ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christoph Conrad/Jürgen Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2001, 336 S., kart., 17,00 €.

Die Debatte um die Zukunft des Nationalstaates stößt sowohl in der Sozialwissenschaft als auch in der Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren auf beträchtliche Resonanz. Vor allem in Deutschland wird kontrovers über Etikettierungen wie postklassischer Nationalstaat (Heinrich August Winkler), postnationale Konstellation (Jürgen Habermas) oder postnationaler Staat (Martin Albrow) diskutiert. Als Argumente dienen neben institutionellen Analysen vor allem Untersuchungen zur Identität sowie zur Einbindung des Bürgers in Staat und Gesellschaft. Zentrale Bedeutung hinsichtlich der partizipativen Dimension wird der Zivilgesellschaft zugeschrieben, die in den 1980er-Jahren als demokratietheoretisches Konzept weltweit ihre Renaissance feierte. Angesichts ihrer Funktion bei der friedlichen Systemtransformation in Lateinamerika und beim Zerfall der kommunistischen Herrschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa, wird die Zivilgesellschaft als Blaupause zur Überwindung der aktuellen Herausforderungen und Probleme von Staaten apostrophiert - in Westeuropa insbesondere mit Blick auf die Legitimität und Zukunftsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates. Zum wichtigsten Forum zivilgesellschaftlicher Forschungen hat sich in Deutschland das 1998 in Berlin gegründete Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) entwickelt, was sich auch in einem viel zitierten Sammelband des ZVGE zur europäischen Zivilgesellschaft widerspiegelt.(1)

Als komplementäres Gegenstück zu dieser Publikation haben die beiden Sozialhistoriker Christoph Conrad und Jürgen Kocka im Jahr 2001 einen zweiten Aspekt ins Blickfeld der Debatte über die Zukunft des Nationalstaates gerückt, der bis dahin zwar politisch breite Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, von der Wissenschaft aber noch nicht in gleichem Maße erforscht wurde: die Staatsbürgerschaft in Europa. Neben dem Staatsgebiet und der Staatsgewalt gilt das Staatsvolk - und damit der Staatsbürger - als konstitutives Kriterium eines Staates. In dem Sammelband von Conrad und Kocka, der auf den Beiträgen einer internationalen Wissenschaftlerkonferenz in Hamburg im Jahre 1999 fußt, wird aus interdisziplinärer Perspektive die Frage verfolgt, wie und unter welchen Bedingungen man Mitglied eines Staates bzw. einer Gesellschaft in Europa wurde - mithin wie sich Staatsbürgerschaft in Europa begründet. Hierzu setzen sich die beiden Herausgeber zunächst mit der Terminologie auseinander. Ein engeres, formales Verständnis von Staatsbürgerschaft − im deutschen Sprachraum dem Begriff der Staatsangehörigkeit oder im englischen der nationality entsprechend − wird von ihnen als rechtliche Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu einem Staat definiert. Dem steht ein weiteres Begriffsverständnis von Staatsbürgerschaft oder citizenship gegenüber, das in Anlehnung an den britischen Soziologen Thomas H. Marshall auf die politisch-partizipative und soziale Teilhabe sowie - mit den Worten Conrads und Kockas - auf ,,Pakete" von Rechten und Pflichten der Bürger im Staat zielt. Die Herausgeber verdeutlichen in ihrer Einleitung, dass beide Begriffe im Alltagsgebrauch oftmals synonym verwendet werden, in der Bundesrepublik etwa im Kontext der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft, plädieren aber für eine trennschärfere Abgrenzung. Als grundlegend für den Erwerb bzw. den Verlust von Staatsangehörigkeit bzw. Staatsbürgerschaft wurden bisher die rechtlichen Bestimmungen eines Staates betrachtet. In dieser Sichtweise dominieren zwei Prinzipien: zum einen das vor allem in Europa (nicht aber in Frankreich) geltende ius sanguinis - das Abstammungsprinzip - dem zufolge Kinder die Staatsangehörigkeit desjenigen Staates annehmen, aus dem die Eltern stammen, unabhängig von dem Land, in dem sie geboren wurden. Zum anderen das vor allem in Nordamerika geltende ius solis - das dem Territorialprinzip folgende Geburtsrecht - demzufolge jeder in einem Staat Geborene auch dessen Staatsangehörigkeit erhält.

