Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Matthias John, Konrad Haenisch (1876-1925) - ,,und von Stund an ward er ein anderer" (Kleine Reihe Biographien, Bd. 2), 2. durchges. u. erw. Aufl., Trafo-Verlag, Berlin 2003, 148 S., kart., 9,80 €.
Er sei ein ,,nicht ungeschickter Agitator", der sich ,,wahrscheinlich zu einem der begabteren Führer der sozialdemokratischen Partei entwickeln" werde, lautete im Oktober 1897 eine Prognose aus dem Leipziger Polizeiamt. Gut 20 Jahre später portraitierte ihn der Journalist Erich Dombrowski alias Johannes Fischart so: ,,Im letzten Grunde ist er Synthetiker. Kein Analytiker. Ein Sinnender, aber kein wühlend Grübelnder. Ein Parteigelehrter. Ein verschämter Aesthet. Ein Kulturmensch. Ein Belesener. Ein nach stillen seelischen Freuden Langender". Und weiter: ,,Eine geistige Mosaik-Natur mit warmer Gefühlsgrundlage. Eine ziemlich stattliche Erscheinung. Den Kopf leicht nach vorn geneigt. Ein Anflug von Behäbigkeit. Ein Professor, Deutschphilologe und Historiker, der, dreiundvierzig Jahre alt, unmittelbar vor der Ernennung zum Studienrat steht."(1)
Tatsächlich handelte es sich um Konrad Haenisch. Ihn hatte die Revolution von 1918 auf den Stuhl des preußischen Kultusministers gespült, den er gut zwei Jahre später schon wieder verlassen musste. Danach wurde er Regierungspräsident in Wiesbaden, widmete sich der deutsch-französischen Verständigung in einer Phase, die solchen Projekten nicht eben wohlgesonnen war, gründete zusammen mit einigen Angehörigen des linksliberalen Bürgertums den überparteilichen ,,Republikanischen Reichsbund", wirkte mit im ,,Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold", wo ihn der frühe Tod im April 1925 allerdings an der Entfaltung hinderte. Zuvor, vor der Übernahme staatlicher Ämter, was den Zenit seiner Karriere markierte, war Haenisch ein Parteiarbeiter, alles andere als ein geborener Sozialdemokrat, vielmehr ein Sohn aus wohlsituierter Honoratiorenfamilie, der den Präsidenten des Preußischen Abgeordnetenhauses, den Grafen Schwerin-Löwitz, zu seinen Verwandten zählte, das Gymnasium in seiner Heimatstadt Greifswald aber wegen sozialdemokratischer 'Umtriebe' hatte verlassen müssen. In der SPD machte er sich einen Namen als talentierter, erfolgreicher Journalist, war Redakteur an verschiedenen Blättern, unter anderem an der Leipziger Volkszeitung und der Dortmunder Arbeiter-Zeitung, war Mitbegründer der ,,Vereins Arbeiterpresse" und Schriftleiter von dessen Mitteilungsblatt. Im August 1914 erlebte er sein Damaskus, wechselte abrupt die Fronten, wurde vom Linksradikalen zu einem der eifrigsten Fürsprecher der nationalen Sache, warb für die Integration der Sozialdemokratie in den - freilich erst noch zu reformierenden - monarchischen Staat. 1915 wurde er von Parvus Helphand, einem zu Reichtum gekommenen russischen Sozialisten im Exil, mit der Redaktion der Zeitschrift Die Glocke betraut, die Haenisch zu einer publizistischen Plattform für die entschiedenen Anhänger der Burgfriedenspolitik machte. Dahinter verbarg sich die Überzeugung, dass der Krieg den ,,Sieg der nationalen proletarischen Interessen über die internationalen" davongetragen habe. Haenisch zog daraus die Folgerung, dass eine ,,demokratische Entwicklung" in Deutschland nur möglich sein werde ,,auf dem Boden eines nach außen unabhängigen nationalen Staates".(2)
Matthias John hat den Stationen dieses - durchaus bewegten - Lebens ein kleinformatiges, schmales Büchlein gewidmet. Seine Erzählung hält sich an den Faden der Chronologie, ist schmucklos, verzichtet auf theoretisches, räsonnierendes Beiwerk. Durchgesehen hat er eine Reihe von Archivalien, vor allem den Nachlass im Bundesarchiv Berlin, der zu großen Teilen die Redaktionskorrespondenzen der Glocke aufbewahrt. Ausgeschöpft wird dieser indes ebenso wenig wie der des Nationalökonomen und zeitweiligen Mitstreiters Johann Plenge in der Universitätsbibliothek Bielefeld.(3) Die mitgeteilten Fakten sind zuverlässig, Illustrationen und ein paar Dokumente runden das Buch ab. Mit Wertungen ist der Autor sparsam, warum jedoch die Arbeit an der Glocke der ,,politische Offenbarungseid eines hochbegabten Journalisten" (S. 58) gewesen sein soll, bleibt dunkel. Aber gleichviel: Die von Matthias John vorgelegte Skizze hat ihre Meriten, und ihr größter Erfolg dürfte sein, wenn sie jemanden zu einer wirklichen, umfassenden Biografie anregen würde.
Jens Flemming, Kassel
Fußnote:
1 Johannes Fischart [d.i. Erich Dombrowski ], Das alte und das neue System, Bd. II, Berlin 1920, S. 181 f.
2 So die Formulierungen in: Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, bearb. von Susanne Miller, Düsseldorf 1955, S. 48 f.
3 Vgl. dazu die Aufsätze von Axel Schildt, Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge, in: VfZG 35, 1987, S. 523-570 und Jens Flemming, Neumarxismus, Krieg und Nonkonformismus. Streiflichter aus der sozialdemokratischen Zeitschrift ,,Die Glocke", in: Michel Grunewald in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock (Hrsg.), Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2002, S. 303-333.