ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, Carl Hanser Verlag, München/Wien 2002, 252 S., geb., 21,50 €.

Karl Schlögel, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, ist einer der profiliertesten Beobachter Osteuropas, die das deutschsprachige Feuilleton zu bieten hat. Schlögel verbindet wie kaum ein anderer den Wissenschaftler und Essayisten in einer Person, eine Qualität, die auch im vorliegenden Sammelband erscheint. Hier hat er Essays und Vorträge, die mit einer Ausnahme zwischen den Zäsuren vom 9. November 1989 und 11. September 2001 entstanden sind, neu kompiliert. Alle Beiträge beschäftigen sich unter einem bestimmten Aspekt mit einem der wichtigsten politischen Themen der Gegenwart: mit der Neufindung Europas in der und durch die Transformation seines Ostens. Schlögel schreibt über Räume, Grenzen und historisch-kulturelle Topographien zu einem Zeitpunkt, als die Geschichtswissenschaft diese Kategorien noch nicht wirklich wiederentdeckt hatte. Es geht ihm um das freie Reisen zwischen Ost und West, das vom Eisernen Vorhang so lange verhindert wurde, um das Kennenlernen der konkreten Orte, um ein räumliches und sehendes Vernetzen Europas, darum, wie europäische Großregionen sich auf den gegenwärtig vielzitierten mental maps den Europäern in Ost und West eingeschrieben haben. Insofern blickt Schlögel in vielen Passagen selbst mit den Augen des Reisenden und entfaltet ungewöhnliche, zum Teil ganz neue Perspektiven auf das altbekannte Problem, wo Europa endet, wie es sich in Großregionen einteilen lässt und wie sich das Verhältnis zwischen den Polen Ost und West gestaltet.

Schlögel leitet den Sammelband mit kurzen Reflexionen über die Bedeutung der Zäsuren, d.h. den Fall der Berliner Mauer und den Angriff auf das World Trade Center, ein. Zwei umfangreichere Texte - der namensgebende Essay ,,Die Mitte liegt ostwärts" und der ,,Planet der Nomaden" bilden einen wichtigen Teil des Bandes. ,,Die Mitte liegt ostwärts" stammt bereits aus dem Jahre 1986, nimmt aber viele Gedanken der folgenden Essays vorweg. Er reflektiert über den Begriff ,,Mitteleuropa", den die Dissidenten vor allem in Ungarn, Polen und der ČSSR als Argument für ein gemeinsames Europa und gegen die Gängelung durch die UdSSR wiederentdeckt hatten. Überraschend aktuell wirkt die Gedankenführung des Textes, weil diese ostmitteleuropäischen Diskussionen in den Zusammenhang der Beziehungen Westdeutschlands zu den historischen Regionen zwischen Ostsee und Adria gestellt werden. Zwar versperrt heute kein Eiserner Vorhang mehr das wechselseitige Bereisen von Ost und West, doch haben sich weder die Reisegewohnheiten noch die wissenschaftlichen Einteilungen in ost- und westeuropäische Geschichte markant geändert.

Der zweite längere Essay ,,Planet der Nomaden" aus dem Jahre 2000 greift die Figur des Reisenden aus dem ersten Beitrag in der drastischen Variante des Migranten auf. Im Mittelpunkt stehen hier die europäischen und weltweiten Wanderungsbewegungen - freiwillige, ökonomisch motivierte oder durch Krieg und Gewalt vorangetriebene -, die das 20. Jahrhundert prägten. Schlögel betrachtet die Verschiebung von Grenzen und Neuordnung von Räumen aus dieser Perspektive. Er fragt nach den Einflüssen für Gesellschaften und Ökonomien, für die entstehenden und die sich behauptenden Zivilgesellschaften Europas und Amerikas durch den Migranten als Prototyps des global citizen (S. 123), der mal entwurzelt, mal als Hüter fremder Traditionen, zumeist aber als innovationsfreudig daherkam. Insofern sieht Schlögel selbst vor dem Hintergrund der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zu vielen Globalisierungsskeptikern im grenzenüberschreitenden Nomaden einen unverzichtbaren Akteurstyp der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So haben viele ostmitteleuropäische Städte - Schlögel nennt St. Petersburg, Lodz oder Czernowitz - eine multikulturelle Zukunft bereits in der Vergangenheit verkörpert, die ,,den Säuberern zum Opfer" gefallen sei (S. 96). Zu wenig beachtet bleibt hier m. E., dass Krisenmomente nicht nur von außen in vermeintlich heile multikulturellen Welten getragen wurden. Vielmehr - man könnte besonders Lemberg, Krakau oder Budapest nennen - gärten viele Konflikte bereits vor dem Ersten Weltkrieg, fanden jedoch dann erst durch äußere Bedingungen ihren Katalysator.

