ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969 (Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945, Bd.2), J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2004, zahlreiche Abbildungen, 734 S., 58,00 €.

Fast hat es den Anschein, als sei die Parteiengeschichte Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Viele ihrer Fragen, die sich vor allem auf das Scheitern der Weimarer Republik und den demokratischen Neubeginn nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft bezogen, sind inzwischen beantwortet. War sie früher so etwas wie die Königsdisziplin einer Zeitgeschichte, die sich dezidiert als Demokratiewissenschaft verstand, kämpft sie heute gegen den Ruf eines wenig attraktiven, da bisweilen trockenen und methodisch leicht angestaubten Forschungsgegenstands. Der kleinliche Rückzug Nordrhein-Westfalens aus der Finanzierung der Parlamentarismuskommission und die Hängepartie bei ihrer Übernahme durch den Bund haben zudem erschreckend deutlich gemacht, wie sehr die öffentliche Wertschätzung ihrer Forschungsergebnisse im Schwinden begriffen ist.

Dass ein historiographischer Zugang, der Parteien als Träger der politischen Willensbildung in den Mittelpunkt stellt, indes keineswegs antiquiert sein muss, sondern überaus fruchtbar sein kann, demonstriert eindrucksvoll der Mannheimer Historiker Klaus Schönhoven in seiner Studie über die SPD als Regierungspartei der Großen Koalition.

Zwei systematische Untersuchungsperspektiven strukturieren die chronologisch angelegte Erzählung: Die Spannungslinien der innerparteilichen Entwicklung bilden einen ersten Fokus der Darstellung. Für die Partei Willy Brandts bedeutete der Eintritt in die Koalition nicht nur den ersehnten Durchbruch zur Regierungsfähigkeit, auf den Herbert Wehner beharrlich hingearbeitet hatte. Sie barg auch erhebliche Konfliktpotentiale: Bereits der Eintritt in die Koalition war umstritten und konnte von der Fraktionsführung erst in einer dramatischen Nachtsitzung durchgesetzt werden. Die Ablehnung der Notstandsverfassung durch die Mehrheit der Gewerkschaften und das nach ihrer Ansichtzu geringe Engagement bei der Herstellung ,,sozialer Symmetrie" im Rahmen der Konzertierten Aktion lockerte deren traditionelle Bindungen zur Sozialdemokratie.

Zudem sah sich die SPD seit den Sechzigerjahren einem steigenden politischen, organisatorischen und soziologischen Modernisierungsdruck ausgesetzt. Der im Zeichen des ,,Gemeinsamkeitskurses" unternommene Spagat zwischen den alten Wählern aus dem sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Milieu, und neuen Wählern aus dem aufstiegsorientierten, oft akademisch gebildeten Mittelstand, fiel der Partei zunehmend schwerer, wie bittere Niederlagen bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Bremen zeigten. Gleichzeitig geriet die straff geführte Traditionskompanie durch den einsetzenden Formwandel der politischen Öffentlichkeit außer Tritt. Zwischen die Streben der offiziellen Parteiorganisation flochten Repräsentanten einzelner Parteiflügel ein informelles Netz bundesweit agierender Arbeitsgemeinschaften, dem die Parteiführung nur wenig entgegenzusetzen hatte. Parteitage, einst Orte demonstrativer Geschlossenheit und emotionaler Vergemeinschaftung, verwandelten sich in Arenen polarisierter Diskussion, wie in Nürnberg 1968, wo die streitenden Positionen in Sachen Wahlrechtsreform und Notstandsverfassung medienwirksam aufeinander prallten. Passagen, in denen Schönhoven die Reaktionen der SPD auf solche Herausforderungen untersucht, gehören zu den interessantesten des Buches.

Zu den wichtigsten Reaktionsmustern der Parteiführung auf die veränderten Bedingungen moderner Mediendemokratien zählen Versuche, politisches Handeln durch sozialwissenschaftliche Beratung zu fundieren. Dies betraf längst nicht mehr nur die Wahlkampfführung. Die Option der SPD gegen das Mehrheitswahlrecht dürfte wohl eine der ersten politische Richtungsentscheidungen in der deutschen Geschichte gewesen sein, bei der der Rat der ,,Spin-doctors" den Ausschlag gab (251).

Zweitens - hier spürt der Leser einen kräftigen ,,Impuls der Gegenwart" - interessiert sich Schönhoven dafür, ,,wie weit grundsätzliche Gemeinsamkeiten und pragmatisches Einvernehmen eine ertragreiche Kooperation auf Zeit zwischen CDU/CSU und SPD möglich machten" (13). Daher richtet er seinen Blick besonders auf die politische Kompromissbildung zwischen den Koalitionspartnern, um so Modi und Möglichkeiten der Konsensfindung, aber auch deren Grenzen zu bestimmen. Dieses Analyseraster lässt die potentielle Instabilität des in einer historischen Sondersituation geschlossenen Bündnisses auf Zeit deutlich hervortreten. Trotz ihrer breiten parlamentarischen Mehrheit war die Große Koalition ein überaus ,,fragiler Parteienverbund" (28), dessen koalitionspolitische Handlungsspielräume immer wieder neu ausgelotet werden mussten. Deshalb war die Regierung Kiesinger/Brandt bei der Suche nach tragfähigen Kompromissen in besonderem Maße auf Foren informeller Kommunikation angewiesen, die die traditionellen Arenen der politischen Entscheidungsbildung ergänzten.

