ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Walter Gyßling, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 und Der Anti-Nazi: Handbuch im Kampf gegen die NSDAP, hrsg. und eingeleitet von Leonidas E. Hill, mit einem Vorwort von Arnold Paucker, Donat Verlag, Bremen 2003, 504 S., kart., 25,40 €.

Obwohl Walter Gyßling vor und nach 1933 ein entschlossener, nicht-jüdischer Gegner des Nationalsozialismus und ein mutiger Kämpfer für die Republik war, ist die Geschichte über ihn hinweg gegangen, und er ist heute zu Unrecht weit gehend vergessen. Deshalb sind seine vom Donat-Verlag und von dem kanadischen Historiker Leonidas Hill an der University of British Columbia in Vancouver herausgegebenen Schriften, seine Erinnerungen und der ,,Anti-Nazi" eine Entlarvung der NSDAP und ein wichtiges Zeitdokument. Sie helfen, eine wichtige Phase der deutschen Geschichte zu durchschauen, und dienen als Warnung und Aufklärung für die jüngere deutsche Generation.

Walter Gyßling, der als Journalist, Redner, Propagandist und Lehrer an Gewerkschaftsschulen weder persönlich noch politisch Pazifist, sondern zeitlebens kämpferischer Rationalist und Freidenker, Demokrat und Republikaner war, zeigt in seinen spannend zu lesenden Erinnerungen auf, dass der Weg ins Dritte Reich nicht so zwangsläufig hätte verlaufen müssen, wie es lange Zeit angenommen worden ist.

Hill schildert in seiner Einleitung Leben und politisches Wirken von Walter Gyßling - vor allem die Zeit der Endphase der Weimarer Republik 1928-1933 - eng angelehnt an dessen Erinnerungen, die laut Walter Gyßling selbst nicht von persönlichen und privaten Erlebnissen, sondern von politischen und sozialen Entwicklungen geprägt waren.

Walter Gyßling wurde am 18. März 1903 als Sohn eines wohlhabenden Ingenieurs Schweizer Herkunft und einer Opernsängerin im Münchner Großbürgertum geboren. Seine Erziehung wurde nach dem Tod des Vaters durch seine freigeistige und weltoffene Mutter und der Musikerkreise, in denen sie sich bewegte, dominiert. Er war introvertiert, lernte mit vier Jahren Schreiben, wandte sich mit acht Jahren der Lektüre von Zeitungen zu und war politisch interessiert. Da seine Mutter dem Freidenkertum zugewandt war und er durch sie den Soziologen und Linksintellektuellen Karl Müller-Leyer kennen lernte, wandte er sich von den nationalliberalen Traditionen seines Elternhauses ab und überwandt die Schwierigkeiten der Pubertät durch die Behandlung von Sigmund Freud. Er trat 1917 dem bayrischen Kadettencorps bei. Trotz guter Noten war ihm das Kadettenleben unerträglich, und er nahm an SPD- und USPD-Versammlungen teil. Begeistert begrüßte er das Ende des Ersten Weltkrieges und die bayrische Revolution, wo er sich als Vertreter des Schülerrates und mit seinem Freund George W. F. Hallgarten im ,,Kartell republikanischer Studenten" vor allem gegen völkisch geprägte Kreise an den Universitäten engagierte. Im Zuge der Edition des Nachlasses des 1916 verstorbenen Müller-Leyer las er Werke von Pionieren der Soziologie und Ethnologie sowie die Klassiker der europäischen Literatur bis hin zu Heinrich und Thomas Mann. 1921 wurde er Mitglied der DFG, der Deutschen Friedensgesellschaft, in deren Präsidium er gewählt wurde. 1922 begann er mit dem Studium der Jurisprudenz und Volkswirtschaft in Leipzig. Zu dieser Zeit träumte er davon, Rechtsanwalt zu werden.

Sein Jura-Studium musste er während der Inflation aus finanziellen Gründen aufgeben; er absolvierte ein Volontariat bei der Allgemeinen Zeitung in München und begann gleichzeitig, sich mit der NSDAP auseinander zu setzen (so beispielsweise anlässlich der Gerichtsverhandlungen nach dem Hitler-Putsch). Danach war er Mitherausgeber der linksdemokratischen Regensburger Neuesten Nachrichten. 1928 ging er nach Berlin.

Er arbeitete zunächst im überkonfessionellen Verein zur Abwehr des Antisemitismus mit, der jedoch im Niedergang begriffen war. Dann wechselte er auf Grund seiner Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Bewegung und auf Empfehlung Carl Landauers zum ,,Central Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glauben" (CV) über. Vom CV wurde er beauftragt, in die Hochburgen des Nationalsozialismus zu fahren, um dort die Bewegung zu studieren. Er reiste nach Coburg, Hof, Bayreuth und Helgoland, um die sozialen und ökonomischen Grundlagen des Nazismus zu erforschen. Es folgten weitere Reisen nach Brandenburg, Posen, Westpreußen, Mecklenburg und Pommern, später Sachsen, Thüringen, Braunschweig und Schleswig-Holstein. Anhand seiner Erfahrungen schrieb er Berichte und Memoranden und machte Vorschläge zur Bekämpfung des Nationalsozialismus. Seine Vorschläge, die nationalsozialistischen Erfolge in Franken, Thüringen und Südsachsen durch eine politische, nicht unbedingt nur anti-antisemitische Gegenpropaganda einzudämmen, wurden vom CV jedoch nicht angenommen.

