ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Jansen (Hrsg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 3), Klartext Verlag, Essen 2004, 314 S., brosch., 16,90 €.

'Militarismus', wie auch immer definiert, ist einer der Tragpfeiler jener Deutungen des deutschen Kaiserreichs, die einen deutschen Sonderweg postulieren. Obwohl solche Interpretationen implizit auf einem Vergleich mit anderen europäischen Gesellschaften basieren, sind komparative Analysen (trotz einiger einschlägiger Arbeiten jüngeren Datums) noch immer rar. Dieser Band, aus einer Konferenz des Arbeitskreises Historische Friedensforschung hervorgegangen, nimmt sich nun dieses Themas an. Er versammelt neben der Einleitung des Herausgebers und einschlägigen Rezensionen elf meist vergleichende Beiträge.

In seiner Einleitung definiert Christian Jansen ,,Militarismus" recht weit als ,,eine politische Mentalität [...], die militärische Verhaltensweisen auf andere gesellschaftliche Bereiche als das Militär überträgt und zu einer allgemein handlungsleitenden Norm macht" (S. 12). Durch einen definitorischen Kunstgriff kann Christian Jansen schon europäische Gemeinsamkeiten feststellen: Er nimmt nämlich an, dass ,,der bürgerlichen Ideologie von Anfang an ein spezifischer 'Militarismus' [...] inhärent" war (S. 9). Mit dieser Eingrenzung macht Jansen auch klar, dass es in dem Band nicht nur um vergleichende Militarismusforschung geht, sondern vor allem um einen innovativen Beitrag zur Bürgertums- und Nationalismusforschung. Es geht dem Herausgeber nämlich vor allem um den Zusammenhang gesellschaftlicher Gewaltpotenziale mit militärischen und politischen Inklusionsforderungen.

Der erste Teil des Bandes untersucht diesen Zusammenhang auf ideen- und diskursgeschichtlicher Ebene. Besonders erwähnenswert sind die Erörterungen Rudolf Jauns zur Wahrnehmung der schweizerischen Miliz durch deutsche Radikal-Liberale und Demokraten im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und Jörn Leonhards konzise Analyse der Diskussionen um den Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von den 1860er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg.

Auch die vergleichenden Beiträge im zweiten Teil des Bandes, welcher der gesellschaftlichen Rezeption dieser Prozesse gewidment ist, bereichern unser Wissen von europäischen Militarisierungsprozessen. Die Autoren arbeiten präzise interessante Parallellen verschiedenener europäischer Gesellschaften heraus. Vor allem Bernhard Schmitts lesenswerter Aufsatz zur gesellschaftlichen Rezeption der Wehrpflicht in Norditalien und in der Rheinprovinz 1815-1866 zeigt die Stärken eines solchen Vergleichs.

Für eine Gesamtschau von Militarisierungsprozessen ist allerdings problematisch, dass nicht immer klar wird, ob es sich nun bei ,,Militarismus" schlicht um eine diskursive Konfiguration, um ein ideengeschichtliches Konzept oder um eine soziale Praxis handelt: Oft wird der Begriff für alle drei Bereiche verwendet, so dass die analytischen Ebenen durcheinander geraten. Diese Probleme weisen auf ein Manko hin, welches den Ansatz des Bandes kennzeichnet. Es fragt sich nämlich, ob der Begriff ,,Militarismus", zumindest in der Art und Weise, wie er hier verwendet wird, geeignet ist, jene Zusammenhänge zu erhellen, um die es dem Herausgeber geht. Interessanterweise haben nur wenige Autoren neuere Ansätze in der neueren Militarismusforschung zur Kenntnis genommen, welche hervorheben, dass der Begriff ,,Militarismus" von Beginn seiner Verwendung an politischer Instrumentalisierung diente und oft zur Kennzeichnung von Prozessen herangezogen wurde, welche mit dem Militär an sich wenig zu tun hatten, sondern Abwehrreaktionen gegen Bürokratisierungs- und andere Modernisierungsprozesse darstellten. Das große Potenzial eines solchen neueren Ansatzes zeigt sich in Christa Hämmerles höchst instruktiven Bemerkungen zur Geschichte der Wehrpflicht in der multinationalen Habsburgermonarchie. Sie arbeitet in beeindruckender Weise die politisch-sozialen Entstehungsbedingungen des Militarismusdiskurses in der Habsburgermonarchie heraus und verortet sie im Zusammenhang einer ,,aggressiv-kriegstreiberischen Reaktion des Berufsmilitärs auf die mannigfaltigen sozialen, politischen und nationalistischen Spannungen der Zeit" (S. 208). Gerade über diese Verschränkung von Fremdwahrnehmung und Selbstbeschreibung hätte man gerne bei den anderen Autoren noch mehr gelesen. Trotz dieser Kritik zeigt der Band, wie gelungen eine Erweiterung des traditionellen Sachgebiets der historischen Friedensforschung umgesetzt werden kann. Und nicht zuletzt ist es ein großes Verdienst des Bandes, vergleichende Arbeiten in einem Forschungsfeld zu versammeln, welches noch zu häufig als nationale Nabelschau verstanden wird.

Holger Nehring, Oxford


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