ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Heumos (Hrsg.), Europäischer Sozialismus im Kalten Krieg. Briefe und Berichte 1944-1948, Campus Verlag, Frankfurt/Main 2004, 557 S., geb., 69,90 €.

Abgesehen von vier Dokumenten, die 1944 geschrieben wurden, stammen alle restlichen 111 Briefe und Berichte aus der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem europäischen Schlachtfeld und Juli 1948. Peter Heumos hat ganze Arbeit geleistet: Diese von ost- und westeuropäischen Sozialdemokraten verfassten Texte werden auf Jahre hinaus einen Grundstein zur besseren Erkenntnis der Tragödie der osteuropäischen Sozialdemokratie liefern. Dokumente, deren Originale auf Englisch, Französisch oder Deutsch geschrieben wurden, werden in diesen Sprachen wiedergegeben. Materialien, die ursprünglich in anderen Sprachen verfasst wurden, sind ins Deutsche übertragen worden. Detaillierte biografische Fußnoten sowie weiterführende bibliografische Hinweise vervollständigen die vielfältigen Informationen, die so dem aufmerksamen Leser einen einzigartigen Einblick in das Innenleben der europäischen Sozialdemokratie in diesem historischen Umbruchmoment vermitteln. Gleichzeitig erhält man zahlreiche stimulierende Hinweise auf andere Aspekte, die zu den Determinanten der europäischen Politik zwischen Weltkrieg und der heißen Phase des Kalten Krieges gehören.

In einer relativ knappen Einführung spricht der Herausgeber einige Hauptthemen der Dokumentation an, wobei vor allen Dingen klar und deutlich gemacht wird, dass die Unwägbarkeiten der Überlieferung von Archivmaterialien in den zahlreichen west- und osteuropäischen Fundorten, die der Herausgeber durchforstet hat, keine endgültigen Stellungnahmen erlauben, da wichtige Lücken weiterhin ungefüllt bleiben. Doch zu welchen tentativen Schlüssen kann man denn aufgrund der vorgefundenen und hier reproduzierten Materialien trotzdem kommen?

Wie allgemein bekannt, unterlagen einige osteuropäische Sozialdemokraten einer schleichenden Stalinisierung, die spätestens Anfang 1948 mit ihrer endgültigen Gleichschaltung endete. In einigen Ländern, allen voran Bulgarien im Juni 1945, kam es schon relativ früh zu Spaltungen der Sozialdemokratie in oppositionelle, entweder halblegal oder im Exil operierenden Organisationen auf der einen Seite und den sogennanten "Regierungssozialisten" oder "Molotov-Sozialisten" auf der anderen Seite, die um den Preis der bald eingeschränkten Manövrierfähigkeit Koalitionspartner auf Regierungsebene blieben. Generell wird dieser Prozess der allmählichen Stalinisierung hauptsächlich dem Druck aus Moskau zugeschoben. Peter Heumos zeigt jedoch auf, dass auch andere Faktoren mit ausschlaggebend waren. Der Herausgeber unterstreicht z.B., dass für die auf radikale Reformen drängende osteuropäische Sozialdemokratie die Abwesenheit fast jeglicher anderer Reformkräfte auf Parteiebene Einheitsfronten mit den Kommunisten als einzige quantitativ relevante, progressive Kraft nahe legten, wenn nicht sogar aufdrängten. Damit verbunden ist das - von Heumos nur am Rande erwähnte - Argument, dass eine mehr oder weniger enge Zusammenarbeit mit kommunistischen Kräften auf weitverbreitete Zustimmung auch und gerade in den Rängen der einfachen sozialdemokratischen Mitglieder, vor allen Dingen in der unmittelbaren Nachkriegszeit stieß. Leider erlauben die aufgearbeiteten Dokumente und die dazugehörigen Fußnoten nur wenig Einblick in diese Vorgänge, abgesehen von einigen interessanten Hinweisen, wie z.B. der Tatsache, dass der tschechoslowakische KP-Führer Klement Gottwald Mitte Mai 1945, als eine "aus der Arbeiterschaft an die kommunistische Partei herangetragene Forderung nach der Gründung einer sozialistischen Einheitspartei" (S. 356) Wellen schlug, diesen Wunsch zurückwies; ganz im Gegensatz zu seiner Haltung 1948, als solch eine "Fusion" der widerspenstigen Sozialdemokratie aufgezwungen wurde. Etwas mehr Rückhalt in den angeführten Dokumenten hat der Hinweis des Herausgebers auf einen oft verschwiegenen, gewissen Grad an Manövrierfähigkeit osteuropäischer Sozialdemokraten in den Jahren 1944-1947, obwohl diese Feststellung sicherlich in den Ländern, wo sich die Sozialdemokratie bereits gespalten hatte, prinzipiell nur auf die Organisationen und Politiker der Regierungssozialisten zutrifft. In der Tat war für Letztere Widerstand gegen die zunehmende Gleichschaltung möglich und wurde, wohlweislich vor 1948, nicht notgedrungen streng geahndet.

