ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Carola Sachse (Hrsg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposiums (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus Bd. 6), Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 336 S., brosch., 26,00 €.

Als Zwischenergebnis des von der Max-Planck-Gesellschaft in Auftrag gegebenen Forschungsprogramms zur Aufarbeitung der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus nimmt der 6. Band der Reihe ,,Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" einen außergewöhnlichen - vermutlich auch zentralen - Stellenwert ein. Er hat seinen Ausgangspunkt im feierlichen Akt der Entschuldigung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für das Leid, das den Opfern verbrecherischer Forschung ,,im Namen der Wissenschaft" (S. 50) angetan wurde und dokumentiert die Ergebnisse einer Begegnung zwischen überlebenden Opfern von Menschenversuchen und jüngeren Historikern, die im Rahmen des Symposiums ,,Biowissenschaften und Menschenversuche an KWI - Die Verbindung nach Auschwitz" im Sommer 2001 stattgefunden hat. Im Sammelband, der sowohl ,,Ansprachen", ,,Zeugnisse" von Opfern, wissenschaftliche Beiträge als auch ,,Rückblicke" versammelt, geht es um sehr viel mehr als die ,,Verbindung nach Auschwitz" - versteht man darunter lediglich die Verknüpfung der biowissenschaftlichen Forschung in Berlin-Dahlem mit den medizinischen Labors im Vernichtungslager Auschwitz. Es geht um Vergangenheitspolitik, um den Versuch, dem menschlichen Bedürfnis der Opfer nach Anerkennung und Aufklärung entgegenzukommen und gleichzeitig um die Gewinnung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. In diesem Sinne beschränkt sich die Aufarbeitung von verbrecherischer Forschung bzw. Beteiligungen mehrerer Kaiser-Wilhelm-Institute an Menschenversuchen nicht auf die wissenschaftliche Auswertung der noch zugänglichen Quellen, sie will auch ,,die Authentizität der Zeugnisse von Überlebenden in die Geschichte [einschreiben]" (S. 27).

Nach einleitenden Überlegungen der Projektleiterin des Forschungsprogramms, Carola Sachse, zur Vergangenheitspolitik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Forschungsstand und vor allem Bedeutung der Erfahrungen der Opfer - als ,,wesentlicher Teil der historischen Wirklichkeit" (S. 31) - für die Zeitgeschichtsschreibung, nach der Ansprache von Wolfgang Schieder als einem der Leiter des Forschungsprogramms und dem Entschuldigungsakt des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Hubert Markl, kommen die Opfer zu Wort. Dabei stehen sie als letzte Zeugen der medizinischen Verbrechen und vermitteln eine am eigenen Leib gemachte Erfahrung, die von vergangenheitspolitischen Diskursen nicht mehr zur Kenntnis genommen wird.

Ihre Zeugnisse fordern in dieser Hinsicht auf, den Blick auf die Identität der Erinnerung zu richten, Anteil an der Erfahrung der Opfer zu nehmen und so eine Vergangenheitspolitik zu ermöglichen, die nicht allein um Vergebung bemüht ist. Jona Laks, die mit ihrer Zwillingsschwester 1944 nach Auschwitz kam und zum Opfer von Mengele wurde, gibt eindringlich der Befürchtung Ausdruck, dass Vergebung die Erinnerung auslöschen könnte: ,,Wir verlangen von ihnen, dass Sie sich an das erinnern, was Sie 'aufräumen' und dann vielleicht vergessen wollen" (S. 56). Sich zu erinnern, ist für sie gleichzeitig ein religiöses Gebot und entspringt einem persönlich und auch gesellschaftlich notwendigen Bedürfnis.

Eva Mozes Kor überlebte ebenfalls mit ihrer Zwillingsschwester die Versuche Mengeles und engagierte sich seit 1983 für die Überlebenden der Zwillingsexperimente. So beschritt sie einen eigenen Weg, ihre Geschichte aufzuarbeiten und ihre ,,Heilung von Auschwitz und Mengeles Experimenten" herbeizuführen. Dabei weist sie über die Notwendigkeit des Erinnerns hinaus auf die zentrale Bedeutung der Vergebung - aber bei ihr von Seiten des Opfers ausgehend - hin, die nicht nur eine seelische Befreiung ermöglicht, sondern auch den Weg zu einer menschlichen Vergangenheitspolitik ebnet, die nicht auf Gerechtigkeit und Rache setzt und so die Anerkennung dessen, was wirklich geschehen ist, erleichtert.

