ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Oliva Wiebel-Fanderl, Herztransplantation als erzählte Erfahrung. Der Mensch zwischen kulturellen Traditionen und medizinisch-technischem Fortschritt (Ethik in der Praxis/Practical Ethics, Studien, Bd. 14), LIT Verlag, Münster/Hamburg/London 2003, 514 S., kart., 39,90 €.

Herztransplantationen stellen fast 40 Jahre nach der ersten Herztransplantation 1967 in Kapstadt heute mit ca. 500 jährlich durchgeführten Operationen allein in Deutschland keine medizinische oder ethische Sensation mehr dar. Sind sie für Medizin und Gesellschaft fast Routine des medizinischen Alltags geworden, so bedeuten sie für den Betroffenen einen nicht nur existentiellen Einschnitt in seinem Leben, sondern, wie die Autorin heraus arbeitet, einen Kulturschock.

Da das Herz immer noch ein stark symbolträchtiges Organ mit häufigem metaphorischen Gebrauch in der Alltagssprache ist, muss ein Herztransplantationspatient nicht nur die mit Transplantationen verbundenen psychosozialen und medizinischen Konflikte bewältigen, sondern auch die aus den mythologischen Zuschreibungen resultierenden Probleme. Vor diesem Hintergrund leistet eine volkskundliche Untersuchung einen direkten Beitrag zum verständnisvolleren Umgang medizinischen Personals mit Herztransplantierten und kann im günstigsten Fall zum Abbau von Zweifeln und Ängsten bei Patienten beitragen. Die verbreitete Vorstellung des Herzens als Sitz des Gefühlslebens etwa weckt Zweifel am eigenen Gefühlsleben bei Männern, die kein Männerherz, sondern das einer Frau erhalten haben. Der Vorwurf ,,Für dich musste ein anderer Mensch sterben" bringt das Dilemma des Herztransplantierten auf den Punkt: Der Tod eines anderen ist die Voraussetzung des eigenen Weiterlebens. Hieraus entstehen nicht nur Schuldgefühle, sondern auch Vorwürfe seitens der Mitmenschen. Diese beispielhaft genannten Konflikte können die seelischen Belastungen nur andeuten, mit denen Herztransplantierte zu kämpfen haben. Daher fordert die Autorin auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse von Medizinern menschliche Zuwendung und kulturelles sowie soziales Verständnis gegenüber diesen Patienten.

In der Einleitung gibt die Autorin dankenswerter Weise eine für den Laien gut verständliche Einführung in das Thema Herztransplantation. Hier bekommt der Leser nicht nur medizinische Details geliefert, die zum Verständnis der Patientenerzählungen unentbehrlich sind, sondern auch Wissenswertes über Konsequenzen einer Herztransplantation für den Betroffenen und für sein soziales Umfeld sowie über Abläufe im Netzwerk der Transplantationsmedizin. Unterstützt wird diese medizinische Aufrüstung des Lesers durch zahlreiche Abbildungen, zum Beispiel zu den Operationstechniken, und durch ein Glossar medizinischer Fachtermini am Ende des Bandes.

Die Autorin will ihre Arbeit sowohl als einen Beitrag zur Medizingeschichte als auch zur Erzählforschung verstanden wissen. Der volkskundliche Ansatz dieser Studie kommt am deutlichsten in ihrem dritten Hauptteil zum Tragen, der sich mit subjektiven Theorien von Herzkrankheiten und kulturellen Mustern ihrer Bewältigung befasst. Erzählforschung wird hier mit Aspekten der Medialkultur, der Alltagsreligiosität sowie der Brauchtumsforschung verknüpft. Angesichts rascher Fortschritte in der Transplantationsmedizin bilden die in diesem Band verwendeten Erzählungen transplantierter Menschen und ihrer Lebenspartner darüber hinaus historische Prozesse ab. Dies zeigt sich z.B. daran, dass die Patienten der 1980er-Jahre, als die Mortalitätsrate nach einer Transplantation wegen fehlender Medikamente zur Verhinderung von Abstoßungsreaktionen vergleichsweise hoch lag, noch als Helden galten; während die in den 1990er-Jahren Transplantierten bloß noch in die große Gruppe der chronisch Kranken eingestuft wurden und daher kaum noch ,,privilegiert" waren.

