ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Jörg Hennecke, Die dritte Republik. Aufbruch und Ernüchterung, Propyläen Verlag, München 2003, 399 S., geb., 24 €.

Das Buch mit dem nicht ganz überzeugenden Titel ,,Die dritte Republik" ist eine erste Darstellung der mit der Bundestagswahl 1998 begonnenen rot-grünen Regierungszeit. Es ist rein deskriptiv gehalten und orientiert sich fast vollständig an der politisch-exekutiven Ebene des Zeitgeschehens. Der Text liest sich ausgesprochen flüssig. Stilsicher und souverän gelingt ein umfassender Überblick, der der Chronologie der jeweils in der Öffentlichkeit beachteten politischen Ereignisse folgt.

Der Autor nennt vier große Veränderungen, die die Titulierung der Entwicklung Deutschlands zur ,,dritten Republik" rechtfertigen sollen: die Folgen der Wiedervereinigung, insbesondere die mangelnde Zustimmung der Ostdeutschen zum bundesdeutschen Konsens der Marktwirtschaft und der Westeinbindung, ein gestärktes Selbstbewusstsein der Deutschen, das mit der Historisierung des Nationalsozialismus zu beobachten sei, drittens die Verkleinerung nationaler politischer Spielräume durch Globalisierung und Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene und schließlich die neuen militärpolitischen Aufgaben der Konfliktintervention und Terrorismusbekämpfung.

Diese Auswahl freilich ist etwas gezwungen und spiegelt sich im Textverlauf auch kaum wieder. Genauso ließe sich die steigende Staatsverschuldung, der demografische Wandel oder auch der Mangel an programmatischen Alternativkonzepten der großen politischen Parteien als neuer paradigmatischer Rahmen nennen. Analytisch gut ist der Text vor allem im Kleinen, in den zuweilen feuilletonistisch illustrierten Details. So beschreibt der Autor mit sicherem Griff, dass Gerhard Schröder in seinem Wahlkampf 1998 auf eine schon damals illusionäre Strategie einer Modernisierung ohne schmerzhafte Einschnitte setzte und dass trotz konzeptioneller Schwächen die rot-grüne Regierung Tempo in die deutsche Politik brachte.

Am stärksten ist die Bilanz des Schlusskapitels. In einer sprachlich brillanten Analyse des Politikstils Gerhard Schröders hebt der Autor die Intuition und Instinktsicherheit des Kanzlers im situativen Handeln hervor, die diesem besonders im verminten Gelände der Medien zu Gute kommt, während die große Schwäche der Regierung Schröder ein Mangel an programmatischer und strategischer Stabilität und Zielrichtung sei. Zu den Kontinuitäten deutscher Politik wird ein reaktives, konsensorientiertes und mutloses Agieren in der modernisierungsbedürftigen Sozialpolitik gezählt, wobei der rot-grünen Koalition auch einige wegweisende Schritte, z.B. die Einführung eines Kapitaldeckungselements in der Rente, attestiert wird. Die größte Bewegung erblickt der Autor in der außenpolitischen Unbeschwertheit der Regierungspolitik, die vor allem in der Person Schröders inzwischen auch ohne falsche Skrupel wieder deutsche Interessen vertritt, wobei auch hier die Kurzatmigkeit der Mediendemokratie auf Kosten langfristiger Tragfähigkeit und reflektierter Maximen zu beklagen sei.

Dem interessierten Beobachter der Politik ist vertraut, was Hennecke zusammenstellt. Unbekanntes, Hintergründe, originelle Sichtweisen, anregende Thesen oder Extrapolationen werden nicht präsentiert. Dem Autor kann man es nicht verdenken. Ein größerer explizierender Ehrgeiz wäre wohl Gefahr gelaufen, dem Gegenstand eine Profilschärfe anzudichten, die er nicht oder noch nicht besitzt. So liegt das Verdienst der Arbeit wohl vor allem darin, dass sie in Gestalt einer umfassenden Zusammenstellung eine geeignete Grundlage für weitere zeithistorische Untersuchungen und Diskussionen zur Verfügung stellt.


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