Die Erklärungen von Ephraim Reichenberg und Vera Kriegel, die Transkription der frei gehaltenen Rede von Moshe Offer, die Erzählungen von Otto Klain und der Beitrag von Saul Oren-Hornfeld konzentrieren sich auf die medizinischen Experimente, die sie am eigenen Leibe ertragen mussten, und auf die daraus entstandenen Traumata. So stellen sie offene Fragen an die historische Wissenschaft, die zur (weiteren) Rekonstruktion des personellen, institutionellen, kommunikativen und wissenschaftlichen Kontextes von verbrecherischer Forschung aufgefordert wird.

Der dritte Teil des Sammelbandes, der aus den Berichten zur wissenschaftshistorischen Forschung besteht, wird von einem ausführlichen Beitrag von Gerhard Baader angeführt, der sich mit den theoretischen Konzepten der Experimentalwissenschaft und den historischen Vorbedingungen des Menschenversuchs im Nationalsozialismus auseinandersetzt. Dabei wird die ,,stürmische Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin, die auf das Humanexperiment als den heuristischen Königsweg in der Medizin zulief" (S. 120) nachgezeichnet. Dies bildet die theoretische Grundlage, auf Basis derer er - sich auf dem Forschungsstand stützend - die jeweilige Beteiligung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung und des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik an Menschenversuchen analysiert. Dabei zeigt er, wie sich die wissenschaftlichen Dynamiken, die diese drei Eliteforschungseinrichtungen mit den medizinischen Verbrechen des NS-Regimes verbinden, aus einer Verknüpfung des erbbiologischen Paradigmas mit der allgemein in der medizinischen Forschung üblichen Experimentalmedizin entwickelt haben. Die Verbindungslinie zwischen der DFA, dem KWI für Hirnforschung und der mörderischen Aktion der Euthanasie ergab sich aus einer Forschungsstrategie, nach der ,,systematische Krankheitsstörungen von zuvor untersuchten Patienten eine der nötigen Voraussetzungen waren, damit die am Lebenden gewonnen Daten systematisch mit den pathologisch-anatomischen und histopathologischen Befunden korreliert werden konnten" (Volker Roelcke, S. 144). In diesem Sinne sind die Forschungen an Kindern, die im Rahmen der Euthanasie-Aktion ermordet wurden, und die Untersuchungen an ihren Gehirnen einer Beschaffungskriminalität zuzuordnen, die sich durchaus in den wissenschaftlichen Standard der Experimentalmedizin der damaligen Zeit einordnen lässt. Die Zulieferungen von Humanpräparaten aus dem Vernichtungslager Auschwitz an das KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik gehen über diese Art der Beschaffungskriminalität hinaus, ,,als einige der von Verschuer zu verantwortenden Forschungsprojekte bewusst im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten, die ihnen die Zusammenarbeit mit Mengele in Auschwitz bot, konzipiert wurden" (S. 152).

In seinem Beitrag zur historischen Entwicklung eines Diskurses um die Ethik des Humanexperiments macht Rolf Winau deutlich, dass in der Zeit zwischen 1900 und 1933 elaborierte ethische Konzepte entwickelt wurden, die jedoch ohne Einfluss auf Forschungspraxis und Einstellung blieben. Für die ausbleibende Auseinandersetzung der Experimentalmediziner mit den ethischen Konzepten ihrer Zeit macht er sowohl das paternalistische Arzt-Patient-Verhältnis als auch die Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit der Experimentalmediziner verantwortlich.

Eine von ethischen Bedenken hermetisch abgeschlossene Einstellung der Experimentalmediziner wird im Beitrag von Bernd Gausemeier an einigen markanten Beispielen herausgearbeitet. ,,Es gehörte für sie selbstverständlich nicht zur wissenschaftlichen Ethik, nach den Umständen zu fragen, unter denen Versuchsmaterial gewonnen wurde" (S. 196). In dieser Hinsicht führte der Umbruch von 1945 keine grundsätzliche Änderung des ethischen Verhaltens herbei. Vielmehr zeugt der kollegiale Konsens, der zur Beschützung von belasteten Kollegen nach dem Krieg entstand, von einer weiterhin unhinterfragten Auseinandersetzung mit der Rassenhygiene und ihren verbrecherischen Folgen.

