ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburger Edition, Hamburg 2003, 350 S., geb., 30,00 €.

Der lange und schwierige Prozess um die Neuformulierung des Zuwanderungsgesetzes verweist in mancher Hinsicht auf eine zweifelsohne schon lange bestehende Pluralität in der bundesdeutschen Gesellschaft: Rund acht Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben heute in der Bundesrepublik Deutschland. ,,Migrationsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart haben dazu geführt, daß die bundesdeutsche Gesellschaft heute eine ähnliche ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt aufweist wie andere Einwanderungsgesellschaften" (S. 7/8). Diese bildet den Ausgangspunkt der im Herbst 2003 im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung publizierten Dissertation ,,Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland".

Die Verfasserin Viola B. Georgi fragt in ihrer Studie nach dem Geschichtsbewusstsein und den Geschichtsbildern junger Migranten in Deutschland und darüber hinausweisend nach deren zukünftigem Einfluss auf die Erinnerungskultur der BRD. Dabei bezeichnet sie die Erinnerung an den Nationalsozialismus und an die Shoah als die zentralen und folgenreichen Fixpunkte in der jüngeren deutschen Geschichte und fragt nach der Bedeutung von beiden für das Selbst- und Fremdverständnis der jugendlichen Migranten in Deutschland. Denn der Blick auf die Shoah und der gesellschaftlich-politische Umgang mit der Erinnerung daran gehören ,,zum Kernthema der Verhandlung von Identität und Zugehörigkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft"(S. 11). Indem Georgi jedoch Menschen ins Blickfeld nimmt, die weder unmittelbar als Nachkommen der Täter oder Mitläufer noch als Angehörige der Opfer des Nationalsozialismus kategorisiert werden können, geht sie über die meisten der in großer Anzahl vorliegenden Veröffentlichungen zur Erinnerungskultur in der BRD hinaus.

Aus dieser skizzierten Grundkostellation leitet die Verfasserin eine Reihe von Fragen ab, welche Bedeutung die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust für jugendliche Migranten in der BRD hat; wie sich diese zur deutschen Vergangenheit ins Verhältnis setzten und wie sich die NS-Geschichte auf die Konstruktion ihrer Zugehörigkeiten auswirkt; ob die deutsche Vergangenheit bei der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft eine Rolle spielt oder nicht. Ob sie sich stärker als auf die deutsche Vergangenheit auf die Geschichte ihres Herkunftslandes beziehen und welche historische Orientierung sich bei bikulturellen Familien ergibt.

Der erste Teil erschließt den theoretischen Bezugsrahmen, innerhalb dessen die empirische Fallstudie angelegt ist. Er wird im Wesentlichen durch drei Koordinaten bestimmt: zum einen durch die Forschungsliteratur, die sich mit dem Geschichtsbewusstsein theoretisch auseinandersetzt, hauptsächlich Bodo von Borries, Jörn Rüsen und Michael Jeismann. Dabei folgt die Studie Jeismanns Definition von Geschichtsbewusstsein als komplexem Geflecht gedeuteter Vergangenheit, wahrgenommener Gegenwart und erwarteter Zukunft: Ausgehend von einem Identitätsbegriff, der historische Selbstreflexion meint, wird nach dem Geschichtsbewusstsein von Individuen als historischer Selbstpositionierung gefragt. Die zweite theoretische Koordinate nimmt das Konzept von ethnischer und historischer Identität in den Blick und macht die historische Bedingtheit solcher Identitätskonstruktionen (Heckmann 1991) plausibel. Die dritte bedient sich im Wesentlichem der Erinnerung- und Gedächtnistheorie von Maurice Halbwachs und Jan Assmann und fragt nach dem Zusammenhang von Erinnerung und Gruppenbezug sowie nach den ,,Erinnerungskonkurrenzen", mit denen sich junge Migranten in Deutschland konfrontiert sehen. Die aus diesen theoretischen Vorüberlegungen hervorgegangenen Grundprämissen über die Zusammenhänge von Identität und Geschichtsbewusstsein in Migrationskontexten sind äußerst aufschlußreich und überzeugen. Zugleich wird den Lesern das theoretische Rüstzeug für die folgenden Fallstudien an die Hand gegeben.

Die sich anschließende Untersuchung fußt auf 55 biografisch orientierten Interviews von jungen Menschen zwischen 15 und 20 Jahren mit unterschiedlichem Migrationshintergrund. Davon präsentiert die Autorin in ihrer Studie elf exemplarische Fallanalysen, in denen Migranten in sehr unterschiedlicher Form ihre eigene Identität zur deutschen Geschichte in Beziehung setzen. Das Ergebnis ist eine Typologie der Aneignung von NS-Geschichte und Holocaust durch die Migranten, welche vier kategoriale Motive fokussiert:

Der erste Typus besteht in einer Beschäftigung und Identifikation mit den ,,Opfern der NS- Verfolgung" (S. 300). In Analogiebildung wird dabei die eigene Situation als ,,Migrant" oder ,,Ausländer" in der deutschen Aufnahmegesellschaft und die Möglichkeit, selber zum Opfer zu werden, thematisiert.

