Deutschlandhistoriker aus der Generation der Mitfünfziger, hervorgetreten mit profunden sozialhistorischen Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, meinungsstark und ohne Scheu, gegen den Stachel modischer Theoriediskurse zu löcken. Entgegen der pompösen Ankündigung des Verlags (,,epochale Gesamtdarstellung") formuliert der Autor wohltuend nüchtern. Er will, belehrt uns die leicht seminaristisch anmutende Einleitung, in Erfahrung bringen, fast ist man geneigt, mit Ranke zu sagen: ,wie es eigentlich gewesen ist'. Er möchte ,,verstehen", nicht moralisieren, die Denk- und Werthorizonte der Epoche entschlüsseln, zielt auf Rekonstruktion der Kontexte, will, wie heute die geläufige Formel lautet, ,historisieren': ,,Wir müssen uns", schreibt Evans, ,,in die Köpfe der Nationalsozialisten selbst hineinversetzen. Wir müssen herausfinden, warum es ihren Gegnern nicht gelang, sie aufzuhalten. Wir müssen Charakter und Funktionsweise der nationalsozialistischen Diktatur erfassen." Adressaten solchen Engagements sind neugierige, an Aufklärung interessierte Leser, nicht jedoch die Fachleute, die Zunftgenossen, denen in der Tat kaum Neues geboten wird. Entsprechend anschaulich und unprätentiös ist das Buch geschrieben, es steckt voller Geschichten, in denen ,die Geschichte' sinnfällig wird: ein mit Bedacht gewähltes Verfahren, das den ,,einzelnen Menschen" wieder ins Blickfeld rücken soll. Das ist ein sympathischer Zug, mag populäre, auch emotionale Bedürfnisse befriedigen, hätte aber hier und da ein paar erläuternde Worte verdient: Warum zum Beispiel so häufig Victor Klemperer? Wofür steht er, für den gebildeten Bürger, den assimilierten jüdischen Gelehrten, der sich in den 20er Jahren fortwährend benachteiligt wähnt? Ist er, der Tagebuchschreiber mit einem Hang zu obsessiver, hypochondrischer Selbstreflexion , eine repräsentative Figur oder liefert er, weil so bequem greifbar, nur relativ beliebige Illustrationen für dies und das?

Ein ambitioniertes Projekt wie dieses bedarf offenbar eines ebenso ambitionierten ersten Satzes: einer Duftmarke, die signalisiert, dass man sich mit der Konkurrenz auf Augenhöhe weiß. Seit Jahren nämlich werden wir mit Anleihen aus der Genesis traktiert, was längst jeden Charme und alles Überraschungsmoment verloren hat, hier indes unverdrossen noch einmal bemüht wird: vielleicht eine Verbeugung vor Thomas Nipperdey: ,,Am Anfang war ..." nun ja, war Bismarck, eine, wie wir hören, ,,Schlüsselfigur für die Vorgeschichte des Dritten Reichs". Gewiss, der Nationalstaat, der zwischen 1864 und 1871 entsteht, ist das Gefäß auch der späteren Diktatur, und ebenso gewiss ist, dass den Nationalsozialismus vielfältige Fäden der Kontinuität mit dem 19. Jahrhundert verbinden. Sie gehören zum ,,Vermächtnis der Vergangenheit". Von ,,Sonderweg", einer mittlerweile obsolet gewordenen Denkfigur, spricht Evans nicht, dafür umso detaillierter von ,,deutschen Besonderheiten": von den Defiziten an demokratischer Tradition und Gesinnung, vom Obrigkeitsstaat, von der Armee und ihrem gleichsam extrakonstitutionellen Status, von der Deformation des Liberalismus und der Radikalisierung des Nationalismus, von den völkischen, antisemitischen Parolen und Gruppierungen, den ,,Propheten des Hasses", deren Phantasmagorien bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, von der ,,lautlosen Diktatur" der Dritten Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff, eine seltsam schiefe und recht umstandslos benutzte Metapher, schließlich von den ,,Ideen von 1914", die jedoch blass bleiben, durch intensivere Lektüre der zeitgenössischen Publizistik (etwa Ernst Troeltsch in der ,,Neuen Rundschau" von 1916) schärfer hätten konturiert werden können. Immerhin und unabdingbar: ,,Der politische Mahlstrom, aus dem schließlich der Nationalsozialismus hervorgehen sollte, war schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in heftigster Bewegung."

