Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Ulrich S. Soènius, Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Familie Scheidt in Kettwig 1848-1925 (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 40), Rheinisch-Westfälisches Wirtschafts-Archiv, Köln 2000, 800 S., kart., 30,00 €.
Die neuere Bürgertumsforschung hat ihren Gegenstand in den letzten zwei Jahrzehnten aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachtet. Sie hat sich mit der Konstitution von Bürgertum in öffentlichen Handlungsräumen beschäftigt, einzelne bürgerliche Berufs- und Statusgruppen profiliert oder die Diskursfelder abgesteckt, auf denen über Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft verhandelt wurde. Als schwieriger hat es sich erwiesen, die Konstituierung von Bürgertum und Bürgerlichkeit in den Sphären des Privaten nach zu verfolgen, die naturgemäß weit weniger gut durch Archivgut und zeitgenössische Publikationen dokumentiert ist. Um bürgerliche Lebensstile und Verkehrskreise, Habitusformen und soziale Praktiken oder die bürgerliche Familie als Sozialisationsinstanz ersten Ranges und als zentrale Institution der Vermittlung sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals in der Generationenfolge in empirischer Dichte und über längere Zeiträume hinweg in den Blick nehmen zu können, ist die Bürgertumsforschung in starkem Maße auf die Zufälle der Überlieferung angewiesen. Geradezu ein Glücksfall ist dem Autor der vorliegenden Studie mit dem Familiennachlass der Textilunternehmerfamilie Scheidt aus Kettwig an der Ruhr widerfahren. Ulrich Soènius stand für seine Untersuchung ein Quellenfundus von Selbstzeugnissen - vor allem eine umfangreiche, bis in die 1830er-Jahre zurückreichende Privat-Korrespondenz - zur Verfügung, mit dem sich die Geschichte einer wirtschaftsbürgerlichen Familie über drei Generationen bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in außergewöhnlicher Dichte schreiben ließ. Ergänzt wurde der Familiennachlass Scheidt zudem durch eine gezielte Erfassung umfangreichen staatlichen, kommunalen und unternehmenshistorischen Archivguts.
Soénius verknüpft in seiner exemplarischen Studie die private und öffentliche Sphäre wirschaftsbürgerlicher Existenz. Zum einen beschäftigt er sich in großer Ausführlichkeit mit den verschiedenen Bereichen ,,des privaten Alltags einer wohlhabenden Familie" (S. 41). Zunächst geht es um die familiäre, schulische und universitäre Sozialisation von drei Generationen der Familie Scheidt. Dann nimmt der Autor das Feld der Ehe und Familiengründung in den Blick: Liebe und Partnerwahl, Sexualität, Schwangerschaften und Geburten. Es folgt der weite Bereich bürgerlicher Lebenshaltung: die Organisation der häuslichen Wirtschaft, Essen und Kleidung, Wohnkultur und Freizeitgestaltung. Den Abschluss dieses ersten Teils bildet ein Kapitel über Familienfeiern (Hochzeiten, Begräbnisse, Familientage u.ä.) als Ausdruck bürgerlicher Selbstdarstellung. Zum Anderen untersucht Soénius das Engagement der Scheidts als Bürger im politischen Sinne auf verschiedenen Ebenen der lokalen, regionalen und gelegentlich auch der nationalen Öffentlichkeit. Selbst die ,,hohe Politik" kommt hier manchmal ins Spiel, vor allem bei Julius Scheidts Wirken als Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung 1848/49 und seiner persönlichen Freundschaft mit Bismarck. Meist zeichnet Soènius die (männlichen) Mitglieder der Familie Scheidt allerdings weniger als politisch Handelnde, sondern skizziert eher Haltungen und Meinungen der Protagonisten, um exemplarisch die politische Mentalität des Wirtschaftsbürgertums und ihren Wandel zwischen 1848er-Revolution und Weimarer Republik aufzuzeigen. Ein weiterer Themenschwerpunkt im zweiten Teil befasst sich mit der kommunalpolitischen Tätigkeit der Mitglieder der Unternehmerfamilie Scheidt und der Einflussnahme auf die städtische Verwaltung ,,ihrer" Stadt Kettwig. Es geht dann um die Beteiligung der Scheidts an wirtschaftlichen Projekten, ihre Betätigung in Vereinen und Wirtschaftsverbänden und ihr karitatives Engagement. Schließlich verfolgt der Autor die Mitwirkung der Männer der Familie Scheidt an national-patriotischen Festen und ihre Stellungnahmen, Haltungen und Bewältigungsstrategien zu einzelnen, meist krisenhaften Ereignissen im Untersuchungszeitraum, den Revolutionen von 1848 und 1918, den Einigungskriegen 1864/71 und dem Ersten Weltkrieg sowie der Inflation und der französische Besatzung nach 1918. Ein drittes mögliches Untersuchungsfeld, das Unternehmen und die unternehmerische Tätigkeit der Scheidts, bleibt dagegen weit gehend ausgeklammert.