Benoît Massin widmet sich der erbpathologischen Zwillingsforschung, deren methodologische Grundlagen von Otmar Freiherr von Verschuer, dem ab 1942 amtierenden Direktor des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in den zwanziger Jahren entwickelt wurden. Diese Forschungsrichtung wurde zum geistigen Anstifter für die verbrecherischen Versuche seines Schülers Mengele, deren Verbindung mit dem KWI Massin in einem forschungsstrategischen Kontext rekonstruiert.

Mit seinem Beitrag ist Paul Weindling um eine Aufwertung der Rolle der überlebenden Opfer bemüht, die es seiner These zufolge vermochten, den Blick der alliierten Ermittlungsoffiziere auf die medizinischen Verbrechen zu lenken und so den Weg zur strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für die kriminellen Menschenversuche ebneten. ,,Ihre Berichte veränderten die politischen Perspektiven der alliierten Besatzungsmächte", die nicht ,,mehr nur um die strategische Auswertung des wissenschaftlichen Forschungsstandes" (S. 256) deutscher medizinischer Forschung bemüht waren. Dass es nicht zu einem zweiten Ärzteprozess vor allem gegen deutsche Erbforscher und u. a. Verschuer und Mengele kam, hat sowohl mit den rechtlichen Bedingungen der Strafverfolgung von NS-Verbrechen als auch mit dem rasch eintretenden Kalten Krieg zu tun.

Der letzte Teil besteht aus zwei Praxisberichten: Der erste Beitrag basiert auf einer Zusammenfassung von zwei zuerst 1965 und 1967 veröffentlichte Aufsätzen der Fachärztin für Psychiatrie, Wanda Półtawska, die im Konzentrationslager Ravensbrück interniert war und Anfang der Sechzigerjahre im Rahmen einer Forschungsgruppe an der Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Akademie Krakau über die Folgen der KZ-Haft bei in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern geborenen bzw. in ihrer Kindheit dort gefangengehaltenen Kindern gearbeitet hat. Der zusammengestellte Text erläutert das Syndrom der paroxysnahen Hypermnesie, das in einer Überempfindlichkeit des Gedächtnisses besteht, und weist auf die Spezifizität des haftbedingten Gesundheitszustandes, der Bemühungen um eine Verbesserung der medizinischen und sozialen Betreuung von früheren KZ-Häftlinge notwendig machte. Der zweite Beitrag von Lothar Evers, Geschäftsführer des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, richtet den Blick auf die Praxis der Entschädigung, die bis heute den Ansprüchen der Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung nicht gebührend entgegenkommt. Während das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 sich auf einen eingeschränkten Verfolgungsbegriff stützt und bestimmte Verfolgungsgruppen ausschließt, führten die deutschen Verhandlungen zur deutschen Einheit zu keiner angemessenen Entschädigung der Opfer Mittel- und Osteuropas.

Abgeschlossen wird der Sammelband mit Bemerkungen von Reinhard Rürup, dem Leiter des Forschungsprogramms, der auf den fruchtbaren Meinungsaustausch zwischen Überlebenden und Historikern, aber auch gleichzeitig auf die weiten Kenntnislücken (bezüglich verbrecherischer Forschung) hinweist: ,,Ich persönlich fand es besonders bemerkenswert, dass wir über das, was im Bereich der Zwillingsforschung konkret geschehen ist, noch immer sehr viel weniger wissen, als in der Regel unterstellt wird." So kommt es, dass bisher die wissenschaftlichen Fragestellungen, die Mengele mit seiner Zwillingsforschung verfolgte, weiterhin kaum geklärt sind.

Insgesamt beeindruckt der Sammelband weniger durch die Präsentation von neuen Fakten als durch die eingehende Beleuchtung des wissenschaftlichen Kontexts verbrecherischer Forschung.

Anne Cottebrune, Heidelberg


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