ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Klaus Kempter, Eugen Loderer und die IG Metall. Biografie eines Gewerkschafters, Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann, Filderstadt 2003, 615 S., kart., 38,00 €.

Die biografische Forschung hat bisher für das persönliche und politische Leben von Gewerkschaftern wenig Interesse gezeigt. Die Publikationen dazu fokussierten überwiegend die Zeit vor 1945. Fundierte Darstellungen über Leben und Arbeit der gesellschaftlich bekannten Akteure der Gewerkschaftsbewegung nach 1945 sind kaum vorhanden. Dabei haben gerade sie die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland entscheidend mitgeprägt. Otto Brenner, Willi Richter, Ludwig Rosenberg, Adolph Kummernuss, Georg Leber, Heinrich Gutermuth und Wilhelm Gefeller sind nur einige Namen, die prägend für die Gewerkschaftspolitik der 1950er- und 1960er-Jahre standen. Von ihnen gibt es zwar ,,Kurzbiografien" in einigen zeitgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschungen oder auch ,,Redensammlungen", aber detaillierte Biografien sind Mangelware.

Der Heidelberger Historiker Klaus Kempter hat eine umfangreiche Biografie des ehemaligen 1. Vorsitzenden der IG Metall der 1970er- und 1980er-Jahre, Eugen Loderer, vorgelegt. Dies ist die erste wissenschaftliche Biografie eines Gewerkschaftsfunktionärs nach 1945, welche umfassend Herkunft, Leben und Arbeit analysiert. Vermutlich wäre diese Studie nicht geschrieben worden, hätte nicht Eugen Loderer zwischen 1987 und 1990 eine umfangreiche Autobiografie von 500 Schreibmaschinenseiten verfasst, die nicht für eine Veröffentlichung konzipiert war. Lediglich enge Freunde und ehemalige Kollegen erhielten ein Exemplar. Für den Autor ist diese Autobiografie ein Glücksfall, denn sie bildete seine zentrale Quelle und das inhaltliche Gerüst der Studie. Problematisch ist eine solche Quelle allemal, denn der Autobiograf gibt hier die Themenwahl vor und erhöht somit die Gefahr, dass es durch sein nachträgliches Erinnern zur Verklärung bzw. Schönfärberei von Ereignissen kommt. Nicht immer gelingt es dem Autor, diesen Fallstricken zu entgehen. Zusätzlich wurden die Vorstandsakten der IG Metall und der IG Metall Heidenheim, die Akten des DGB, des Privatarchivs des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt und umfangreiche Presseartikel sowie Beiträge Loderers in Gewerkschaftspublikationen herangezogen. Bezüglich der Quellenauswahl ist anzumerken, dass der Autor für die 1970er-Jahre insbesondere für die DGB-Bundesvorstandssitzungen nur die Überlieferung beim IG Metall-Hauptvorstand berücksichtigt hat. Entsprechende Materialien dieser Zeitepoche, welche beim DGB-Bundesvorstand, Abteilung Vorsitzender, vorhanden sind und sich zur Ergänzung mancher Vorgänge eignen, wurden nicht berücksichtigt. Bei den Zeitzeugeninterviews (S. 560) sind gewollt oder ungewollt(?) keine Kritiker oder verbandsinterne Gegner aufgeführt. Man könnte sich gut vorstellen, dass mancher Gewerkschafter, der in der Autobiografie nicht positiv dargestellt wurde - beispielsweise der damalige Bezirksleiter Franz Steinkühler - gerne zu Wort gekommen wäre.

Die Studie benennt zwei wesentliche Ziele: zum einen eine ,,Annäherung an das Individuum Eugen Loderer und dem von ihm verkörperten Typus des Gewerkschaftsfunktionärs[...]" und zum anderen einen ,,Beitrag sowohl zur Gewerkschaftsgeschichte der Bundesrepublik als auch zur allgemeinen Zeitgeschichte [...] insbesondere [...] der bisher wenig erforschten Siebziger- und frühen Achtziger-Jahre" (S. 24). Speziell die enge Kooperation der Gewerkschaften mit der sozial-liberalen Regierungskoalition jener Jahre, dargestellt aus der Sicht einer damals handelnden Person, ergeben interessante und neue Beiträge nicht nur zur Geschichte der IG Metall, sondern der Gewerkschaften allgemein. Da diese Epoche die Höhepunkte des Einflusses der Gewerkschaften in der Bundesrepublik verkörpert, ist es nicht verwunderlich, dass diese Zeit ca. zwei Drittel der Studie umfasst. Einen breiten Raum nimmt auch die Darstellung seiner Kindheit, Jugend, Lehre, Krieg und Gefangenschaft ein, mit den ersten Sozialisationserfahrungen, die durchaus prägend für seine spätere Gewerkschaftskarriere waren.

Eugen Loderer hat von ganz unten angefangen, wie es so schön heißt: Er hat die ,,Ochsentour" gemacht. Diese Tour begann am 28. Mai 1920 mit seiner Geburt in Heidenheim/Brenz als Sohn eines Metallarbeiters. Nach der Volksschule erlernte er den Beruf des Metallgewebemachers. Während der NS-Zeit widersetzte er sich staatlichem Zwang, insbesondere dem Dienst in der Hitlerjugend. Im 2. Weltkrieg wurde er zur Marine eingezogen, wurde Obersteuermann, kehrte im August 1945 aus kanadischer Kriegsgefangenschaft nach Heidenheim zurück, nahm am 1. November 1945 seine Arbeit in seiner ehemaligen Firma wieder auf und trat der IG Metall bei. Aufgrund des Engagements in seinem Betrieb wurde er zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Im Juli 1947 wurde er durch den damaligen ersten Bevollmächtigten überredet, hauptamtlicher Jugend- und Organisationssekretär zu werden. Mit diesem Schritt begann für Eugen Loderer die hauptamtliche Tätigkeit. Drei Jahre später übernahm er als erster Bevollmächtigter der IG Metall die Leitung der Verwaltungsstelle Heidenheim.