Keinen Zweifel lässt der Autor an der fundamentalen Bedeutung der Jahre zwischen 1914 und 1918. Sie markieren die eigentliche Zäsur, drängen das zuvor Latente, noch nicht voll Entfaltete mit Macht an die Oberfläche. Insofern hätte es als Auftakt gut und gern heißen können: ,,Am Anfang war der Krieg". Die beispiellosen Erfahrungen in den Schützengräben, das namenlose Elend der Daheimgebliebenen, die preisgegebenen Witwen, vaterlosen Kinder, die Verstümmelten, die vergeblich gebrachten Opfer, der Absturz von den Höhen der Siegeserwartung in die Abgründe der Niederlage, Revolution und Gegenrevolution, die fortdauernde Gewalt in den Köpfen und auf den Straßen, als ob der Krieg nur Atem schöpfte: Dies alles tritt mit der nötigen Plastizität hervor. Der Versailler Vertrag, der die Erwartungen auf einen maßvollen Frieden enttäuschte, und eine im Ergebnis konfiskatorische Wirtschaftspolitik, die sich in den Strudeln der Inflation verlor, unterspülten die Fundamente der demokratischen Ordnung, entzogen ihr die Legitimation, noch ehe sie davon hätte profitieren können. Die ohnehin verstörte Gesellschaft durchzogen tiefe weltanschauliche, intellektuelle und milieuspezifische Bruchlinien, die mit dem Wort ,,Kulturkriege" treffend charakterisiert sind. Über das dahingeworfene Apercu, wonach die ,,Weimarer Kultur von Mord und Greueltat, Ausschweifung und Verbrechen geradezu besessen" gewesen sei, sollte man allerdings den Mantel des Schweigens breiten. Die generationelle Dimension, die sich in den zunehmend schärfer werdenden Konflikten sichtbar macht, in der neueren Forschung zudem auf starkes Interesse stößt, wird zum Schaden der Analyse nur gestreift. Hier hätte mehr gesagt werden können als nur ein karger Satz, der mit einem von Michael Wildt ausgeborgten Begriff die zwischen 1900 und 1914 Geborenen zur ,,Generation des Unbedingten" erklärt, die ,,zu allem bereit" gewesen sei. Das ist zwar einprägsam formuliert, wird aber von dem, was wir bislang darüber wissen, bei weitem nicht gedeckt.

Wenig plausibel fällt die Würdigung des Weimarer Sozialstaates aus. Richtig ist, dass es außerordentlich schwer war, geweckte Erwartungen und berechtigte Ansprüche zu befriedigen, im Dickicht der organisierten Interessen notwendige Maßnahmen zur Geltung zu bringen. Aber die Wohlfahrtsbehörden schlankweg zu Instrumenten ,,staatlicher Diskriminierung und Überwachung" zu stempeln, ihnen wachsende Neigung zu rassehygienischen Lösungen zu attestieren, schießt über das Ziel hinaus. Einen Hinweis auf die Finanzierbarkeit des sozialen Systems, in Zeiten der Krise zumal, eine Auseinandersetzung mit der These, die Sozialpolitik habe die Ressourcen und Kräfte der Wirtschaft überdehnt, habe damit zum Scheitern der parlamentarischen Demokratie beigetragen - dies sucht man vergebens. Immerhin, damit ist die unmittelbare Vorgeschichte, sind die Rahmenbedingungen erreicht, in die der Aufstieg Hitlers und der NSDAP eingebettet ist. Präsentiert werden das Führungspersonal und die Konstellationen, in denen es sich bewegte: das nationale Deutschland, die traditionellen Eliten und die jungen Intellektuellen von rechts, die hofften, im Bunde mit den Nazis Einfluss, Statur und Herrschaftspositionen gewinnen zu können. Etwas mehr über die vielgestaltige Szenerie auf der Rechten zu hören, über die Verstrebungen, auch die Konflikte dort, wäre zwar hilfreich gewesen, ist aber zu verschmerzen: auch im Blick auf die dichten Kapitel, die dem Weg zur Kanzlerschaft, den Wochen und Monaten der terroristischen ,Ergreifung', Konsolidierung und Stabilisierung der Macht gewidmet sind. Hervorstechend dabei sind nicht nur die Mordgelüste und Beuteinstinkte der Partei und ihrer Gliederungen, ist nicht nur die Gewalt, die sich ungehemmt und von oben gefördert austobt, sondern auch die Zustimmung, mit der die Mehrheit der Bevölkerung die Exzesse hinnimmt, zuschaut, applaudiert, fasziniert und überwältigt ist, was hier nur angedeutet, in den beiden Folgebänden der Trilogie vermutlich breiteren Raum erhalten wird. Die in diesem Zusammenhang geäußerte These, dass im Sommer und Herbst 1932 die einzige Alternative zu Hitler eine Militärdiktatur gewesen sei, ist eine Spekulation auf das, was gewesen wäre, wenn... Sie ist nicht ohne Reiz, muss sich aber mit der Tatsache abfinden, dass die Reichswehr dazu weder bereit noch in der Lage gewesen ist. Am Schluss, im Abspann geht es - auch - um die begriffliche Bündelung dessen, was sich 1933 vollzieht, in jener kurzen Spanne Zeit, in der das Dritte Reich ,,geboren" wird: War das Revolution und wenn ja, wie fügt sie sich in die Vorstellungen, die darüber seit 1789 im Schwange sind? Der Autor gibt sich in dieser Frage wenig entschieden, meint salomonisch, der Nationalsozialismus habe eine ,,Synthese zwischen dem Revolutionären und dem Restaurativen" geboten. Der nächste Band dürfte zur Beantwortung dieser Fragen weiteres Material und weitere Analysen beisteuern. Nach dem Präludium und dem durchaus furiosen ersten Akt sind wir jedenfalls gespannt auf die Fortsetzung, auf Peripetie und Finale.1

Jens Flemming, Kassel


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