Als Archivar und Journalist arbeitete Walter Gyßling für das ,,Büro Wilhelmstraße" (BW), eine Propagandastelle des CV unter der Leitung von Dr. Hans Reichmann. Das BW gehörte zum CV, war jedoch nach außen hin von ihm getrennt und arbeitete auch unter dem Deckmantel ,,Deutscher Volksgemeinschaftsdienst". Die Aufgaben des BW waren die laufende Beobachtung der nationalsozialistischen Bewegung, ihrer Sozialstruktur, Organisationsstruktur, Ideologie und Agitationsmethoden. Es sollte eigenes Propagandamaterial zusammenstellen sowie neue Formen der Propaganda erarbeiten und erproben. Außerdem diente es zur Erteilung von Auskünften an alle republikanischen Parteien.

Das von Walter Gyßling geleitete Archiv enthielt eine sorgfältig gegliederte Sammlung von Zeitungsausschnitten Berliner Tageszeitungen, nationalsozialistischer Zeitungen und Periodika, so dass es einen Grundstock für eine Bibliothek aus der nationalsozialistischen Literatur darstellte. Außerdem enthielt es Protokolle von sogenannten Spionen, die aus nationalsozialistischen Versammlungen und aus der Szene berichteten.

Das Archiv war die wichtigste Quelle des Büros und umfasste 1933 mehr als 800 Dossiers mit über 500.000 Stichwörtern und über 100.000 Querverweisen. Keine andere Organisation jener Zeit verfügte über ein derartiges Archiv, das über alle Fragen der nationalsozialistischen Bewegung Auskunft geben konnte.

1933 - unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers - gab das BW seine Arbeit auf, und Walter Gyßling half bei Transport und Vernichtung des Archivs in Bayern. Seine Idee lebte jedoch weiter als Modell für Alfred Wieners Jüdisches Zentral-Auskunfts-Büro in Amsterdam und später für die berühmte Wiener Library in London. Seine Unterlagen bildeten auch den Grundstock für die erste Version des 1930 diktierten ,,Anti-Nazi", dessen Titel und Format angelehnt waren an Emil Feldens ,,Anti-Anti-Tatsachen zur Judenfrage".

Der ,,Anti-Nazi" war gedacht als handwerkliches Nachschlagewerk zu allen Aspekten der nationalsozialistischen Politik und ihrer bedeutendsten Führer und war für alle Parteien geeignet, die gegen die NSDAP kämpften. Er erschien in der ersten Auflage zur Septemberwahl 1930, die zweite überarbeitete Auflage erschien anonym im März 1932, diente als Vorlage des hier abgedruckten Exemplars und erzielte bis 1933 eine Auflage von 180.000 Exemplaren. Der ,,Anti-Nazi" gilt als Quellenvermittler und bietet Antwortmöglichkeiten auf die Agitation des Gegners sowie Argumentationshilfen im Kampf gegen die in NSDAP-Versammlungen abgehandelten Themen. Er will anhand verschiedener Themen der Politik die Widersprüche der NSDAP-Ideologie herausarbeiten, vor allem die Gegensätze zwischen Theorie und Praxis, aber auch ihrer Politik, ihre Hohlheit, Gefährlichkeit, Kriegstreiberei, Mordgier und Niederträchtigkeit der Bewegung und ihrer Führer. Die großen Themen wie NSDAP und Rassenfrage, Außen-, Innen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik, die ,,Arbeit in den Parlamenten", Theorie und Praxis, Methoden der NSDAP, die NSDAP im Kampf gegen alle sowie jeweilige Porträts der Führer sind gegliedert in brisante Unterpunkte und behandeln somit das ganze Spektrum der NSDAP.

In erschreckendem Maße wird somit dem Leser vorgeführt, welche wirklich gefährlichen Absichten die nationalsozialistische Bewegung offenbarte, die von Walter Gyßling als einem großen Warner in der Endphase der Weimarer Republik aufgedeckt wurden. Arnold Paucker kommt deshalb im Vorwort zu diesem Buch zu dem Schluss, dass ,,junge Deutsche sich an den Kopf fassen müssten, wenn sie sich vor Augen führen, welchen Verbrechern ihre Großeltern oder Vorfahren einst nachgelaufen sind."

