ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die beiden Autoren Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker sind als Forscher, als Publizisten und als Direktoren des Historial de la Grande Guerre in Péronne (Somme) die beiden führenden französischen Experten für die Geschichte des Ersten Weltkrieges. Ihre Publikationen können stets besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, weil sie konzeptionell neue Wege suchen und gehen, Innovationen anstoßen und neue Themenfelder und Quellen erschließen. Dies gilt auch für die erste der beiden hier zu besprechenden Monografien, die für eine neue und europäisch vergleichende Perspektive auf den Ersten Weltkrieg plädiert. Die Grundlage dieser Konzeption bildet die Überlegung, dass der Erste Weltkrieg als Ausgangspunkt der durch Gewalt geprägten europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in der historischen Betrachtung an Relevanz stetig weiter hinzugewinnt, und dass das historische Interesse an den Formen, Ursachen und Folgen der Gewalt die Arbeit der Historiker informieren und anleiten sollte. Die geschieht hier in drei Kapiteln, die unter den Überschriften ,,Gewalt", ,,Kreuzzug" und ,,Trauer" wesentliche Aspekte akzentuieren wollen.

,,Gewalt": Das verweist zunächst auf das neuartige quantitative Ausmaß der Mobilisierung in den Jahren 1914-1918 und des Todeszolls, den sie gefordert hat. Die Autoren rufen einige der Kerndaten in Erinnerung und schließen daran die These an, dass das Ausmaß und die Intensivierung der Gewalt nicht nur durch die technischen Bedingungen des Kampfes und die Waffentechnik zu erklären sei. Für die beispiellose ,,Brutalität" des Krieges müsse man vielmehr auch das Verhalten der Soldaten in Betracht ziehen. Zum Beleg dieser These verweisen sie auf die ungehemmte Aggressivität und Brutalität, die viele Soldaten im Kampf Mann gegen Mann mit Schaufeln, Messern und anderen oft selbstgebauten Handwaffen gezeigt hätten (S. 31, 40). Diese Beobachtung mag korrekt sein, sie ist aber für das Gesamtbild der Gewaltausübung im Ersten Weltkrieg quantitativ völlig marginal. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Zahlenmaterial hätte die beiden Autoren belehrt, dass gerade einmal 0,1% aller tödlichen Verwundungen mit der blanken Waffe erzielt wurden.(1) Sehr viel überzeugender sind dagegen die folgenden Abschnitte dieses Kapitels, die auf die Gewaltausübung während der deutschen Besatzungsherrschaft in Belgien und Frankreich als ein wichtiges Desiderat hinweisen und anhand eigener Forschungen der Verfasser die Vergesellschaftung der Gewalt in den Lagern des Ersten Weltkrieges am Beispiel der Zivilinternierten und Kriegsgefangenen beschreiben.

,,Kreuzzug": Hier geht es vor allem um die These einer ,,Kultur des Krieges" (culture de guerre) als eines kollektiven Systems von kulturellen Repräsentationen, das dem Krieg für weite Bevölkerungskreise einen Sinn und eine Signifikanz vermittelt und ihnen das Durchhalten und die Selbstmobilisierung erlaubt habe. Im Kern dieser Kultur des Krieges habe ein ,,kraftvoller" Hass gegen den Feind gestanden, letztlich ein Bestreben, den Feind auszulöschen (S. 102). Diese These wird nicht so heiß gegessen wie sie gekocht wurde, denn bereits wenige Seiten später wird ein ,,defensiver Patriotismus" als die Inkarnation dieser Kultur des Krieges bei den Soldaten vorgestellt (S. 107). Den plakativen Charakter dieser These kann man ohnehin nur verstehen, wenn man sie auf den Mainstream der Forschung in Frankreich seit den Pionierstudien von Jean-Jacques Becker und Antoine Prost bezieht, welche heute aus Sicht einiger Forscher zu sehr der pazifistischen Selbststilisierung der anciens combattants in der Zwischenkriegszeit gefolgt sein soll.(2) Methodisch gesehen ist dies ohnehin ein fragwürdiges Argument, weil es die komplexe Analyse der Vergesellschaftung der Gewalt unter den spezifischen Bedingungen des Schützengrabenkrieges zugunsten einer einseitig an ideologischen Faktoren orientierten Betrachtungsweise ersetzen will.

,,Trauer": Dieser Abschnitt ist mit Abstand der beste und überzeugendste des Bandes, zumal er sich auf eigene Vorarbeiten der beiden Verfasser stützen kann. Im Kern handelt es sich um ein Plädoyer dafür, jenseits der in allen Ländern anzutreffenden politischen Instrumentalisierung der Kriegserfahrung die personale und anthropologische Seite der Bewältigung des Krieges aufzuwerten und als eine 'lange Dauer' seiner Folgen ernst zu nehmen. Auch wenn man es für übertrieben halten mag, beinahe die gesamte Bevölkerung der Zwischenkriegszeit als in die ,,Kreise der Trauer" einbegriffen zu sehen (S. 212), so ist der Hinweis berechtigt, dass die persönliche 'Betroffenheit' durch den Verlust von Angehörigen eine bislang vernachlässigte Dimension der Kriegserfahrung darstellt.

