ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Manfred Bierwisch (Hrsg.), Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen (Berichte und Abhandlungen, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderbd. 9), Akademie Verlag, Berlin 2003, 174 S., geb., 29,80 €.

Die Arbeit, oder der Mangel an einträglicher Erwerbsarbeit, ist vielleicht wie kein anderes zum zentralen Problem unserer Gesellschaft geworden. Es stellt sich zunehmend nicht nur als Thema der Sozial- und Wirtschaftspolitik dar. Das Gewicht, das auf der Erwerbstätigkeit als sozialem Anker, als wesentliche Integrationsfunktion und Angelpunkt für gesellschaftliche Stellung und persönliches Wertempfinden lastet, macht sie darüber hinaus zum Gegenstand kultureller und ethischer Reflexion. In Anbetracht der Fragwürdigkeit - im Wortsinne - der gegenwärtigen Situation der Arbeit, ist eine Problematisierung, die über die rein sozialtechnischen Perspektive hinausgeht, geboten. Die sozialphilosophischen und gerechtigkeitstheoretischen Erörterungen, die sich in jüngster Zeit mehren, greifen diesen Bedarf auf. Der vorliegende Sammelband nähert sich dem Thema aus kulturell-historischer Vergleichsperspektive. Dies ist in zweierlei Hinsicht sinnvoll. Erstens führt die fortschreitende Vernetzung der globalen Wirtschaft zur Konfrontation unterschiedlicher Kulturen mit je eigener Wertvorstellung und Ausgestaltung von Arbeit. Zweitens sind historische, soziologische und ethnologische Kenntnisse über die jeweiligen epochalen und kulturellen Bedingungen der Lebensweisen ein nützliches empirisches Fundament für systematische Überlegungen - was ein kurzer Blick in die sozialphilosophischen Klassiker von Aristoteles bis Max Weber bestätigt.

Die Autoren des vorliegenden Sammelbandes, Mitglieder der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, erörtern die ,,Variationen des Verhältnisses von Arbeit und Lebensführung". Das thematische Spektrum der Beiträge deckt annähernd die großen Kulturkreise ab: Arbeit bei den Griechen (Christian Meier) und als Problem der europäischen Geschichte (Jürgen Kocka), Arbeit in Russland (Klaus Zernack), in China (Rudolf Wagner), im Islam (Ulrich Haarmann) und in einer afrikanischen Gesellschaft (Georg Elwert).

Als sehr anregender Auftakt wird im Vorwort hervorgehoben, dass die ehedem rein negative Konnotation von Arbeit als Last und Mühe damit einherging, dass das Schöpferische der Tätigkeit in dem Terminus ,,Werk" gebündelt war. Eine Umwertung der Arbeit in der modernen Gesellschaft ist vor allem Ausdruck der Verknüpfung von ,,Arbeit" und ,,Arbeitsplatz". Der Arbeitsplatz ist in das Zentrum der gesellschaftlichen Beziehungsdefinition gerückt. In einem Ausblick auf die Probleme der Gegenwart stellt Bierwisch fest, dass die Pein der physischen Arbeit, die durch Technologie und Automation vielerorts beseitigt ist, einer neuen Art von Belastung Platz gemacht: dem Stress, den Zwängen des Zeitdiktats.

Christian Meiers umfangreiche Abhandlung über Arbeit im antiken Griechenland vertieft und präzisiert die geläufige Ansicht, dass die Sklavengesellschaft Athens einen rein pejorativen Arbeitsbegriff besessen hat. Allerdings soll man sich nicht durch unterschiedliche Termini in die Irre führen lassen. Anstrengungen, die wir heute auch als Arbeit empfinden, galten den Athenern nicht als Arbeit. Diese hochstehenden Tätigkeiten wie Politik und Wissenschaft, auch die sportliche Ertüchtigung und der Einsatz im Krieg gehörten dazu, wurden mit dem Begriff der ,,Arete", der Tüchtigkeit, verknüpft. Die Besonderheit Athens liegt nicht so sehr darin begründet, dass die körperliche Arbeit von geringem Ansehen war. Der Bauer z.B. genoss eine weit größere Wertschätzung als der Handwerker oder gar der Händler. Kriterium für das Prestige einer Tätigkeit war der Bezug auf das gemeinsame Gut, auf die Polis. Athen definierte sich über seine Freiheit und seinen Widerstand gegen das große Perserreich. Arbeit dagegen galt als Privatsache. In dem Umfang, wie man arbeiten musste, konnte man sich nicht als Bürger engagieren. Der Bauer kam von allen arbeitenden Schichten durch seinen Landbesitz der Vorstellung von Autarkie, die die Basis des Polis-Engagement darstellte, noch am nächsten.