Ausgehend von diesen Determinanten bisheriger Staatsbürgerschaftsdiskussionen ist der Sammelband in vier thematische Rubriken unterteilt. In einem ersten historisch ausgerichteten Abschnitt wird der Begriff der Staatsbürgerschaft durchleuchtet und in Bezug zur Entwicklung europäischer Nationalstaaten gesetzt. Der Birminghamer Historiker John Breuilly kommt in dem insgesamt wohl wichtigsten Beitrag des Bandes zu dem Ergebnis, dass die Idee der Staatsbürgerschaft im Nationalstaat noch einen ,,einheitlichen und definitiven Charakter" hatte, da sie in ihm gebündelt wurde. Mit dem unterstellten Ende des Nationalstaats verliert das Konzept der Staatsbürgerschaft jedoch an Bedeutung und an Homogenität. Vor diesem Hintergrund fordert Breuilly die Unterscheidung in differenzierte Dimensionen von Staatsbürgerschaft. Dieter Gosewinkel, Historiker am Wissenschaftszentrum Berlin, vergleicht in seinem Beitrag die Staatsbürgerschaft in Deutschland und Frankreich. Im Gegensatz zu der klassischen Arbeit von Rogers Brubaker sieht er die Unterschiede im Staatsangehörigkeitsrecht jedoch nicht in nationalen Unterschieden begründet, die er aus konstruktivistischer Sicht als politische Selbststilisierung der Eliten wertet, sondern in den ,,Rahmenkonstellationen", unter denen sich nationale Unterschiede herausbildeten. Entsprechend bilanziert er angesichts veränderter politischer Rahmenbedingungen eine zunehmende Konvergenz in den staatsbürgerschaftlichen Regelungen Frankreichs und Deutschlands. Aus feministischer Sicht untersucht die Frankfurter Soziologin Ute Gerhard die Bedeutung der Geschlechterzugehörigkeit bei der Herausbildung von Staatsbürgerrechten. Sie folgert, dass Frauen vor allem informelle Formen bürgerschaftlichen Engagements prägen und fordert vor diesem Hintergrund, dass die Fürsorgetätigkeit (von Frauen) in die Konzeptionalisierung von Staatsbürgerschaft eingebunden werden sollte. Der Pariser Historiker und Migrationsexperte Patrick Weil plädiert dafür, neben den bekannten juristischen Kategorien der Staatsangehörigkeit auch die Aspekte Ehestand und Wohnsitz mit einzubeziehen, da sie ,,die Verfahrensweisen, durch welche Staatsbürgerschaft entweder übertragen oder erworben wird", bestimmen. Begründet auf eine Analyse von 25 politischen Systemen widerspricht auch er der Ansicht, dass unterschiedliche Formen der Staatsangehörigkeit sich aus divergierenden Nationenkonzepten ergeben. Stattdessen erkennt er einen Trend zur Annäherung - zumindest unter den stabilen demokratischen Nationalstaaten.

Ein zweiter, soziologisch geprägter Abschnitt des Sammelbands verfolgt die Frage von Staatsbürgerschaftskonzepten jenseits der Nation, indem das Verhältnis von Migration und Staatsbürgerschaft untersucht wird. Rogers Brubaker von der University of California in Los Angeles analysiert − in einem diachronen Vergleich der Weimarer Republik und des postsowjetischen Russlands − Bürger, die in einem Staat leben, aber eine andere Staatsangehörigkeit besitzen. Brubaker folgert, dass in diesem Zusammenhang dem Begriff der Diaspora zentrale Bedeutung zukommt. Diaspora wird, so Brubaker, immer mehr zu einer praktisch gelebten Daseinsform, während die Teleologie der Rückkehr verblasst. Die in Essex lehrende Soziologin Yasemin Nuhoglu Soysal widerspricht diesem Ansatz und stellt in ihrem Beitrag das Konzept der Diaspora im modernen Europa in Frage.

