ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rolf Sachsse: Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Philo Fine Arts, Dresden 2003, 453 S., 63 Abb., brosch., 42,00 €.

Fotografie war im System der NS-Propaganda ein wichtiges Werkzeug. Auch heute sind die Fotografien aus der NS-Zeit, zeitgenössische Filme und Wochenschauen, Bilder der Verbrechen von den Fronten des Zweiten Weltkrieges und von der Befreiung der Vernichtungslager in der Öffentlichkeit ebenso gegenwärtig wie Bilder der NS-Größen oder des Alltags der NS-Zeit. In den unzähligen TV-Dokumentationen über die NS-Diktatur werden diese Bilder immer wieder gezeigt.

Umso mehr verwunderte bisher das Fehlen einer einschlägigen monografischen Studie zur Fotografie im NS-Staat. Die Gründe sind vielfältig. Sicherlich ist der schiere Umfang des Bildmaterials und die ausufernde Fachliteratur zum NS-Staat und seiner Propaganda abschreckend, und viele Fotohistoriker fürchteten wohl auch die Auseinandersetzung mit den noch lebenden, zwischen 1933 und 1945 aktiven Berufsfotografen und ihren Schülern. Zudem galt (und gilt) die damalige Fotografie als ästhetisch und konzeptionell unwürdig, war (und ist) sozusagen ein unbefriedigendes Thema, zu dem aus nahe liegenden Gründen außerdem keine opulenten Bildbände produziert werden konnten.(1) Ferner sah der NS-Staat selbst - zumindest offiziell - in der Fotografie kein besonders wichtiges Mittel der Meinungslenkung, wie schon organisatorisch am ,,Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda" abzulesen ist: Dort gab es zwar eigene Referate für Film, Radio und Theater, die Fotografie dagegen war und blieb einer Unterabteilung im Rahmen des ,,Referats Deutsche Presse" eingegliedert.

Der Krefelder Professor der Fachhochschule für Gestaltung Niederrhein, Rolf Sachsse, hat nun den Versuch unternommen, die Gesamtheit der Fotografie im NS-Staat zu untersuchen. Der renommierte Fotohistoriker behandelt sämtliche Bereiche der Fotografie: Fotojournalismus, Berufsfotografie, Pressewesen, Fotoindustrie, Ausstellungswesen, organisierte Amateure, organisierte Schul- und Freizeitfotografie und einfache ,,Knipser". Jedes dieser Themen wird in loser chronologischer Folge abgehandelt, sodass fast zu jedem Aspekt der Fotografie Informationen zu finden sind. Damit besitzt der Band Handbuchcharakter.

Neben dem knappen Text bietet das Buch außerdem einen umfangreichen Dokumentenanhang und über 250 Kurzbiografien zu Fotografen und Fotografinnen. Demgegenüber vermisst man ein separates Quellen- und ein umfangreicheres Literaturverzeichnis, das auch den neuesten Forschungsstand zur NS-Propaganda berücksichtigt. Auch die etwa 60 kleinen Reproduktionen sind nicht ausreichend, um die Argumente genügend abzustützen. Begrüßenswert wäre es zudem gewesen, wenn sich der Verlag zumindest zu einem Namensindex hätte durchringen können, der die Arbeit mit dem Buch sehr erleichtern würde.

Hauptthema der Studie sind die vielfältigen Versuche des NS-Regimes, auf die Fotografie einzuwirken. Neben der Steuerung der Fotojournalisten durch allerlei Zwangsmaßnahmen, Presseanweisungen und das NS-typische Klientelsystem, zielte das ,,Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" unter Josef Goebbels aber auch auf die Amateurfotografie und private Fotografie. Sachsse fasst diese Steuerungsversuche mit der griffigen These ,,Erziehung zum Wegsehen" zusammen. Die Gesamtheit der Maßnahmen, so lässt sich seine Argumentation zuspitzen, zielte darauf, die Wahrnehmungen und Erinnerungen aller Individuen mit Hilfe der Fotografie zu beeinflussen. Sowohl durch die offizielle Propaganda als auch durch die Steuerung der privaten Bilderproduktion. Jeder einzelne sollte über Vorschläge in Amateurvereinigungen, Fachliteratur, Ausstellungen und Fotoratgebern zu einem systemkonformen Fotografieren angehalten werden. Vor allem ging es darum, ein idyllisches widerspruchsfreies Bild zu generieren, das mit den Werten des Nationalsozialismus verbunden werden und auf diese Weise zu einer Einheit verschmelzen sollte.

Wichtiges Mittel zur Lenkung der Fotografie war der Bildjournalismus, der ab Ende 1933 im ,,Reichsausschuss der Bildberichterstatter im Reichsverband der Deutschen Presse" zwangsorganisiert wurde. Daneben bestand im ,,Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda" im Rahmen der Abteilung ,,Deutsche Presse" seit 1933 das bereits erwähnte Referat für Fotografie, das der erst 23-jährige Heiner Kurzbein leitete. Diese Abteilung wurde später in das ,,Hauptreferat Bildpresse" nebst Bildpressearchiv umgewandelt. Im Krieg war es auch für die Erfassung sämtlicher Bilder aus den Propaganda-Kompanien sowie für beschlagnahmte Bildarchive der besetzten Länder zuständig.