Das Fazit über diesen Band fällt notwendigerweise zwiespältig aus. Auf der einen Seite muss man die vielen innovativen Fragen und Gesichtspunkte hervorheben, welche die beiden Autoren aufgeworfen haben. Sie haben Recht damit, dass die Gewaltbereitschaft und die Gewaltausübung den analytischen Leitfaden für die Historiographie des Ersten Weltkrieges darstellen sollten. Aber es bedeutet methodisch wie inhaltlich einen Rückschritt, sich dafür letztlich auf die Ebene der Ideologie zu fokussieren. Damit werden Erkenntnisgewinne verschüttet, welche von einer ganze Reihe von Arbeiten erzielt worden sind, die komplexere, sozial-, kultur- und erfahrungsgeschichtliche Ansätze miteinander verbinden. Es fällt im Übrigen auf, und dies ist ein gravierendes Manko, dass der Band von einer europäischen Perspektive weit entfernt ist. Es ist letztlich allein das französische Beispiel und die französische Forschung, welche die beiden Autoren behandeln. Die Liste der wichtigen, innovativen und für ihr Thema einschlägigen Monografien von deutschen und angelsächsischen Autoren aus der letzten Dekade, die nicht zitiert werden, ist lang. Sie reicht von Richard Bessels grundlegender, dem deutschen Nachkrieg gewidmeten Studie aus dem Jahr 1993 über die Arbeiten von Jeffrey Verhey, Ute Daniel, Wolfgang Kruse, Anne Lipp, Aribert Reimann und Bernd Ulrich bis hin zu den diversen Veröffentlichungen des Rezensenten. Daran wird nicht zuletzt exemplarisch deutlich, wie weit wir tatsächlich noch von einer europäischen Geschichte des Ersten Weltkrieges entfernt sind.

Die Probe aufs Exempel treten die beiden Autoren mit Ihrer knappen Gesamtdarstellung zu Frankreich im Ersten Weltkrieg an, die sie zusammen mit Leonard V. Smith verfasst haben, dem wir eine bis heute Maßstäbe setzende Studie über Gehorsam und Protest in der französischen Armee verdanken. Die Studie ist in fünf Abschnitte gegliedert, die auf überzeugende Weise klassische Themen der Politik-, Diplomatie- und Wirtschaftsgeschichte mit den neuen Aspekten und Fragen verknüpfen, welche die neuere Kulturgeschichte des Krieges aufgeworfen hat. Behandelt werden, präzise und auf knappem Raum, der Übergang in den Krieg im Jahr 1914, die Mobilisierung der Nation und der Zivilisten für den Krieg an der Heimatfront, die Realität des Krieges an der Front, die existenzielle Krise von Politik und Mobilisierung im Jahr 1917 sowie der Sieg und seine Nachwirkungen. Die Autoren bewegen sich hier auf souveräne Weise in einem durch eigene Forschungen erschlossenen Terrain, und es gelingt ihnen meisterhaft, die Schilderung des generellen Ganges der Entwicklung mit kurzen Vignetten und Episoden zu verknüpfen, in denen das Gesagte exemplarisch verdeutlicht wird. In einem Punkt, dem Wissen der deutschen Seite um das Ausmaß der Meutereien im Frühjahr 1917 nach der gescheiterten Offensive am Chemin des Dames, sei eine Korrektur erlaubt: Es war nicht nur eine deutsche Tageszeitung, die am 30. Juni darüber berichtete und damit belegt, dass überhaupt ein Wissen um die Meutereien auf deutscher Seite vorhanden war (S. 127, Anm. 5). Die deutsche Oberste Heeresleitung war vielmehr, wie man im Übrigen bereits in den Memoiren von Erich Ludendorff nachlesen kann, durch Berichte der Abwehrstellen frühzeitig über die Ursachen und das Ausmaß der Unruhen informiert. Sie verzichtete aber ganz bewusst darauf, dieses Wissen propagandistisch auszuschlachten, weil man negative Rückwirkungen auf die Stimmung in der eigenen Bevölkerung befürchtete, die eben auch rechts des Rheins im Sommer und Herbst 1917 auf einen absoluten Tiefpunkt gesunken war.(3) Warum das Konzept der ,,Kultur des Krieges" letztlich nicht weiterführt, wird auch in diesem Band deutlich. Für den Prozess der kulturellen Mobilisierung wird den Intellektuellen und ihrem aggressiven Nationalismus eine Schlüsselrolle zugewiesen (S. 54-59). Dies erinnert denn doch sehr an ältere, geistesgeschichtliche Erklärungsmuster ganz traditionellen Zuschnitts. Die Autoren verwiesen zu Recht darauf, dass der Konsens der ländlichen Gesellschaft, die 50 Prozent aller französischen Frontsoldaten stellte, entscheidend für die Kriegsanstrengung der französischen Nation war (S. 66 f.). Aber es kann doch wohl ernsthaft keine Rede davon sein, dass die Broschüren und Zeitungsartikel von Émile Durkheim, Maurice Barrès oder Ernest Lavisse etc. als Beweggrund für das Durchhaltevermögen der Bauern auszumachen sind. Wie wir aus dem contrôle postal gerade für die ländlichen Frontsoldaten wissen, blieben sie von diesen Themen völlig unberührt, und deshalb muss ihr Durchhaltevermögen mit anderen Erklärungsansätzen analysiert werden.(4) Von diesem Kritikpunkt einmal abgesehen, ist diese Gesamtdarstellung jedoch als problemorientierte Einführung in die Geschichte Frankreichs in den Jahren 1914-1918 sehr zu empfehlen.

Benjamin Ziemann, Bochum



DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | September 2004