ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Voswinckel (Hrsg.), Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre. Nachträge und Ergänzungen (Aba - Kom), Bd. 3, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2002, LXXIII + 882 S., Ln., 101 €.

Allgemeine und spezielle biographische Nachschlagewerke haben in den letzten Jahren auch in der Geschichtswissenschaft stark an Popularität gewonnen und die Absatzzahlen geben den Herausgebern recht. In der Medizingeschichte ist die Biographie seit je ein überaus beliebtes Genre, das allerdings manchmal leider bar jeglicher Methodendiskussion betrieben wird. Dass dies nicht so sein muss und medizinhistorische Biographik auf höchster methodischer Reflexion durchgeführt werden kann, zeigt die Arbeit des Medizinhistorikers Peter Voswinckel, der ein weiteres Ergebnis seiner Recherchen vorgelegt hat. Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitet der habilitierte Medizinhistoriker an der Ergänzung des berühmten ,,Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre" von Isidor Fischer, der dieses Nachschlagewerk 1932 / 1933 fertig gestellt hatte. Das Nachschlagewerk Fischers kann dabei in einem Atemzug mit den anderen Pionierarbeiten medizinhistorischer Biographik, etwa der Nachschlagewerke von August Hirsch und Julius Pagel genannt werden.

Voswinckel stellt seine Arbeit nicht nur bewusst in die Tradition Isidor Fischers, sondern sein spezielles Interesse zielt darauf ab, nach ,,nunmehr siebzig Jahren die Lebensläufe von über viertausend Ärzten zu vervollständigen" und damit auch einen ,,Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Europas" (S. VII) zu leisten. Sein Anliegen ist es, Lebensläufe von Ärzten und Medizinern nachzuzeichnen, die während der nationalsozialistischen Diktatur nicht nur aus dem Gedächtnis der Deutschen gelöscht werden sollten, sondern die de facto auch aus den bekannten Nachschlagewerken und Gelehrtenkalendern gestrichen wurden oder deren Beteiligung an wichtigen medizinischen Lehrbüchern einfach durch Streichung negiert wurde.

Jedoch ist für den unkundigen Nutzer des Werkes der Zugang erst einmal erklärungsbedürftig. Da Voswinckel die Arbeiten von Isidor Fischer fortsetzen möchte, ist ,,sein" Nachschlagewerk eigentlich nicht ohne das Grundwerk zu benutzen. Fischer hatte in dem biographischen Lexikon 1932 / 1933 insgesamt 7.800 Personen verzeichnet, von denen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch 4.400 lebten. Fischer selbst wollte später noch Aktualisierungen vornehmen, hatte aber nicht mehr die Möglichkeit dazu: Als österreichischer Jude musste er 1938 das Land verlassen und starb 1943 im englischen Bristol.

Peter Voswinckel hat sich nunmehr die nicht nur lobenswerte, sondern in der Art der Durchführung und Recherche vorbildliche und exemplarische Arbeit gemacht, die Biographien der eben erwähnten 4.400 Ärzte und Mediziner zu vervollständigen. Anzuzeigen ist nunmehr der dritte Band des Nachschlagewerkes (Aba - Kom), der sich durch eine besondere Qualität der Recherche auszeichnet: Voswinckel beginnt in seinen Untersuchungen in vielen Fällen dort, wo herkömmliche Nachschlagewerke aufhören oder ungenaue Verweise auf das Schicksal der Ärzte und Mediziner nach 1933 bzw. nach 1945 machen. Als Ergebnis ist nicht nur ein herkömmliches Nachschlagewerk entstanden, sondern eine Prosopographie der medizinischen Welt Anfang der 1930er Jahre. Vielleicht mag der heutige Leser einige Namen vermissen, die in exponierter Funktion innerhalb der Medizin im Nationalsozialismus tätig waren, doch dem ist wiederum mit der Konzeption des Fischerschen Werkes zu entgegnen. Fischer hatte versucht, die zum Zeitpunkt der Recherche und Niederschrift ,,medizinische Elite" abzubilden, von der sich zwar im Vergleich zu anderen akademischen Eliten überdurchschnittlich viele auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Verantwortung in die Medizin im Nationalsozialismus einbrachten, die aber zum Teil bis 1933 nicht wesentlich in Erscheinung getreten waren oder innerhalb der medizinischen Fachgesellschaften ,,noch" nicht besonders wahrgenommen wurden. Auch war die medizinische Elite in Deutschland Anfang der 1930er Jahre durch einen anderen Aspekt geprägt: den hohen Anteil jüdischer bzw. nach 1933 von den Nationalsozialisten als ,,Juden" definierter Mediziner und Ärzte. Insgesamt schloss der nach 1933 ,,arische" ärztliche Berufsstand ein Sechstel seiner Angehörigen aus. Sie wurden aus Fachgesellschaften entlassen, ihre Namen wurden von den Titelseiten der Lehrwerke verbannt und nach 1945 machte sich kaum jemand daran, dieses auch rein wissenschaftliche Unrecht zu begleichen. Dem kann Voswinckel in seinem Nachschlagewerk entgegnen und konnte das Schicksal vieler Ärzte und Mediziner jenseits der biographischen Zäsur der nationalsozialistischen Diktatur nachzeichnen. Die biographischen Einträge werden durch Literatur- und Quellenverweise ergänzt, so dass der Benutzer eine hilfreiche Ergänzung erhält.

Voswinckels Arbeit ist ein imposantes Werk. Ein gründlicher erarbeitetes, allgemeines biographisches Nachschlagewerk über Mediziner und Ärzte des 20. Jahrhunderts, das sich nicht nur auf eine einzelne Fachdisziplin oder auf Einzelportraits in ambitionierten Sammelbänden konzentriert, wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Der Autor setzt neue Maßstäbe an biographische Nachschlagewerke im allgemeinen und die medizinhistorische Biographik im besonderen.

Zu wünschen bleibt, dass auch der nächste Band bald erscheinen kann, da die Finanzierung, so der Autor, noch nicht gesichert sei. Vielleicht erinnern sich ja einzelne ärztliche Standesorganisationen und Fachgesellschaften an ihre historische Verantwortung und leisten zumindest finanziell ihren Beitrag dazu, dass die von Fischer begonnene und von Voswinckel weitergeführte Biographik der ,,hervorragenden Ärzte" fortgesetzt werden kann und die Mediziner und Ärzte aus der nicht selbstgewählten Vergessenheit in das Interesse des Fachpublikums gerückt werden.

Wolfgang Woelk, Düsseldorf


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