ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933 (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bd. 4), Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 357 S., 27,00 €.

Der 4. Band der Reihe ,,Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus", der im Auftrag der Max-Planck-Gesellschaft die Aufarbeitung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus fortsetzt und das Ergebnis eines Workshops vom Dezember 1999 darstellt, ist in seinem Kern der Beteiligung von drei Kaiser-Wilhelm-Instituten an der ,,Rassenforschung" vor und nach 1933 gewidmet.(1) Dabei unterliegen die Forschungsprogramme der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin-Buch und des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem weder in der Weimarer Republik noch im Dritten Reich einem einheitlichen wissenschaftlichen Rassenkonzept. Die Beiträge zeigen nicht nur, dass es in wissenschaftlichen Quellen eine Vielzahl konkurrierender Definitionen und dementsprechend eine vielschichtige Rassenforschung gab, sondern vor allem, dass sie auf Seiten der erwähnten Forschungseinrichtungen je nach Kontext unterschiedlich angewandt wurden. In diesem Sinne wird die im einleitenden Beitrag von Hans-Walter Schmuhl formulierte These einer wechselseitigen Instrumentalisierung von Wissenschaft und Politik (S. 32) eingehend beleuchtet. Spätestens seit dem Ende der Zwanzigerjahre war ,,Rasse" zu einem Leitbegriff und einem politischen Faktor geworden, der bei staatlichen bzw. politischen Entscheidungsträgern das Anwerben von Fördermitteln erleichterte. Die herausragende Leistung des Sammelbandes liegt in der konsequenten Beleuchtung von Forschungsinhalten über einen institutions- und personengeschichtlichen Ansatz hinaus, um den zentralen, aber in dieser Hinsicht auch als komplex zu betrachtenden Beitrag der life sciences zur nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik aufzuklären.

Volker Roelcke zeigt am Beispiel der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA), dass hier der Rassenbegriff nicht ,,Gegenstand der wissenschaftlichen Bemühungen" war und ,,in fachlichen Diskussionen" eher ,,marginal" blieb (S. 49). Vielmehr hatte der Begriff eine Funktion im Rahmen der Durchsetzungsstrategien des Leiters der DFA, Ernst Rüdin, und seiner Praxis der Politikberatung im Nationalsozialismus. Ähnlich machte sich Oskar Vogt, der Leiter des KWI für Hirnforschung bis 1937, die Vielschichtigkeit des Rassenbegriffs in der späten Weimarer Republik zunutze, um die finanzielle Basis seines breit angelegten Forschungsprogramms abzusichern. Darüber hinaus hatte aber hier der Begriff bis 1933 eine Integrationswirkung für die unterschiedlichen Forschungszweige an den verschiedenen Abteilungen des Instituts.

Helga Satzinger vertritt in ihrem Beitrag die These, dass der Rassenbegriff infolge seiner zunehmenden Bindung an das Ideal der nordischen Rassenreinheit für den liberalen Vogt nicht mehr verwendbar wurde. Vor allem war er mit einem eugenischen Programm verknüpft, das von der Vorstellung einer weiter am Individuum orientierten ,,Erbgutverbesserung" grundsätzlich abwich.

Der Beitrag von Michael Hagner macht nämlich deutlich, dass die erst nach dem ersten Weltkrieg in Angriff genommene Elite- und Rassengehirnforschung des Forscherpaars Oskar und Cécile Vogt zwar von eugenischen Zukunftsvisionen geleitet wurde, aber stets auf das Individuum ausgerichtet blieb.

Richard Wetzell setzt sich mit der kriminalbiologischen Forschung an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie auseinander und beleuchtet im Detail die jeweiligen Forschungen von Johannes Lange am Ende der Weimarer Republik und von Friedrich Stumpfl während des Nationalsozialismus. Die erkenntnisleitenden Bemühungen der beiden Forscher um eine ätiologische Abgrenzung der Erblichkeit der Kriminalität mündeten in eine Forschungsrichtung, die sehr stark durch einen entwicklungsphysiologischen Ansatz gekennzeichnet war und so - auch im Nationalsozialismus - zumindest seitens der beteiligten Forscher zu ausdifferenzierten praktischen bzw. rassenhygienischen Schlussfolgerungen führte. In dieser Hinsicht existiert ein deutlicher Kontrast zwischen den an der DFA erzielten Forschungsergebnissen und den rassenhygienischen Forderungen des Leiters der DFA, Ernst Rüdin, der von der Erblichkeit der Kriminalität fest überzeugt war und sich stets für eine Sterilisierung von Kriminellen einsetzte. In diesem Sinne darf die These einer ,,unzertrennbaren Verknüpfung von Wissenschaft und Politik" relativiert werden.