Der zweite Typus zeichnet sich durch Teilidentifikation mit der ,,deutschen Aufnahmegesellschaft als Gesellschaft der ehemaligen Zuschauer, Mitläufer und Täter" (S. 301) aus. Dabei werden Mythen der deutschen Vergangenheitsbewältigung aufgegriffen und reproduziert, sowie Schuld und Verantwortung angesichts der deutschen historischen Vergangenheit adaptiert. Als wesentliches Motiv für diese Art von 'Täteridentifikation' erscheint das Bedürfnis dazuzugehören.

Die dritte Möglichkeit einer Selbstpositionierung in Bezug auf die deutsche Vergangenheit besteht in einer ,,exklusiven Teilhabe" (S. 303). Die enge Bindung an ,,die eigene ethnische oder religiöse Gemeinschaft" mit ihrer Geschichte und Selbstverortung ist so stark, dass die tradierte Leidensgeschichte der eigenen Familie oder ethnischen Gruppe im Vordergrund steht und Nationalsozialismus und Shoah nur in Bezug auf diese erzählt werden können. Zugleich ist damit gegenüber der deutschen Gesellschaft ein äußerst tragfähiges Vehikel gefunden, der eigenen Verfolgungserfahrung Gehör zu verschaffen.

Der vierte Typus positioniert sich selbst entlang der grundsätzlichen Fragen ,,wie und weshalb Menschen unter bestimmten historischen, politischen und sozialen Bedingungen zu Opfern, Zuschauern, Mitläufern oder Tätern werden konnten und können." (S. 306). Diese Gruppe setzt einen ideellen Begriff von Menschheit als ihre historische Bezugsgruppe ein.

So einleuchtend die vorgenommene Systematisierung in vier verschiedene Typen des Geschichtsbezugs auch erscheint, so entsteht doch der Eindruck, dass dadurch das Potenzial der Studie beschnitten wird. Nicht alle der in der Einleitung aufgeworfenen höchst interessanten Fragen werden umfassend und thesenbildend beantwortet. Denn die vorhandenen und in den Fallstudien erkennbaren Resultate verlieren sich in der Allgemeinheit der Kategorisierung. So wäre zum Beispiel eine These dazu interessant gewesen, unter welchen Voraussetzungen jugendliche Migranten die Geschichte ihres Herkunftslandes als Bezugspunkt bevorzugen, trotz der äußerst geringen Bedeutung, die dem nationalkulturellen Hintergrund zukommt. Oder auch eine These über eine mögliche unmittelbare Bedingtheit des Besitzes der deutschen Staatsbürgerschaft und der Argumentation des zweiten Typus, nämlich einer Übernahme und Reproduktion deutscher Vergangenheitsbewältigung.

Dass die Möglichkeiten der historisch-politischen Selbstpositionierung sehr vielfältig und kontextgebunden sind, ist, wenngleich naheliegend, eines der zusammenfassenden Ergebnisse dieser Studie. Weiterführend erscheint der überraschende Befund, dass der nationalkulturelle Hintergrund der Jugendlichen nur eine äußerst geringe Rolle für die Art und Weise der Bezugnahme auf die NS- Geschichte spielt. Schon dies verweist auf eine vom Ethnisch-Nationalen losgelöste Rezeptionsweise der deutschen NS- Geschichte und der Shoah. Das in der Tat weitreichendste Ergebnis der Studie ist, daß Aspekte des Typus IV, also eines universalistisch argumentierenden Menschheitsbezugs in allen Interviews anklingen. Die Shoah erscheint als mehr oder weniger abstrahierter Bezugsrahmen für ein moralisch aus unterschiedlichsten Kontexten begründetes Recht der Opfer auf Erinnerung und Schuldanerkennung. Sie wird somit im Geschichtsbewusstsein der jugendlichen Migranten zum geschichtstheoretischen ,,Motiv". Für die Frage nach der Zukunft der Erinnerung innerhalb einer pluralisierten deutschen Gesellschaft ist dieser Befund der Verfasserin grundlegend. Denn der universalistische Ansatz könnte aus der ethnisch-national definierten exklusiven Schicksalsgemeinschaft, die in der Tradition einer völkisch gedachten Gemeinschaft steht, herausführen in eine inklusiv argumentierende ,,moralische Erinnerungsgemeinschaft".

So weist der Schlussteil der Studie in den Kapiteln, ,,Die Zukunft der Erinnerung" (S. 309) und ,,Plädoyer für eine historisch orientierte Menschenrechtsbildung" (S. 315) über ihre Ergebnisse hinaus und nimmt bewusst die gesellschaftlich-politische Bedeutung der Debatte um die deutsche Vergangenheit wahr. Damit leistet Viola B. Georgi einen beachtenswerten Beitrag zu einer zeitgemäßen Auseinandersetzung und Einordnung der NS-Geschichte, welche nicht in einem partikularistischen Konzept einer ethnisch-national definierter exklusiver Erinnerungsgemeinschaft verharrt.

Lou Bohlen, Bochum


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