ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Toni Offermann (Hrsg.), Die erste deutsche Arbeiterpartei. Organisation, Verbreitung und Sozialstruktur von ADAV und LADAV 1863-1871 (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 22), Verlag J.W.H. Dietz Nachf., Bonn 2002, 392 S. (mit einer ergänzenden CD-Rom), geb., 60,30 €.

Die Frühphase der deutschen Arbeiterbewegung gehörte lange Zeit zu den vernachlässigten Gebieten der Arbeiterbewegungsforschung. Mit der großartigen Monografie von Thomas Welskopp wurde diese Lücke weitgehend geschlossen.(1) Welskopp konnte dabei unter anderem auch auf die seit Mitte der 1980er-Jahre von Dieter Dowe und Toni Offermann in oft mühevoller Kleinarbeit zusammengetragenen Materialien zur Organisationsgeschichte von ADAV und LADAV zurückgreifen. In dem hier vorgelegten Band werden nun einem interessierten Fachpublikum erstmals ein Großteil dieser Materialien zugänglich gemacht. In der 250 Seiten starken Einleitung zeichnet Offermann die Entstehung und Entwicklung der lassalleanischen Parteien mit ebenso prägnanten wie luziden Strichen nach. Es handelt sich um Organisationsgeschichte auf höchstem Niveau, mit spannenden Einblicken gerade in die Sozialstrukturen lassalleanischer Mitgliedschaften. Die ursprünglich vorherrschende Kontrastierung einer eher handwerklich und kleinbürgerlich geprägten SDAP mit einer eher von der Proletarisierung bedrohten Facharbeiterschaft im Umkreis des ADAV ist in der neueren Literatur abgelöst worden von der These, dass es zwischen den diversen sozialdemokratischen Gruppierungen - zumindest in der ,,Aktivmitgliedschaft" (Thomas Welskopp) - kaum sozialstrukturelle Unterschiede gegeben hat. Offermann kommt nun, mit Blick auf die Basismitgliedschaft, zu der anders gelagerten Schlussfolgerung, dass die lokalen Organisationen aller Vereine sehr viel bunter aussahen als man dies gemeinhin angenommen hat. Das Berufs- und Sozialprofil war durchaus nicht einheitlich.

Auch in anderer Hinsicht bietet der Band Neues oder korrigiert in einzelnen Punkten den bisherigen Forschungsstand zu den lassalleanischen Organisationen. So kann Offermann zum Beispiel zeigen, dass die Gründung der SDAP sich durchaus nicht so katastrophal auf die Mitgliederentwicklung des ADAV ausgewirkt hat als das oft bislang angenommen wurde. Er bestätigt auch noch einmal nachdrücklich die Bedeutung der Mainlinie für die Lassalleaner: Südlich des Main, in Baden, Württemberg und Bayern gab es kaum Organisationserfolge. Insgesamt, so Offermanns Fazit, fluktuierten Mitgliedschaft und lokale Ausbreitung allerdings enorm. Die permanente Finanznot der Verbände wird auch sehr plastisch geschildert. Viele Mitglieder zahlten ihre Beiträge anscheinend doch nur sehr unregelmäßig, und der LADAV überlebte finanziell nur durch die Finanzspritzen der Sophie von Hatzfeld. Besonders detailliert schildert der Autor auch die zahlreichen Querelen und persönlichen Machtkämpfe innerhalb der Lassalleaner. Dabei unterstreicht er die Offenheit der Situation von 1866/67. Die Hatzfeld'sche Opposition befand sich zu dieser Zeit nicht auf hoffnungslos sektiererischem Terrain, so dass der Ausgang der Machtkämpfe innerhalb des ADAV durchaus unklar war.

Die bürokratische Durchstrukturierung der lassalleanischen Arbeiterorganisationen wird eindrucksvoll vorgeführt. Ebenso kenntnisreich wird die Entstehung und Entwicklung verschiedener Parteiämter kommentiert. Gerade zum LADAV, zu dem bislang selbst Grundinformationen zum Teil noch fehlten, bietet Offermann viel neues Material. Der im zweiten Teil des Bandes präsentierte Dokumentenanhang bietet Protokolle von Generalversammlungen, Statuten, Instruktionen, Geschäfts- und Verwaltungsreglements der lassalleanischen Organisationen. Ein ausgezeichnetes Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personen- und geografische Register runden den im Übrigen auch sehr schön illustrierten Band ab. Eine besonderes Bonbon ist dem Buch noch in Form einer CD-Rom beigegeben, die vor allem sozialstatistisches Material bietet.

Insgesamt stehen bei Offermann organisationsstrukturelle Fragestellungen im Vordergrund, die etwa bei Thomas Welskopps kulturhistorischem Ansatz eher am Rande vorkommen. Somit ergänzt Offermanns Studie diejenige Welskopps. Beide betonen aus jeweils anderer Perspektive, dass die Frühgeschichte der Arbeiterbewegung durchaus nicht nur als bloße Vorgeschichte der Sozialdemokratie betrachtet werden kann. Sowohl organisations- als auch kulturgeschichtlich waren die lassalleanischen Arbeiter'gemeinden' durchaus Phänomene sui generis. Das Erstellen eines Quellenbandes galt in Deutschland lange Zeit als fester Bestandteil einer jeden Ausbildung zum Vollhistoriker. Auch wenn sich diese Tradition in letzter Zeit etwas abgeschwächt hat, so zeigt Offermann doch einmal mehr, was eine gut gemachte Edition zu leisten vermag.

Stefan Berger, Glamorgan


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