Schon während seiner Arbeit in der Verwaltungsstelle Heidenheim wurde er von Funktionären der Region gefördert, so u.a. von Hans Brümmer (Vorsitzender der IG Metall 1948-1956) und Willi Bleicher (geschäftsführendes Vorstandsmitglied 1948-1950, Bezirksleiter in Stuttgart 1959-1972). 1959 wechselte er als Bezirkssekretär nach Stuttgart und wurde damit rechte Hand Willi Bleichers. Dieser akzeptierte auch die politische Einstellung Eugen Loderers, den er ironisch einen ,,Zentristen" nannte, dessen wichtigstes Potenzial die "Gesprächs- und Integrationsfähigkeit nach allen Richtungen" war (S. 172). Willi Bleicher war die weltanschauliche und politische Orientierung seiner Funktionäre relativ gleichgültig, solange sie ihre Aufgabe in der ,,alltäglichen konsequenten Interessenspolitik zugunsten der Arbeiter und Angestellten" sahen (S. 172).

Der Aufstieg im Gewerkschaftsapparat setzte sich 1962 fort, als er zum geschäftsführenden Vorstandsmitglied berufen wurde und 1963 nach einem erfolgreichen Streik in der Metallindustrie zum DGB-Landesvorsitzenden Baden-Württembergs gewählt wurde. Mit seiner Wahl 1968 zum zweiten Vorsitzenden der IG Metall fand auch eine Weichenstellung für die Zukunft statt, denn er sollte damit Nachfolger von Otto Brenner werden. Eugen Loderer, der zur ,,Fünfundvierziger"-Generation (Ulrich Herbert) gehörte, jener zwischen 1918 und 1930 Geborenen, war im Gegensatz zu Otto Brenner, der bereits in der Weimarer Republik politisch sozialisiert wurde, geprägt durch den politischen und gesellschaftlichen Neuaufbau der Bundesrepublik und neigte eher zum Machbaren. Als Zweiter Vorsitzender war Eugen Loderer zuständig für die Bereiche Organisation und Personal. Er beklagte, dass der ,,Arbeitstil in der Vorstandsverwaltung nicht so sehr auf Kooperation angelegt war" (S. 216) und dass die Strukturen sehr verfestigt waren, was ihm ein Zeichen von Reformunfähigkeit war. Das Machtzentrum lag bei Otto Brenner, was Entscheidungen betraf, daneben gab es noch eine kleine Fraktion von ,,Linken" und ,,Pragmatikern" im Vorstand (S. 219 ff.). Nach Brenners Tod 1972 wurde Eugen Loderer zu seinem Nachfolger gewählt. Dieses Amt behielt er bis zum Gewerkschaftstag in München 1983, auf dem der zweite Vorsitzende Hans Meyr zum Nachfolger gewählt wurde.

Seine Amtszeit war geprägt von den sich ändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die der Autor mit dem ,,Ende des Goldenen Zeitalters" (S. 281)und ,,Selbstbehauptung und Reformpolitik" (S. 307) betitelt. In diesen Krisenjahren, wo Betriebs(teil)schließungen und Entlassungen anstanden, konnte die IG Metall lediglich durch Abwehrkämpfe, fünf größere Streiks, die von Aussperrungen begleitet waren, ihre Position behaupten. Höhere Löhnen, kürzere Arbeitszeit, Sechswochenurlaub, Absicherungsverträge führten zu qualitativen Verbesserungen der Arbeitnehmer. Es ist dem Autor zuzustimmen, wenn er die Tarifpolitik in den Krisenjahren positiv bewertet (S. 364).

Im Kapitel ,,Zwischen Sozialdemokratie, Alter Linker und Neuen Sozialen Bewegungen" (S. 365 ff.) versucht der Autor die gesellschaftstheoretischen Entwicklungen und die damit auch verbundenen heftigen gewerkschaftsinternen Diskussionen ab Mitte der Siebzigererjahre widerzuspiegeln. Neben dem sozialdemokratischen Engagement Eugen Loderers und seiner engen Zusammenarbeit mit den Bundeskanzler Helmut Schmidt steht seine Auseinandersetzung innerhalb der IG Metall mit dem Stamokap-Flügel im Mittelpunkt. Aber auch seine Ablehnung gegenüber der Atom- und Energiepolitik der neuen sozialen Bewegungen und von gleicher Schärfe auch die Ablehnung der Friedenspolitik der Grünen und der Friedensbewegung, in der viele Gewerkschafter mitarbeiteten, wird dargestellt. Speziell bei der Friedensbewegung vertrat er die Linie von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Folglich kam es auch zu einem heftigen Konflikt mit dem Vorstandsmitglied Georg Benz, als er gegen den Willen Eugen Loderers auf der Friedenskundgebung in Bonn am 10. Oktober 1981 sprach (S. 421 ff.). Eine Schwäche dieses Kapitels ist, dass er viele Passagen durch Abschnitte des autobiografischen Manuskriptes belegt und dabei auf einen quellenbegleitenden Vergleich verzichtet. Die Stärke ist, trotz der selektiven Darstellung Eugen Loderers, der Einblick in das Innenleben einer Großorganisation mit seinen Machtkämpfen innerhalb des Funktionärsapparates.

Die Studie von Klaus Kempter über das Leben und die Arbeit von Eugen Loderer ist faktenreich und anschaulich geschrieben und kann insgesamt als ein wertvoller Beitrag zur Gewerkschaftsgeschichte angesehen werden.

Klaus Mertsching, Bonn


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