Benoît Massin ermittelt anhand der Veröffentlichungen des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ein Gesamtprofil über die unterschiedlichen Forschungsrichtungen dieses Instituts. Dabei stellt er die Abwendung in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre von der Rassenkunde und die stärkere Hinwendung zum Vererbungsparadigma in der Rassenmorphogenetik und Erbpathologie dar. Diese Entwicklung ist in der Hauptsache dem langfristigen Projekt des Leiters des KWI, Eugen Fischer, die überlieferte Anthropologie auf eine erbliche Grundlage zu stellen, geschuldet. Leider stützt sich Massin nur auf die Zahl der Veröffentlichungen und nicht auf die finanziellen Zuwendungen, die den Forschungsfeldern zuteil wurden, um die relative Bedeutung dieser Forschungsfelder zu messen. So sind seine vorläufigen Ergebnisse durch weitere Untersuchungen zu verfeinern und noch stärker zu kontextualisieren. Der Blick wird vor allem auf die Erbforschungsaktivitäten unter den Erfordernissen des Krieges und auf die ab 1941 errichtete und von Hans Nachtsheim geleitete Abteilung zur experimentellen Erbpathologie zu richten sein, die zwar quantitativ als marginal zu bezeichnen ist, sich aber bis 1944 starker finanzieller Zuwendungen erfreute.

Paul J. Weindling widmet sich diesen Forschungsaktivitäten Nachtsheims und zeigt seine Verwicklung in Menschenversuche auf. Anhand von drei Beispielen revidiert er somit das in den Fünfzigerjahren verbreitete Bild des als politisch unbelastet geltenden Säugetiergenetikers. Die Versuche Nachtsheims an sechs epileptischen Kindern in der Unterdruckkammer der Luftwaffe in Rechlin zeigen, dass Tiermodelle nicht als Ersatz oder Ergänzung, sondern auch als Voraussetzung zur klinischen Forschung am Menschen gedient haben. Die Ausführungen Weindlings bleiben sehr stark einem personengeschichtlichen Ansatz verbunden und werfen vor allem Licht auf das ,,engmaschige Netzwerk von kollegialen Kontakten" (S. 20), das den wissenschaftlichen Kontext verbrecherischer Forschung auszeichnet.

Thomas Potthast zeigt am Beispiel des Zoologen Bernhard Rensch und seiner Theorie der ,,Rassenkreise" die Bedeutung der biogeographischen Rassenforschung für den ,,Übergang von einem Neolamarckismus zum Neodarwinismus" (S. 276) auf. Der massive Widerspruch auf Seiten von NS-Rassenforschern gegen Renschs topologisch-räumliche Auffassung der Entstehung von Rassen weist darauf hin, dass diese Auffassung im Nationalsozialismus nicht mehr durchsetzungsfähig war, da sie mit Milieutheorien in Verbindung gebracht werden konnte. Vor allem kollidierte sie mit der immer dominanteren genetischen Lehre von ungerichteten Mutationen beim Artenwandel, wonach erbliche Rassenmerkmale allein auf der Ebene der Selektion ein Resultat der Umwelteinwirkung sein können.

Im letzten Beitrag über die amerikanische Kulturanthropologie um Franz Boas beleuchtet Doris Kaufmann die Entstehung und Nachwirkung von Boas' Kritik am Primat des biologischen Rassenbegriffes und an der deutschen Rassenhygiene. Somit war der jüdische Emigrant nicht von politischen Ansichten geleitet, sondern folgte seinen naturwissenschaftlichen Ansichten. Durch seine Studie über Schädelform und körperliche Gestalt von Einwanderern war Boas sehr früh zu der Erkenntnis gelangt, dass es für die Existenz von rassischen Unterschieden beim geistigen Leistungsvermögen an empirischen Beweisen fehlte. In den Dreißigerjahren lieferte Boas keine konsistente Theorie der Kulturanthropologie, die vielmehr von seinen Schülern und Anhängern verfolgt wurde. Im Kontext der Nachkriegszeit erfuhr Boas' Ansatz eine neue Aktualität, als sich die beiden ersten Deklarationen der UNESCO zum Rassenbegriff weitgehend auf seine Interpretation des Verhältnisses von Rasse und Kultur stützten.

Insgesamt liefern die dichten, auf umfangreichem Archivmaterial basierenden Beiträge eine Fülle von neuen Erkenntnissen und Anregungen für eine ausdifferenzierte Analyse des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik.

Anne Cottebrune, Heidelberg


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