Doch insbesondere auf zwei anderen, miteinander eng verknüpften Ebenen werden die tentativen Schlüsse von Peter Heumos immer wieder von den reproduzierten Materialien beweiskräftig erhärtet. Der Herausgeber unterstreicht zum einen, dass Marshallplan und Kominformgründung sicherlich für die zunehmende Entfremdung zwischen Ost und West auch innerhalb der Sozialdemokratie (zumindest was die Molotov-Sozialisten angeht) enorm wichtig waren. Aber noch wichtiger, so schlussfolgert Heumos, war das Deutschlandproblem. Und hier sprechen die Archivalien in der Tat Bände.

So gab es innerhalb osteuropäischer Sozialdemokratien anscheinend überhaupt keine Frage, dass westdeutsche Sozialisten Menschen zweiter Klasse waren, die ohne weiteres Diskriminierungen unterworfen werden duften, egal wie oft oder wie lange letztere in den Konzentrationslagern der Nazidiktatur gelitten hatten. So wagte es die österreichische Sozialdemokratie noch im November 1946 nicht, Vertreter der SPD zu ihren Parteikongressen einzuladen, aus Angst vor einem dadurch verursachten Eklat aus der Sicht anderer sozialistischer "Bruderparteien", insbesondere aus Osteuropa. Und die SPÖ-Veranstalter lagen mit dieser Einschätzung keinesfalls falsch. Als im Oktober 1947 eine Vertreterin der SPD ein Grußwort an die versammelten Sozialisten auf dem dritten Parteitag der SPÖ vortragen durfte, verließ die Delegation der polnischen Regierungssozialisten (PPS) aus Protest den Saal. Im Dezember 1947, d.h. noch vor ihrer Gleichschaltung, hielt eben diese PPS ihren 27. Parteikongress demonstrativ in Breslau ab, um damit auch symbolisch die neuen ethnischen Machtverhältnisse klarzustellen. Und erst just auf diesem Kongress im Dezember 1947 durfte, laut Bericht eines Schweizer Sozialdemokraten, zum ersten Mal seit Kriegsschluss ausnahmsweise auf einer öffentlichen Veranstaltung in Polen eine Ansprache auf Deutsch gehalten werden. Dass die österreichische Sozialistin Rosa Jochmann diese Gelegenheit dazu benutzte, ihre Erlebnisse im KZ-Ravensbrück zu beschreiben, wird wohl nur wenigen polnischen Sozialdemokraten von der Absurdität der Zensur einer Sprache überzeugt haben, genau der Sprache nämlich, in der Marx, Bebel und Bernstein die meisten ihrer Werke verfasst hatten.

Dieser Chauvinismus, insbesondere innerhalb einer Organisation, die zumindest pro forma den sozialistischen Internationalismus hochzuhalten vorgab, war übrigens nicht nur im Lager der jeweiligen Regierungssozialisten die Regel. So schlug das führende Mitglied der polnischen Auslands-PPS, Adam Ciołkosc, genau in die gleiche Kerbe. Als es noch nicht zur Spaltung in polnische "Marshall-" und "Molotov-Sozialisten" gekommen war, schrieb er bereits im April 1944, dass "Humanität" zwar "unser Grundprinzip", aber "Sicherheit" "unser erstes Ziel" sei. Und auf dieser Grundlage forderte der spätere Wortführer der polnischen Marshall-Sozialisten wiederholt und kompromisslos die Vertreibung derjenigen deutschen Bewohner in den Polen zugeteilten Ostgebieten Deutschlands, die nach Kriegsschluss dort noch wohnten. Kollektivschuld als sozialdemokratische Tagespolitik? Es kommt noch besser.