In einer knappen Skizze über ,,Arbeit als Problem der europäischen Geschichte" zeigt Jürgen Kocka, dass der moderne Arbeitsbegriff ein Kind der Aufklärung ist. Erst hier werden die verschiedenen Tätigkeiten der Anstrengung und Leistung zu einem Begriff zusammengefasst. In der Neuzeit erfolgt in Schüben eine Aufwertung der Arbeit, zunächst durch den Protestantismus, der der vita activa gegenüber der ehedem vorrangig kontemplativen Frömmigkeit eine höhere Wertschätzung entgegenbrachte. Auch die veränderte Lebenswirklichkeit der Städte trug dazu bei. Müßiggang in Verbindung mit Armut entwurzelter Schichten der Stadtbevölkerung wurde zum sozialen Problem. Die Entwicklung gipfelte schließlich im deutschen Idealismus, der eine radikale Aufwertung der Arbeit brachte.

Die Besonderheiten der russischen Entwicklung, die, anders als Westeuropa, insbesondere durch die sprachliche Abkopplung der russischen Orthodoxie und ihrer weltabgewandten Konzentration auf reine Spiritualität, von der Aufklärung allenfalls am Rand berührt worden ist, ist ein verlängerter Fortbestand der Leibeigenschaft. Bis zur Oktoberrevolution stand die Bauernfrage im Mittelpunkt jeder Problematisierung. Die Rückständigkeit der russischen Arbeitswelt wurde zum fruchtbaren Boden für den Bolschewismus.

Der sicherlich als Pionierstudie zu wertende Beitrag über die Rolle der Arbeit bei den Chinesen von Rudolf Wagner hebt zunächst hervor, dass der Artikel von Friedrich Engels ,,Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" die grundlegende Schrift der kommunistischen Dogmatik darstellt. In ihr ist die Hochschätzung der körperlichen Arbeit entwickelt, die sich bei den chinesischen Kommunisten in einer besonders brutalen Politik gegen geistig Arbeitende äußerte. Vor der Radikalisierungsphase des Maoismus Mitte des 20. Jahrhunderts hat es diesen Rigorismus zugunsten der physischen Arbeit nicht gegeben. Inspiriert vor allem durch anarchistische Ideen erstrebte man davor vor allem eine Überwindung der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Der Modernisierungsprozess stieß im 19. Jahrhundert auf ein unentwickeltes China, dessen Eliten in einer undynamischen und zur Dekadenz erstarrten Traditionen lebten.

Das wichtigste Fazit des Beitrags über Arbeit im Islam ist der Befund, dass im Wertekanon der islamischen Religion keinerlei Leistungsfeindlichkeit existiert. Anders als im Christentum gilt Armut in keiner Weise als besonders fromm, und ein mit den religiösen Gesetzen in Einklang stehendes Gewinnstreben wird begrüßt. Ein Spannungsverhältnis zu den Anforderungen der Marktwirtschaft kann man allenfalls in den rituellen Pflichten wie dem fünfmaligen Gebet am Tag und dem Fasten erblicken. Auch die Hochschätzung des Handels gegenüber der Handarbeit macht den Islam eigentlich zu einer erstaunlich Kapitalismus-kompatiblen Kultur.

Die Untersuchung über Arbeit im Verständnis der Ayizo-Bauern im westafrikanischen Bénin hebt vor allem zweierlei hervor, eine dem Lebenszyklus mit seinen unterschiedlichen Fähigkeiten folgende Erwerbstätigkeit, die dem jungen Menschen andere Aufgaben zuweist als dem älteren oder dem Greis, zweitens die Bedeutung der Arbeit für Stellung und Prestige. Die Kombination aus beidem, so der Autor, könnte durchaus Modellcharakter auch für Europa haben.

Annekatrin Gebauer, Berlin


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