ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Uwe Hoßfeld/Jürgen John/Oliver Lemuth/Rüdiger Stutz (Hrsg), ,,Kämpferische Wissenschaft". Studien zur Geschichte der Universität Jena im Nationalsozialismus, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2003, 1160 S., geb., 154,00 €.

Die Zahl der Hochschulen, die sich mit der eigenen Vergangenheit während der NS-Diktatur auseinandersetzen, hat seit den 1980er Jahren langsam, aber kontinuierlich zugenommen. Anfangs handelte es sich noch vielfach um ,,alternative" Projekte, die in dezidierter Opposition zur Universitätsleitung entstanden und große Schwierigkeiten hatten, Zugang zu den Universitätsarchiven zu erhalten. Mittlerweile können auch schonungslos kritische Bücher wie das vorliegende mit einem freundlichen Begleitwort des Rektors rechnen.

Der dickleibige Band wird mit einem umfangreichen, sehr informativen Überblicksaufsatz eingeleitet, der die neuere Literatur zur Hochschulgeschichte im Dritten Reich Revue passieren lässt und deren Ergebnisse mit den eigenen Forschungen zur Universität Jena verknüpft. Zu Recht weisen die Autoren (Uwe Hoßfeld, Jürgen John und Rüdiger Stutz) darauf hin, dass den Zentralisierungstendenzen in der Hochschulpolitik gleichzeitig auch starke Dezentralisierungstendenzen gegenüber standen (S. 60). Im Falle Jenas war dabei vor allem der starke Einfluss des Gauleiters Fritz Sauckel von Bedeutung, der direkt oder indirekt - über seinen alten Kampfgefährten, den Rektor und Gaudozentenbundführer Karl Astel - erheblichen Einfluss auf die Geschicke der Universität nahm. Die schon unter den Zeitgenossen weit verbreitete Überzeugung, Jena sei eine besonders stark nazifizierte Universität gewesen, wird als ,,überzogene Wahrnehmung" und ,,plakative Argumentationsweise" abgelehnt (S. 24).

Die Mehrheit der mehr als 30 Beiträge befasst sich mit einzelnen Fakultäten, Instituten oder auch mit einzelnen Hochschullehrern. Neben einigen schwächeren Beiträgen - darunter der Aufsatz über die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät - steht eine ganze Reihe von ausgezeichneten Detailstudien. Zu ihnen gehört Uwe Hoßfelds Essay über die Biowissenschaften, die in Jena schon früh ein Tummelplatz von Alldeutschen (Ludwig Plate) und Nationalsozialisten (Gerhard Heberer, Victor Franz u.a.) waren. Dementsprechend beschreibt Hoßfeld die Entwicklung der Jenaer Biowissenschaften als eine ,,schmale Gratwanderung" zwischen ,,Pseudowissenschaft" und ,,reiner Wissenschaft". Sehr gut gelungen ist auch der Aufsatz von Oliver Lemuth und Rüdiger Stutz über das Verhalten Jenaer Physiker und Chemiker. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit es diesen Wissenschaftlern gelang, unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur ,,berufsständische Eigeninteressen" zu vertreten. Diese Eigeninteressen richteten sich, so die These der Autoren, zunächst gegen Eingriffe der Partei in die Wissenschaft, führten später jedoch zu einer sich verstärkenden Zusammenarbeit im Zeichen des Vierjahresplans und der Aufrüstung.

Von den biographisch angelegten Aufsätzen beschäftigen sich gleich drei schwerpunktmäßig mit dem Jenaer Erziehungswissenschaftler Peter Petersen und seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus - unter Erziehungswissenschaftlern schon seit Jahren ein vieldiskutierter Dauerbrenner. Besonders gelungen ist der Beitrag von Robert Döpp, der Petersens Anpassungsleistungen nach 1933 als Versuch interpretiert, die eigenen bildungspolitischen Ziele auch unter veränderten politischen Bedingungen durchzusetzen. Carsten Klingemann konzentriert sich in seinem interessanten Aufsatz über die Jenaer Soziologie vor allem auf Max Hildebert Böhm (1891-1968). Böhm gilt in der neueren Literatur als einer der führenden Volkstumsexperten des NS-Regimes. Klingemann zeigt jedoch, dass Böhm wegen seiner Distanz zur nationalsozialistischen Rassenideologie massiven politischen Angriffen ausgesetzt war und von SS-Intellektuellen wie Lothar Stengel von Rutkowski wiederholt als Vertreter der ,,Reaktion" denunziert wurde. Matthias Steinbachs Essay über den konservativen Historiker Friedrich Schneider beleuchtet einen oft vernachlässigten Aspekt der Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches: den Anpassungsdruck, den die Verleger auf ihre Autoren ausübten, indem sie ihnen beispielsweise nahe legten, ,,die neueste nationalsozialistische Literatur auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nicht unmittelbar der Fachwissenschaft zuzurechnen ist." (S. 956).

Insgesamt ist dies ein Sammelband von vorzüglicher Qualität, der für die Hochschulen auf dem Territorium der ehemaligen DDR in jeder Hinsicht konkurrenzlos ist. Einige Schwächen und Lücken sind dennoch erkennbar. Auf wackeligen Füssen steht insbesondere die Kritik an der These, die Universität Jena sei eine besonders ,,braune" Hochschule gewesen. Diese These wird nicht wirklich widerlegt, sondern durch eine Gegenthese ersetzt: Charakteristisch für die Entwicklung der Universität Jena sei die Entwicklung von einer eher philosophisch geprägten Hochschule zu einer rassekundlich und naturwissenschaftlich ausgerichteten Universität gewesen. Wirklich überzeugend ist das nicht. Die Entwicklung Jenas zu einem Zentrum der akademischen Rassenkunde dürfte die These von der ,,braunen Universität" eher stützen als widerlegen. Zudem zeigt der statistische Anhang (S. 1106 f.), dass die Zahl der ordentlichen Professoren an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät zwischen 1932/33 und 1944/45 nicht gestiegen, sondern zurückgegangen ist.

Tatsächlich lässt eine solche These sich nur schwer verifizieren oder falsifizieren. Ein brauchbarer Indikator könnte der Anteil der SS-Angehörigen im Lehrkörper sein, doch liegen für die meisten Universitäten noch keine genauen Zahlen vor. Auch der vorliegende Band liefert (abgesehen von dem Beitrag Susanne Zimmermanns über die Medizinische Fakultät) leider keine systematische Untersuchung der Mitgliedschaft von Jenaer Hochschullehrern in politischen Organisationen (vor und nach 1933), wie sie für andere Hochschulen (Hamburg, Bonn, etc.) schon vor einigen Jahren publiziert wurden. Weiter fehlt eine zuverlässige Analyse der Entlassungen jüdischer oder politisch unliebsamer Wissenschaftler nach 1933. Die auf S. 1108 präsentierte Liste vertriebener Hochschullehrer dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit unvollständig sein.

Michael Grüttner, Berlin


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