Ein thematischer Block von vier kürzeren Texten ist Russland - überwiegend in der postsowjetischen Periode - gewidmet. Bestechend sind die Beschreibungen des russischen Alltagslebens. Sie besitzen einen hohen Wiedererkennungswert für jedermann, der mit Russland vertraut ist, und eröffnen demjenigen, der noch nie dort war, wichtige Einblicke in die Mechanismen und Eigenarten der postsowjetischen Gesellschaft. Schlögel hält der klassischen Transformationsforschung einen differenzierteren Ansatz entgegen. Deutlich wird, wie heuristisch sinnlos das Unterfangen ist, Russlands Geschichte und Gegenwart an westlichen Normen zu messen, um nur immer wieder das Rückständigkeitsparadigma fortzuschreiben. Schlagende Beispiele sind die Diskussionen über die Einordnung des Kommunismus in die (westliche) Moderne oder über die Rolle einer Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit in der Sowjetunion und heute. Schlögel regt in diesem Zusammenhang neue Studien an, die ihren Blick z.B. auf eine Geschichte des sowjetischen Jazz, des Eskapismus und der Datschen-Kultur, der Mode, von Privatheit und Öffentlichkeit richten sollten (S. 130).

In seinen Überlegungen zur russischen Intelligenz entlarvt er deren Europavorstellungen als intellektuelle Konstruktion, die immer dann besonders virulent wurde und wird, wenn das Land Krisenzeiten durchlebte. Dabei hätte jedoch auch erwähnt werden müssen, inwiefern Ost- und Ostmitteleuropa eben so westeuropäische Konstruktionen sind und Umdeutungen unterliegen. Insgesamt schreibt Schlögel mit viel Sympathie und großen - an einigen Stellen sicher zu großen - Hoffnungen über die Entwicklungen im postsowjetischen Russland.

Von Schlögels Beobachtungsgabe profitieren auch die übrigen acht Beiträge, in denen er zum einen über das zusammenwachsende Europa nach Ende des Kalten Krieges reflektiert, zum anderen an den ersten Essay des Bandes über die Rückkehr Mitteleuropas anknüpft. Indem er sich mit dem Verhältnis des wiedervereinten Deutschlands zu Osteuropa auseinandersetzt, wird zugleich die Geschichte der Deutschen dort ins Licht gerückt. Jedoch, so ein Fazit, das Interesse, das der Osten für den Westen aufbringt, findet sich umgekehrt bei uns nicht. Schlögel berührt zudem Themen einer entstehenden europäischen Öffentlichkeit unter Einschluss Osteuropas, der wiederauflebenden Zivilgesellschaften, aber auch der Kehrseite des Zusammenbruchs der alten Ordnung, nämlich die Rückkehr des Krieges unmittelbar vor unserer Haustür. Damit sind nicht nur die ethnischen Konflikte in Südosteuropa gemeint, sondern auch die Entstehung militanter Zonen vor allem in Städten, in denen das Faustrecht über staatliche Polizeimacht dominiert. So analysiert Schlögel den neuen Akteurstypus des Kriegers, der in der Regel kein Angehöriger einer regulären Streitkraft sei, sondern ,,eher der Zivilist, der an den neuen Lebensumständen scheitert". (S. 216)

Eine Anmerkung zu Schlögels Schreibstil, auch wenn sich darüber sicher streiten läßt. Man muss seine ungewöhnlich barocke Sprache mögen, will man gelegentlich den interessanten, oft leider etwas versteckten Thesen und Argumenten auf die Spur kommen. Die Widersprüchlichkeiten des russischen Alltags oder der philosophisch-intellektuellen Denkgebäude kleidet er lesenswert in eine ausdrucksvolle Sprache, gelegentlich aber nimmt das Pathos doch überhand, so dass klar formulierte Thesen oder gar historische Genauigkeit mitunter einer überladenen, mitunter einer zu überspitzenden Sprache zum Opfer fallen.

An anderen Stellen - z.B. in der Frage, was Ostmitteleuropa war und ist - wäre m. E. eine schärfere Begrifflichkeit wünschenswert, schließlich werden breite Debatten darüber geführt, welche Grenzen Ostmitteleuropa aufweist, in welche historischen Regionen es sich unterteilen lässt.

Insgesamt lesen sich die Texte als eindrucksvolles Plädoyer für die Bedeutung Ost- und Ostmitteleuropas und damit wie eine vorweggenommene Fürsprache für die jetzt erfolgte EU-Osterweiterung. Sehr bedenkenswert sind auch Schlögels Ausführungen zum Comeback der Provinzstädte und Regionen gerade in Russland, die von vielen im Zuge großer Transformationsprozesse schlicht übersehen worden sind.

In diesem Sinne liegt die Mitte Europas tatsächlich ostwärts, nämlich dann, wenn Russland dazuzählt. Jedoch, so stellt Schlögel abschließend fest, ,,die Welt im Kopf ändert sich viel langsamer als die Wirklichkeit" (S. 249). Dem ist wohl so.

Kirsten Bönker, Bielefeld


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