Die Autorin hat 109 Patienten interviewt, darunter 16 Prozent Frauen. Der geringe Frauenanteil an dem Erzählerkreis spiegelt den realen, weltweiten Frauenanteil von etwa zehnt Prozent an der Gesamtheit der Herztransplantierten wider. 90 Interviewte waren Patienten des Deutschen Herzzentrums in München, 19 Patienten der Berliner Charité. Die Berliner Interviewpartner dienten als Korrektiv zu dem bayerischen, überwiegend ländlichen und katholischen Erzählerkreis. Sie sollten das von den bayrischen Patienten nicht Erzählte sichtbar machen. Unter den Interviewten befanden sich sowohl Patienten, die erst seit wenigen Monaten mit einem fremden Herzen lebten, als auch solche, die bereits zehn Jahre ihr so genanntes zweites Leben lebten. Es wurden stets auch die Lebenspartner in das Interview mit einbezogen, weil sie in der Regel ,,mittransplantiert" waren, d.h. die Herzoperation für sie ebenfalls ein prägendes Ereignis mit radikalen Auswirkungen auf ihr tägliches Leben darstellte, und weil ihre Erzählungen häufig Erinnerungslücken der Transplantierten füllten. Da die Umgebung des Interviews einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Erinnerte und Erlebte ausübt, fanden die Gespräche nicht nur in einer Umgebung, sondern in verschiedenen, etwa in der Klinik und zu Hause, statt. Mit jedem Interviewten wurden mehrere, oft mehrstündige ,,offene" Gespräche ohne vorgegebene Gesprächsstruktur geführt, aufgezeichnet, und von der Autorin anschließend verschlagwortet. In den Interviews häufig gefallene Schlüsselwörter dienten als Anhaltspunkte für die Gliederung der vorliegenden Habilitationsschrift. Passagen im Wortlaut der Interviews finden sich im überwiegend analytischen Text relativ selten.

In einem zweiten großen Hauptteil nach der Einleitung begründet die Verfasserin das Interesse der Volkskunde am Thema Herztransplantation und gibt einen Überblick über den - überwiegend medizinischen - Forschungsstand zum Thema.

Der dritte große Abschnitt analysiert die kultur- und zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Erzählungen herztransplantierter Menschen, z.B. die Bedeutungsvielfalt des Herzmotivs oder die Diskussionen um den Hirntod. Erst auf der Folie dieser kulturellen Muster und zeitgeschichtlichen Diskussionen lassen sich die Darstellungen der Herzpatienten einordnen. Das Kapitel zeigt, wie Herztransplantation sowohl als Konflikt- als auch als Erfolgserzählung präsentiert wird. Gewissenskonflikte entstehen, wenn Patienten sich Aussagen wie ,,Für dich musste ein anderer Mensch sterben" anhören müssen. Auslöser für Konflikte sind auch Traditionsfixierungen, die sich an den Fortschritten der modernen Medizintechnik brechen. Setzte beispielsweise die klassische Definition des Sterbens das Lebensende mit dem Herztod gleich, so gilt heute der Hirntod als Todeszeitpunkt. Ein Laie erkennt eine Leiche, die als hirntoter Organspender betreut wird, nicht als solche, weil ihr Todesstarre und Leichenblässe fehlen. Die moderne Medizin verändert nicht nur die Definition des Todes, sondern darüber hinaus seine Anschaulichkeit. Viele Transplantierte kämpfen mit Identitätsproblemen. ,,Wer bin ich mit dem neuen Herzen?" oder ,,Wer bin ich als chronisch Kranker" lauten die Fragen, die sie sich stellen. Besonders belastend ist es für Frauen wie Männer, wenn sie das Herz eines nicht gleichgeschlechtlichen Menschen erhalten haben. Viele erleben es als existentielle Bedrohung, dass der Herzwechsel ohne Rücksicht auf das Geschlecht vorgenommen wird. Hier zeigt sich eine tiefe Kluft zwischen dem naturwissenschaftlichen Objektdenken der Mediziner, für die das Herz eine Pumpe, einen Motor darstellt, und dem kulturgeschichtlich geprägten Subjektdenken der Laien.