Was manchem Beobachter vielleicht noch als psychologisch verständliche Überreaktion auf die im Namen aller Deutschen während des Krieges ausgeübten Gräueltaten gerade auf polnischem Territorium erklärlich erscheinen mag, wird noch absurder, zumindest als Ausdruck sozialistischen Internationalismus, wenn man ähnliche Aussprüche und Billigungen von entsprechenden Tatsachen und Fakten in anderen geografischen und ethnischen Zusammenhängen untersucht. Auch hier ist die Materialsammlung dieses Buches aufschlussreich. Denn dass tschechoslowakische Sozialdemokraten die Vertreibung der noch nicht geflohenen Sudetendeutschen forderten, mag, zumindest im Vergleich mit polnischen Begebenheiten, kaum verwundern. Aber dass sie gleichzeitig die Vertreibung ungarischer Minderheiten aus slowakischen Gebieten forderten, mag manchen Beobachter aufhorchen lassen, auch wenn diese Forderung als Bevölkerungsaustausch mit zu repatriierenden Slowaken verkleidet wurde.

Gleichzeitig waren aber oft genau dieselben Organisationen, die in ihren, den jeweiligen Nationen zugesprochenen Territorien ethnische Säuberungen vehement befürworteten, ebenso kompromisslos, ja quasi umgekehrt proportional nationalistisch, wenn es um die Verteidigung ihrer "eigenen" nationalen Interessen ging. Insbesondere die Exil-PPS, also die westorientierte polnische Sozialdemokratie, fand es überaus natürlich, im selben Atemzug die Vertreibung deutscher Einwohner zu fordern und dann sofort den Verlust der polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion energisch zu denunzieren.

Peter Heumos hat zweifelsohne Recht, wenn er die zentrale Funktion des Deutschlandproblems als Konfliktherd innerhalb der europäischen Sozialdemokratie hervorhebt. Doch ist es wirklich so, dass, was nationalistisches Gedankengut angeht, hier die Trennungslinien zwischen Ost und West verliefen? Könnte es nicht sein, dass hier das simple Faktum, dass Westdeutschland auf westlicher Seite im entstehenden West-Ost-Konflikt lag, ausschlaggebend für diesbezügliche Spannungen zwischen ost- und westeuropäischen Sozialdemokraten war? Der Enthusiasmus, mit dem auch westeuropäische sozialdemokratische Parteigrößen ihre millionenstarke Mitgliedschaft schon dreißig Jahre vorher zur Verteidigung des jeweiligen Vaterlandes auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs schickten, lässt vermuten, dass eine genauere Untersuchung der Argumentationsmuster auch westeuropäischer sozialdemokratischen Parteien in den Jahren 1944-1948 eine weniger weiße Weste ans Tageslicht bringen würde, als hier von Heumos impliziert wird.

Die Wahlverwandtschaft zwischen den politischen Mentalitäten ost- und westeuropäischer Vertreter der Sozialistischen Internationale in diesen wichtigen Jahren wird allerdings nur allzu deutlich, wenn man die Dokumentation zum zweiten, von Heumos hervorgehobenenen Themenkomplex, auf den ich mich in dieser Rezension konzentrieren möchte, aufmerksam quer liest, d.h. die Materialien zur Allgegenwärtigkeit der allseits grassierenden sozialdemokratischen "Realpolitik" jener Jahre. In einer wichtigen Passage seiner Einleitung merkt der Herausgeber an, dass sowohl ost- als auch westeuropäische Sozialdemokraten schon damals "im Grunde nationalstaatliche Interessenpolitik als Richtschnur sozialistischer Parteipolitik" sanktionierten. "In Ost und West zögerten die sozialistischen Parteien nicht, das Beziehungsgeflecht der internationalen sozialistischen Bewegung für die Durchsetzung nationaler Ziele zu nutzen." (S. 42)

Die Deutschlandpolitik der osteuropäischen Sozialdemokratie passt unmissverständlich in das national verengte Koordinatensystem dieser einstmals internationalistischen Bewegung hinein. Wie aber manifestierte sich dies auf westlicher Seite? Die eindeutig machtpolitische Orientierung auch der westeuropäischen Sozialdemokratie lässt sich anhand der umfangreichen Dokumentation am eindrucksvollsten am Beispiel der Politik vor allem der britischen Labour Party, verdeutlichen, die damals mit Abstand von allen westeuropäischen Organisationen am meisten mit West-Ost-Diplomatie beschäftigt war. Dies wurde insbesondere an ihrer brutalen Geringschätzung der Bemühungen derjenigen osteuropäischen Sozialdemokraten deutlich, die sich dem Druck der Kommunisten schon von früh an konsequent widersetzten. So kam es z.B. in Bulgarien und Rumänien schon sehr bald nach Kriegsende zur organisatorischen Spaltung der jeweiligen Sozialdemokratie als Reaktion auf Repressalien der Regierungskommunisten, die oppositionelle Sozialdemokraten schikanierten, angefangen mit politisch motivierten Entlassungen bis hin zu langjährigem Freiheitsentzug und Folter.