In der historischen Rückschau erscheint die Kompromissbereitschaft beider Koalitionspartner überraschend groß. Sie basierte vor allem auf dem gemeinsamen Wunsch, eine als bedrohlich wahrgenommene ökonomische Krise durch die Modernisierung des politischen Systems zu überwinden und künftig dauerhaft zu vermeiden. Sie wurzelte aber auch in parteiübergreifenden Vertrauensbeziehungen wichtiger Akteure. Unter diesen koalitionsstabilisierenden ,,Männerfreundschaften" (dem Kabinett gehörte mit Käte Strobel nur eine Frau an) sind vor allem die Kooperationen zwischen den Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt sowie zwischen Kurt Georg Kiesinger und Herbert Wehner hervorzuheben, während der Kanzler und sein Außenminister Willy Brandt über unterkühlte Arbeitsbeziehungen nie hinauskamen.

Gemessen an der kurzen Regierungszeit von nur drei Jahren und den teilweise schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fällt die Reformbilanz der Großen Koalition beeindruckend aus. Zwar kam die Neuorientierung der Außen- und Deutschlandpolitik im Zeichen der Détente nur in kleinen Schritten voran. Doch setzten die Koalitionspartner längst überfällige innenpolitische Modernisierungsprozesse in Gang. Hierzu zählten die Ausrichtung des Strafrechts auf den Resozialisierungsgedanken, sozialpolitische Innovationen wie die Einführung einer einheitlichen arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung und eines Finanzierungsverbunds von Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung, die die althergebrachte Kragenlinie zwischen den Arbeitnehmerkategorien weiter einebneten sowie die Etablierung einer keynesianisch geprägten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Auf der innenpolitischen Habenseite stehen zudem Weiterentwicklungen der Verfassungsordnung, die sich nur mit der parlamentarischen Mehrheit der beiden Volksparteien realisieren ließen: der Abschluss der lange umstrittenen Notstandsgesetzgebung, die Neuordnung der Gemeinschaftsaufgaben und die Finanzverfassungsreform von 1969. Vielleicht etwas zu wenig geht Schönhoven der Frage nach, ob diese folgenreichen Verfassungsänderungen auch in ihren langfristigen Wirkungen der politischen Habenseite der Großen Koalition zugerechnet werden können. Die Antwort fällt keineswegs eindeutig aus: So beseitigte die Reform der Finanzverfassung zwar manchen Funktionsmangel einer noch aus der Frühzeit der Weimarer Republik stammenden Steuer- und Aufgabenverteilung, verwob aber die Finanzen von Bund und Ländern so eng miteinander, dass sich Bundes- und Parteienstaat seither bis zur Selbstblockade überlagern.

Der Blick auf die Reformagenda zeigt: Schönhovens quellengesättigte und differenziert argumentierende Studie erlaubt nicht nur wichtige Einsichten in die Parteigeschichte der Sozialdemokratie, sondern stellt einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Bundesrepublik dar, für deren intensivere Erforschung jenseits einer ,,ausschließlich auf Abnutzungs- und Alterungsprozesse konzentrierte Betrachtungsweise" (12) der Autor nachdrücklich plädiert.

Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten zu Einzelaspekten erschienen sind, zählen die Jahre der Großen Koalition immer noch zu den wenig profilierten Phasen der westdeutschen Zeitgeschichte. So ist auch der historische Ort dieser in mancher Hinsicht ,,vergessenen Regierung" (R. Schmoeckel) bislang unbestimmt geblieben. Teils wird sie als Nachklang der Ära Adenauer/Erhard zugeordnet, teils als Auftakt der sozialliberalen Reformperiode. Gegen diese Herabstufung zum bloßen ,,Intermezzo zwischen den beiden Hauptakten der christdemokratischen und der sozial-liberalen Vorherrschaft in Bonn" (689) konturiert Schönhoven einen der ,,interessantesten, vielfältigsten und widersprüchlichsten Abschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik" (34) als eigenständige Phase ,,experimentelle[r] [...] Neu- und Umorientierung [...] in der sich gesellschaftliche Veränderungsprozesse stark beschleunigten und schon länger bestehende politische, wirtschaftliche und soziale Kernprobleme endlich gelöst werden mussten" (13). Dass er dabei die Offenheit der historischen Konstellation nie aus den Augen verliert, etwa bei seiner Analyse des für viele überraschenden Wahlausgangs vom September 1969, macht eine weitere Stärke seines lesenswerten Buches aus.

Winfried Süß, München


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