Trotz des organisatorischen Aufwandes gelang die Kontrolle der Fotografie nicht im gewünschten Umfang. Vor allem für den Bildjournalismus benennt Sachsse dafür als Gründe die Vertreibung fähiger Fotografen und Fotografinnen aus rassistischen und ideologischen Gründen. Die Qualität der Bildproduktion habe dadurch merklich abgenommen, und es sei ein Personalproblem entstanden, da es kaum fähigen Nachwuchs gegeben habe. Die Amateurfotografie, die in den ersten Jahren des Regimes als Ersatzproduzent, 'ideologisch einwandfreier' Bilder ins Auge fiel, konnte letztlich nicht in die Propagandamaschinerie eingebunden werden, weil die Amateure nicht erreicht werden konnten. Ihr Organisationsgrad blieb zu gering. Zudem war das Eigeninteresse der Amateure und Knipser so ausgeprägt, dass nur wenige für die NS-Propaganda verwertbare Aufnahmen entstanden. So zeigte sich die Strategie, oder was als solche bezeichnet werden könnte, als nur teilweise erfolgreich.

Zwar waren die in der Presse und in Ausstellungen präsentierten Bilder regimekonform, aber nicht so sehr, weil sie speziell den Maßgaben des Propagandaministeriums folgten, sondern weil dessen Bildvorstellungen auf vielfache Weise in fotografischen Traditionen aus der Zeit vor 1933 verankert waren. Wahrscheinlich wurde auch die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten der Bilder unterschätzt; möglicherweise war dies eine Folge des Glaubens an die Dominanz des (gesprochenen und geschriebenen) Wortes.

Ein weiteres Ergebnis von Sachsses Studie ist, dass die Fotografie im NS keine eigene Formsprache entwickelte, sondern sich einerseits (moderat) moderner Bildkonzeptionen aus den 1920er-Jahren bediente, andererseits wesentlich durch Einflüsse aus der Kunstfotografie bestimmt war, die Ende des 19. Jahrhunderts den Großteil der fotografischen Ästhetik beherrschte. Allerdings wurden zwischen 1933 und 1945 bestimmte Motive bevorzugt; darunter Porträts der NS-Größen, allen voran Adolf Hitler, daneben das Idyllische, Ländlich-bäuerliche, die Familie, aber auch die Leistungsfähigkeit deutscher Industrie und nationalsozialistischer Organisationen, um nur einige wichtige zu nennen.

Der Band schließt mit Kapiteln zu Verbrechen des NS-Regimes, zur Fotografie im Zweiten Weltkrieg und zwei Ausblicken zur Fotografie nach 1945, die auf personelle und ästhetische Kontinuität, aber auch auf Neuanfänge verweisen. Den Abschluss bilden einige Überlegungen zum Gebrauch von Bildern aus der NS-Zeit sowie bezüglich unterschiedlicher Traditionen in DDR und Westdeutschland. Hier werden nochmals Fragen nach der Fernwirkung der NS-Bildpropaganda aufgeworfen, die eben durchaus ein 'positives' Bild der eigenen Leistung hat produzieren können, was für den heutigen Umgang mit den Fotografien eine besonders sorgfältige Kontextualisierung erfordert.

Sachsses Buch verdient Beachtung. Eine Übersicht zur Fotografie zwischen 1933 und 1945 war schon lange überfällig. Die Grundthese von der ,,Erziehung zum Wegsehen" bedarf jedoch intensiver Diskussion und zahlreiche Themenkomplexe einer vertiefenden Forschung. Das beginnt schon mit der organisatorischen Frage der Bilderkontrolle, denn es war charakteristisch für den NS-Staat, dass keine Stelle allein entschied, ,Führererlasse' Richtlinien unterlaufen konnten und andere Stellen im Apparat separat handelten. So war beispielsweise die Kontrolle der Auslandsillustrierten ,,Signal", die von 1940 bis 1945 in Auflagen bis zu 2,5 Millionen Exemplaren verbreitet wurde, nicht beim ,,Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" angesiedelt, sondern bei der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes (2). Zudem wären mehr Informationen über den Umfang des fotografischen Gewerbes hilfreich, wie sie aus Statistiken entnommen werden könnten. Auch eine geschlossenere Darstellung der Berufsfotografie einschließlich der journalistisch tätigen Fotografen fehlt noch. Manche Urteile über Entwicklungen müssten geprüft werden, etwa die nicht überzeugende Aussage zur relativen Unwichtigkeit fotografischer Mittel im Krieg. Zusätzliche sachkundige Bildanalyse, wie sie Sachsse aus der Perspektive des gelernten Fotografen in Verbindung mit fotohistorischer Erfahrung zu leisten vermag, wäre ein Gewinn gewesen. Doch dies sind Wünsche an eine zukünftige Forschung, keine grundsätzliche Kritik an der Pionierleistung von ,,Erziehung zum Wegsehen".

Jens Jäger


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Oktober 2004