Wie reagierten die maßgeblichen Wortführer und Drahtzieher der westeuropäischen Sozialdemokratie, konfrontiert mit diesen machtpolitischen Tatsachen? Eine Untersuchungskommission des Socialist Information and Liaison Office (SILO), dem damals höchsten Organ der internationalen Sozialdemokratie, machte sich noch im November 1947 über die oppositionellen, in die Quasi-Illegalität getriebenen bulgarischen Sozialdemokraten um Kosta Lulčev lustig und betitelte deren verzweifelte Überlebensversuche als Don Quichotterie.

Während die Empfehlungen dieser SILO-Kommission immerhin noch auf der nachfolgenden internationalen sozialistischen Konferenz in Antwerpen - wenn auch nur mit einer denkbar knappen Mehrheit - zurückgewiesen wurden, erging es den rumänischen oppositionellen Sozialdemokraten, die sich im März 1946 organisatorisch von den Regierungssozialisten trennten, nicht viel anders. Der Wortführer dieser Fraktion, der langjährige Sozialdemokrat Constantine Petrescu, wurde von Denis Healey, der die hohe Politik westeuropäischer Sozialdemokratien auf diesem Gebiet koordinierte, als eine "unfähige Null" (S. 278) bezeichnet, und einzig und allein die Regierungssozialisten wurden als förderungswürdig angesehen.

Aber was vielleicht noch wichtiger war als das rücksichtslose Links-Liegen-Lassen der bulgarischen und rumänischen oppositionellen Sozialisten, die damals mindestens mit einem Bein schon im Straflager standen, waren die in den ersten Nachkriegsjahren gültigen Bedingungen, die die Teilnahme an internationalen Tagungen der Sozialdemokratie regelten, nach denen jedes Land nur durch eine Organisation repräsentiert werden durfte und nach denen prinzipiell die jeweiligen Regierungssozialisten diese Funktion ausüben sollten. Und so kam es denn auch. Die Dokumentensammlung beinhaltet so manchen verzweifelten Brief oppositioneller osteuropäischer Sozialdemokraten, deren Mitstreiter oft schon verhaftet oder gar bereits gefoltert wurden. Sie schienen die Welt nicht mehr zu verstehen, wenn sie erfuhren, dass ihre Organisationen von internationalen sozialistischen Konferenzen ferngehalten wurden, während sich die Vertreter der Regierungssozialisten ihrer Länder in den mondänen Badeorten, wo die Labour Party damals die von ihr geleiteten internationalen Kongresse abhielt (wie Bournemouth oder Clacton-on-Sea) als Gäste tummeln durften. Diese perverse Logik führte als pikante Glanzleistung dazu, dass sogar die wenigen Überlebenden des polnischen jüdischen Bundes, einer Organisation also, die seit Jahrzehnten einen Stammplatz auf internationalen sozialistischen Kongressen innehatte, von Clacton und von Bournemouth ferngehalten wurden.

Wie kam es zu diesem Wildwuchs sozialdemokratischer Realpolitik? Sicherlich gab es in diesen Jahren auch auf westlicher Seite so manche Befürworter osteuropäischer Regierungspolitik und/oder Kryptostalinisten. Doch wäre es total verfehlt, die Förderung der Molotov-Sozialisten von westlicher Seite ausschliesslich oder hauptsächlich auf diese nicht unwichtige, aber relativ kleine Minderheit abzuschieben. Viel ausschlaggebender waren die Motivationen gerade derjenigen Vertreter der westeuropäischen Sozialdemokratie, die nie in den Verdacht des Kryptostalinismus kamen und die stattdessen namhafte Vertreter der Sozialdemokratie im Westen waren und blieben.

In einem Brief vom Dezember 1946 machte keine Geringerer als Denis Healey kein Hehl daraus, dass unter den Regierungssozialisten (hier: in Rumänien) "viele der Persönlichkeiten widerlich sind" (S. 279), aber Healey verstand genug von Machtausübung, um zu wissen, dass der Kurs der oppositionellen Sozialisten tragisch enden würde. Prinzipien hin, Prinzipien her: Ihm war klar, "dass wir unsere Verbindungen mit den Sozialdemokraten im Regierungslager stärken sollten, denn sie bleiben unsere einzige Hoffnung auf das Erlangen eines gewissen politischen Einflusses in Rumänien so lange wie die Russen ein Interesse an diesem Land zeigen." (S. 278) "Wie abstoßend dies auch sein mag, so scheint dieser Kurs doch die einzige Maßnahme zu sein, die zur Zeit britische Interessen in Rumänien fördern könnte." (S. 279)