Obgleich Walter Gyßling der SPD-Führung kritisch gegenüber stand, war er Mitglied von SPD, Reichsbanner Schwarz Rot Gold und der gewerkschaftlichen Eisernen Front. Er galt als linksorientiert, lehnte jedoch marxistische Einsprengsel ab und sympathisierte eher mit den sogenannten Neorevisionisten wie Carlo Mierendorff, Julius Leber und Kurt Schumacher. Walter Gyßling kritisierte die Lauheit der SPD-Minister gegenüber dem Nationalsozialismus, die sozialdemokratische Tolerierungspolitik gegenüber Brüning, ihr Festhalten an der Zentrumspartei, am Militär und an Hindenburg sowie ihr Versagen beim Staatsstreich Papens am 20. Juli 1932. In seinen Augen hatten die Massen für ,,geistvolles Zitatenwerk" kein Ohr und kein Verständnis. Nicht ,,intellektuelle Überlegenheit", sondern ,,Festigkeit und Mut" in den Auseinandersetzungen mit den Nazis sowie eine entsprechende Wirtschaftspolitik (z. B. der WTB-Plan) führe zu Erfolgen. Deshalb versuchte Walter Gyßling 1931/32, die Propagandamethoden der Weimarer Koalitionsparteien umzustellen. Er bemühte sich, die SPD für die Ideen der Massenpsychologie von Hendrik de Man und vor allem Sergej Tschakotins zu gewinnen, der als Repräsentant einer modernen, auf der Pawlowschen Reflexionstheorie basierenden wissenschaftlich exakten Theorie galt und sich für eine ,,Symbolpropaganda" stark machte: für eine gefühlsmäßige Agitation, Flugblätter, Klebezettel, illustrierte Zeitungen, Bild- und Schriftplakate für den ,,Parteisoldat in Uniform" (Reichsbanner), Fahnen, Musikkapellen, Großkundgebungen und Demonstrationszüge. Alle Bemühungen waren jedoch umsonst.

Walter Gyßling emigrierte nach einem illegalen Aufenthalt vom 18.-25 März 1933 in die Schweiz. Er arbeitete im Exil als Journalist in der Schweiz und in Frankreich für die Aufklärung gegen Nazideutschland und gehörte dem Verband deutscher Journalisten im Ausland an. Nachdem das NS-Regime ihm 1938 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hatte, wurden er und seine Tochter am 1. Juni 1940 auf Grund seiner Herkunft als Schweizer Bürger anerkannt. 1942 trat er der Schweizer Sozialdemokratie bei. Er verkehrte mit anderen Emigranten, wahrte jedoch Verschwiegenheit über seine Rolle vor 1933 in Deutschland und zwischen 1933 und 1939 in Paris.

Von Juli 1946 bis 1958 arbeitete er als Korrespondent für Schweizer Zeitungen in Paris. In den letzten Jahren widmete er sich mehr der kulturellen (Theater, Ballett) und der aufklärerisch-erzieherischen Berichterstattung. Er verfolgte die Geschichte des Christentums und übte scharfe Kritik am Katholizismus und der Politik des Vatikans. Er wandte sich gegen die Folterpraktiken südamerikanischer Diktaturen und gegen die Verwendung von Vatikangeldern in der Rüstungsindustrie. Die Machteinbuße des von ihm kritisierten Christentums sah er in einer ,,guten Bildungspolitik" gewährt. Als Rationalist verfolgte er ein ,,nichtautoritäres Bildungsziel", die Entfaltung der Persönlichkeit in einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Demokratie.

Als Hauptautor des ,,Humanistischen Manifests" 1974 vertrat er die Position der Freidenkervereinigung und ihrer Zeitschrift: u.a. die Trennung von Staat und Kirche, Weltfriede, Hilfe für Entwicklungsländer, gleiche Bildungschancen für alle Geschlechter und jeglicher sozialer Herkunft, uneingeschränkte Emanzipation der Frau (Zugang zu Verhütungsmitteln und straffreie Abtreibung), wirksame Umweltschutzmaßnahmen und die Eindämmung der Bevölkerungsexplosion. Am 4. Oktober 1980 starb er in Zürich.

Dank seiner mütterlichen Erziehung war er zeitlebens ein Rationalist und Freidenker, ein ,,kultivierter Schweizer, Deutscher und Europäer". Während ihm das kaiserliche Deutschland wesensfremd blieb, setzte er sich ab 1918 sofort mutig und aktiv für die Republik ein. Seine Autobiografie zeigt ihn als scharfen Beobachter der deutsch-völkischen Kräfte und weitsichtigen Warner vor der faschistischen Gefahr. Sein Wissen und die Einschätzung des Nationalsozialismus war zu jener Zeit einmalig, und er gehörte zu den wenigen, die die Konsequenzen aus Hitlers Machtübernahme voraus sahen.

Das Buch zeichnet sich durch eine hervorragende Edition aus: Es enthält Informationen zum jeweiligen Lebenslauf und Tätigkeitsbereich der im Anti-Nazi attackierten NS-Führer sowie eine umfangreiche Bibliografie, die Archivalien, Korrespondenzen und Interviews, Zeitungen und Zeitschriften, Dokumentationen, Quelleneditionen und Sekundärliteratur umfasst.

Rosemarie Leuschen-Seppel, Bonn


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | September 2004