Soénius beschränkt sich in seiner Studie nicht auf eine gewissermaßen positivistische Darstellung der Taten, Lebensumstände und Meinungen der Familie Scheidt, sondern tritt mit dem Anspruch an, am gut dokumentierten Einzelfall allgemeineren Fragestellungen nachzugehen und Forschungsthesen kritisch zu überprüfen. Durch eine bemerkenswert breite Rezeption der Sekundärliteratur gleicht er die eigenen empirischen Befunde mit bisherigen Ergebnissen der historischen Bürgertumsforschung ab. Soénius geht etwa - um nur ein kleines Beispiel aus der Vielzahl der behandelten Themenstellungen herauszugreifen - bei der Untersuchung der Wahl der Ehepartner in der Familie Scheidt der Frage nach, inwiefern wirtschaftsbürgerliche Eheschließungen sich, wie von einer Reihe von Autoren behauptet, primär an ökonomischen Gesichtspunkten orientierten. Es gelingt ihm dabei recht überzeugend darzulegen, dass die Kapitalversorgung des Unternehmens oder der Aufbau ökonomisch nutzbarer Netzwerke bei der Wahl von Ehepartnern keine Rolle spielten, und dass auch im Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts 'Liebesheiraten' wohl die Regel gewesen sind. Den hohen Grad sozialer Endogamie führt der Autor vor allem auf die engen sozialen Verkehrskreise wirtschaftsbürgerlicher Familien zurück, die auch den ,,Heiratsmarkt" der Unternehmersöhne und -töchter strukturierten (S. 155 f., 172 ff-, 180-198). Bei solchen Fragestellungen kann Soénius die Stärken seiner Vorgehensweise ausspielen: Ein dichter Quellenfundus privater Selbstzeugnisse ermöglicht es ihm hier, die tatsächlichen Intentionen, Motive und Vorstellungen der beteiligten Personen herauszuarbeiten - anstatt etwa von den Verflechtungsmustern wirtschaftsbürgerlicher Familien auf eine systematische ökonomische Instrumentalisierung der Unternehmer-Ehe kurzzuschließen.
Allerdings hätte es der Lesbarkeit des Werkes sicher gut getan, wenn das Panorama der Scheidtschen Familiengeschichte, das sich auf mehr als 700 eng bedruckten Seiten entfaltet, etwas weniger ausführlich und detailliert geraten wäre. Auch hätte man sich bisweilen gewünscht, dass die vielen einzelnen Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände stärker um strukturierende Grundfragen gebündelt worden wären. Gerade in der Entwicklung der allgemeineren Fragestellungen und theoretisch-methodischen Fundierung des Themas offenbaren sich doch gewisse Schwächen. So formuliert Soénius in der Einleitung einige grundlegende Hypothesen, die er in seiner Untersuchung am Beispiel Scheidt überprüfen will. Die erste dieser Hypothesen grenzt den ,,Wirtschaftsbürger" auf den Unternehmer im klassischen Sinne ein - den Fabrikanten, den Kaufmann und den Bankier - und ordnet ihm zwei weitere Bestimmungsmerkmale zu. Erstens könne nur der als Wirtschaftbürger gelten, der eine innovative unternehmerische Leistung vollbringe, die ,,über das normale Maß an Unternehmensleistung in rein organisatorischer Form" hinausgehe. Zweitens entwickele sich ,,Bürgerlichkeit" erst in der öffentlichen Wirksamkeit des Unternehmers (S. 35). Nun kann eine solche dezisionistische Definition des ,,Wirtschaftsbürgers" streng genommen nicht empirisch überprüft werden, und so wiederholt Soénius am Schluss im Grunde nur das, was er in der Einleitung behauptet hat (S. 692 f.) Dass man es bei den tragenden Figuren der Familie Scheidt mit waschechten Wirtschafts-Bürgern zu tun hat, besitzt einen recht geringen Erkenntniswert und hätte eher in die Einleitung gehört.
Doch diese kritischeren Anmerkungen sollten den Gesamteindruck nicht allzu sehr trüben. Ulrich Soénius ist mit seiner exemplarischen Studie einer wirtschaftsbürgerlichen Familie im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Arbeit gelungen, die auf viele Fragen der Bürgertumsfoschung empirisch gesättigte Antworten zu geben vermag.
Michael Schäfer, Bielefeld/Chemnitz