Doch war Realpolitk - so `abstoßend' sie in der Tat gerade zu dieser Zeit und in diesem konkreten Kontext auch gewesen sein mag - wirklich die einzige Triebfeder der Handlungen und Entschlüsse westeuropäischer Sozialdemokraten? Die Dokumentensammlung lässt weitergehende Schlüsse zu. Ein Passus in der offiziellen Berichterstattung der bereits erwähnten SILO-Untersuchungskommission mag hier für viele andere stehen. Konfrontiert mit brutalen Repressionsmassnahmen der bulgarischen Regierung, die die elementarsten Regeln der Demokratie - aus sicherlich `realpolitischen' Gründen - missachteten, kam das fünfköpfige Gremium zu folgender Schlussfolgerung angesichts der renitenten Haltung oppositioneller Sozialdemokraten in diesem Land: Die hochkarätige Kommission konstatierte, dass im Laufe ihrer Unterhaltungen mit noch nicht inhaftierten Vertretern dieser Fraktion "immer klarer wurde, dass wir uns mit einem sehr verständlichen Drama alter Sozialdemokraten konfrontiert sahen, die nicht zugeben wollen, dass ein sozialistisches Regime nicht in einer Atmosphäre absoluter Freiheit, die leicht anarchisch werden kann, aufgebaut werden kann." (S. 89)

Wie ebenfalls bereits angedeutet, wurde dieser Bericht letztendlich nicht vom damals höchsten Gremium der internationalen Sozialdemokratie abgesegnet, sondern knapp zurückgewiesen. Doch eine ähnlich erziehungsdiktatorische Mentalität durchzieht auch andere Dokumente wie ein roter Faden. So veröffentlichte der eminente Staatswissenschaftler und führende Vertreter der westlichen Sozialdemokratie, Harold Laski, im Oktober 1946 nach einem Kurzaufenthalt in Polen einen Artikel, der Bände spricht. Drei Sätze mögen genügen: "Ich meine daher, dass es für London und Washington höchst ratsam wäre, festzustellen, dass die Stunde für eine Rückkehr Polens zu einer `klassischen' Demokratie noch nicht geschlagen hat. Es ist ein sehr krankes Land. Es kann nur Schritt für Schritt gesund gepflegt werden." (S. 193) Ein in der Tat eindrucksvolles Beispiel des Denkens in rein nationalstaatlich orientierten Kategorien, inniglich verknüpft mit paternalistisch verbrämten Wahnvorstellungen vermeintlicher Erfolge einer Erziehungsdiktatur. Kein Wunder, dass Adam Ciołkosc sofort einen Protestbrief aufsetzte, der natürlich ohne Folgen blieb. In dieser Frage war es daher den polnischen Molotov-Sozialisten auferlegt, die weit gehenden Übereinstimmungen zwischen Ost- und Westsozialdemokraten zu unterstreichen. Schon im April 1946 forderte ein führendes Mitglied der PPS, "die Methoden der klassischen Demokratie vorübergehend außer Kraft zu setzen und sich ... der Methoden der Diktatur zu bedienen." (S. 137)

Der Klappentext dieser Quellenedition behauptet an prominenter Stelle, dass "die Sozialistische Internationale Träger einer gemeinsamen Bewegung in West- und Osteuropa" war, "die einer drohenden Blockbildung entgegenzuwirken versuchte und einen europäischen `dritten' Weg jenseits von Kommunismus und Kapitalismus anstrebte." Im Text selber eher beiläufig schreibt Peter Heumos: "Die Vision eines `dritten Weges' vom plankapitalistischen Wachstum zum demokratischen Sozialismus zerstob in den Jahren 1948-1949." (S. 45) Trotz akribisch genauen Studiums der zirka fünfhundert Seiten dieser Dokumentensammlung und der dazugehörigen Fußnoten fand der Rezensent nur Spurenelemente eines wirklich unabhängigen sozialistischen Gedankenguts. Der wahre Wert dieser Editionsarbeit liegt ganz woanders. Die Texte unterstreichen vielmehr, wie weit die europäische Sozialdemokratie in Ost und West bereits zu diesem Zeitpunkt Prinzipien wie internationale Solidarität und Demokratie hinter sich gelassen und diese Werte durch machtpolitische Erwägungen weithin ersetzt hatte. Der Band ist unbedingt empfehlenswert.

Gerd-Rainer Horn, Coventry/GB


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