Ein dritter Abschnitt des Buches richtet den Blick auf Osteuropa und die dortigen Krisenherde. Aus allen fünf Beiträgen dieser Sektion wird deutlich, welches Krisenpotenzial eine ,,Landkarte der Konflikte" birgt, denn gerade in den angeführten Beispielen zeigt sich, dass das Spannungsverhältnis von Norm und Wirklichkeit weit auseinander klafft; so etwa bei Holm Sundhaussen (Berlin), der die Balkanländer untersucht, in denen gegenüber alteingesessenen Einwohnern, die nicht der Titularnation angehören, massive Exklusionsmechanismen zu beobachten sind; so bei Günter Seufert, der für die Türkei, Israel und den Libanon konstatiert, dass der Staat seine Definitionsmacht (aus)nutzt, die Staatsbürgerschaft aber nicht zur sozialen und ideologischen Einbindung der Bürger beiträgt; so bei A. N. Medushewskij (Moskau), der in Russland trotz entsprechender Gesetze den Übergang vom Untertan zum Staatsbürger noch nicht vollzogen sieht; so bei Grażyna Skapska (Krakau), die einen Bruch in der staatsbürgerlichen Formierung Polens nach 1989 ausmacht und so auch bei Falk Lange (OSZE/Wien), der für das Baltikum angesichts kurzer Eigenstaatlichkeit große Probleme für die Formierung einer nationalen Identität ausmacht.

Ein vierter, an aktuellen Problemen orientierter Abschnitt beschließt den Band, in dem der lettische Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Egils Levits, die Frage der Minderheitenproblematik im Spannungsverhältnis von Mehrheit und Minderheit auslotet und Toleranz als konstituierendes Merkmal für die Demokratiefähigkeit eines Staates ausmacht. Der im Bundesinnenministerium tätige Jurist Georgios Tspanos zeichnet schließlich die Debatte um das neue Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsrecht in Deutschland nach und wertet die im Januar 2000 in Kraft getretene Neuregelung als Revolution, welche die ,,Konnotation dessen, was zukünftig 'deutsch' ist, und was nicht, nachhaltig verändern" werde.

Mit den Beiträgen dieser vier thematischen Sektionen legen Conrad und Kocka die erste umfassende historisch-vergleichende Überblicksdarstellung zur Staatsbürgerschaft in Europa vor. Allein schon aus diesem Grund ist der Band zu begrüßen. Er ist darüber hinaus aber auch zu empfehlen, weil er einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Zukunft des Nationalstaats liefert und mit seinem weiteren Verständnis von Staatsbürgerschaft ,,die gegenseitige Abhängigkeit" der Konzepte Zivilgesellschaft und Staatsangehörigkeit verdeutlicht. Es bleibt mit Christoph Conrad und Jürgen Kocka aber kritisch zu fragen, ob der Begriff Staatsbürgerschaft nicht tragfähiger ist als das bisweilen normativ allzu aufgeladene und begrifflich unscharfe Konzept der Zivilgesellschaft. Diesen Stärken des Buches stehen indes auch einige Schwächen gegenüber. Zu monieren ist insbesondere, dass es der Publikation an Kohärenz mangelt und der Charakter eines Tagungsbandes allzu stark in den Vordergrund tritt. So erschließt sich dem Leser nicht, warum nur ein Teil der Beiträge über ein executive summary und einen ausführlicheren Anmerkungsapparat verfügen, während andere Beiträge hierauf verzichten. Eine stärkere redaktionelle Harmonisierung der zur Veröffentlichung eingereichten Beiträge wäre ebenso zu wünschen gewesen wie eine weitgehendere Verständigung über die Begrifflichkeiten, die von den einzelnen Autoren in zum Teil sehr unterschiedlicher - bisweilen sogar gegensätzlicher - Konnotation genutzt werden. Zu diskutieren bleibt auch, warum der Blick auf die jüngsten Entwicklungen der europäischen Integration - außer in den Beiträgen von Ute Gerhard und insbesondere Bernd Schulte, der die Verrechtlichung im Bereich der Sozialgesetzgebung in der Europäischen Union untersucht - weitgehend ausgeblendet bleibt.

Die Europäische Union wirkt seit dem Maastrichter Vertrag immer stärker auf die einzelnen Nationalstaaten in Europa ein. Aktuelle Entwicklungen auf europäischer Ebene wie der Verfassungsvertrag mit seiner eigenen Grundrechtecharta legen es nahe, sich künftig mit der Frage der staatsbürgerlichen Partizipation auf EU-Ebene nicht nur hinsichtlich sozialer Grundrechte, sondern auch mit Blick auf die politische Teilhabe zu beschäftigen; dies um so mehr, als dass mit der 'Unionsbürgerschaft' und dem 'Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts' ein Gemeinschaftsinstrumentarium entwickelt wurde, das in verstärktem Maße nationalstaatliche Kompetenzen überlagert.

Die einzelnen Forschungsbeiträge des Sammelbandes von Conrad und Kocka liefern eine hervorragende Basis für derartige weiterführende Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft in Europa.

Jürgen Mittag, Bochum



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