Zu den am häufigsten erzählten Erfolgsgeschichten von Transplantierten zählt der Vergleich des eigenen Schicksals mit der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu. Nicht religiös gebundene Patienten stellen ihre Krankengeschichte in den Rahmen der allgemeinen Erfolgsgeschichte der modernen Medizintechnik.

Darüber hinaus stellt das Kapitel die in den Erzählungen verwendeten Metaphern vor, etwa die von der ,,abgelaufenen bzw. noch nicht abgelaufenen Uhr".

Der vierte und letzte große Abschnitt gibt einen Überblick über die in den Erzählungen offenbarten Bewältigungsstrategien der Krankheit, etwa subjektive Theorien zur Krankheitsursache oder kulturelle Muster zum Umgang mit der Krankheit. Die Bandbreite subjektiver Erklärungsmodelle für die Herzerkrankung reicht von Schicksalsschlag über Vererbungstheorien bis hin zu Lebensstiltheorien und psychosomatischen Erklärungsmodellen. Zu den Bewältigungsstrategien der Krankheit zählen Verhaltensweisen, die die Autorin unter dem Oberbegriff ,,Gesundheitshandeln" fasst. Darunter versteht sie das Bemühen, um eine gesunde Lebensweise. Unter dem Titel ,,Bilanz" resümiert die Autorin ihre Forschungsergebnisse im abschließenden, letzten Kapitel.

Die Konzentration auf bayerische Patienten aus katholischem und überwiegend ländlichem Milieu erweist sich als problematisch. Die 19 Patienten der Berliner Charité bilden allein schon aufgrund ihrer geringen Anzahl kein ausreichendes Korrektiv. Die Verfasserin relativiert selbst an mehreren Stellen ihrer Untersuchung die Korrektivfunktion der ostdeutschen Patienten, die im Durchschnitt wesentlich jünger als die bayerischen waren und über eine höhere Schulbildung verfügten. Offen ist etwa, so die Autorin, ob die Sozialisation in der DDR den Männern ähnlich wie im Westen vermittelte, dass es einem Mann nicht anstehe, Ängste und Schmerzen offen auszusprechen (S. 198). In einem weniger von einer katholisch-ländlichen Sozialisation geprägten Erzählerkreis wäre die Konfrontation traditionaler Denk- und Gefühlswelten mit der modernen High-Tech-Medizin weniger krass ausgefallen und hätte sich für die Untersuchung als weniger ergiebig erwiesen. Eine ähnlich gelagerte Studie am Beispiel einer anderen Region der Bundesrepublik wäre daher eine wertvolle Ergänzung zu dieser Arbeit. Die Autorin selbst nennt als ein aus dieser Arbeit erwachsendes Desiderat künftiger Forschungen, den Einfluss von Räumlichkeiten in Kliniken auf den Genesungsprozess und das Befinden der Patienten zu untersuchen.

Man kann künftigen thematisch verwandten Studien nur wünschen, dass sie mit ähnlicher Perfektion und Allgemeinverständlichkeit verfasst werden wie die vorliegende, die aufgrund ihrer interdisziplinären Herangehensweise und Befunde viele Leser - interessierte und betroffene Laien und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen - finden wird.

Elke Hauschildt, Koblenz/Hamburg


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