ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Annette Kuhn, Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland, Aufbau-Verlag/VVA, Berlin 2003, 232 S., geb., 17,90 €.

Mit einem irritierenden Bild werden Leserinnen und Leser dieses autobiografischen Buches immer wieder konfrontiert, mit dem Bild ,,Gliederpuppe, Hampelfrau" (S. 32 f.) - fragile Spielzeuge, die nur durch Menschenhand bewegt, verändert, aber auch zerlegt, zerstört werden können. Als solche sieht sich die Autorin selbst. Das Bild wird mit Blick auf die Jahre ihrer Kindheit, auf die Mitte des Lebens und auf die gegenwärtige Phase des Alterns immer wieder gezeichnet. Die äußeren Lebensdaten scheinen diesem Bild zu widersprechen. Annette Kuhn, die Autorin: Jahrgang 1934, Geschichts-Wissenschaftlerin, bei ihrer Berufung jüngste Professorin der Republik, später bundesweit erste Inhaberin eines Lehrstuhls für Frauenforschung, eine Pionierin, die anderen die Augen für den 'feministischen Blick' auf Geschichte öffnete und als Emerita am Bau eines Hauses der FrauenGeschichte arbeitet.

Das Thema Frauenforschung hatte Annette Kuhn übrigens erst durch die Achtundsechziger entdeckt. Ihre Studentinnen und Studenten waren es ursprünglich, die sie, die Lehrende, mit Fragen nach der NS-Zeit, mit der Rolle der Frauen damals, dann mit frauenpolitischen Forderungen konfrontierten. Als Autorin, Co-Autorin und Herausgeberin zahlreicher wissenschaftlicher Werke zur Frauenforschung ist sie in den Folgejahrzehnten bekannt geworden. Ein Buch, geschrieben wie ihr ,,goldener Stern", bildhaft, bekennend und höchst persönlich, wirkt vor diesem Hintergrund überraschend, fast irritierend.

Die Erfolgsgeschichte der Prof. Dr. phil. Annette Kuhn ist nur ein Aspekt dieser Autobiografie. Der andere, womöglich interessantere ist die Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte eines Mädchens aus bestem Hause, eines Hauses, das allerdings jüdisch war. Der ,,halbjüdische" Vater, habilitierter Privatdozent der Philosophie, glaubte noch Mitte der Dreißigerjahre, seine Lehrveranstaltungen in Berlin fortsetzen zu können; die Mutter hegte diese Illusion nicht. Sie tilgte alle Hinweise auf ihre ,,volljüdische" Herkunft, auch den auf ihren Mädchennamen Lewy. 1937 emigrierte sie mit Sohn und Tochter, aber ohne Ehemann nach England. Dort erschuf Käthe Kuhn ihren Kindern eine Märchenwelt, fast so schön wie die verlorene in Berlin-Dahlem. Das Wort Flucht gab es nicht in dieser Märchenwelt; es gab auch nicht die deutsche Sprache. Ein Jahr später war die Familie in den USA vereint; Helmut Kuhn, der Vater, war an eine Universität in North Carolina berufen worden. Annettes Englisch wandelte sich zu einem Südstaaten-Amerikanisch; später, im Internat in Pennsylvania, wurde sie deswegen ausgelacht. Den Aufenthalt in den USA erlebte sie als Bereicherung; aber Zuhause fühlte sie sich nirgends. Was Heimat ist, wusste sie nicht; vielleicht war es der gute Teil Deutschlands, von dem die Eltern immer wieder sprachen. 1948 kehrte die Familie dorthin zurück, Annette voll froher Erwartung auf das Neue. Aber auch hier war sie Außenseiterin, ein schlecht Deutsch sprechendes Mädchen, das jeden duzte und auch sonst Umgangsformen hatte, die man in dem immer noch NS-geprägten Land durchaus nicht gewöhnt war.

Über den Grund für die Flucht der Familie nach England, für das Exil in den USA wurde nie gesprochen; über die jüdische Herkunft der Familie wurde geschwiegen. Annette Kuhn wusste darüber nichts. Und doch: Als sie, schon junge Professorin, eine frühere Lehrerin die Worte sagen hörte, in der deutschen Nachkriegszeit seien ,,die Juden alle aus ihren Löchern [gekrochen]" (S. 78), fühlte sie sich im Wortsinn getroffen: ,,Ich begann zu begreifen. Die Juden, die Ratten. Sie krochen wieder aus ihren Löchern. Sie waren an allem schuld ... Ich begriff: Ich gehörte zu den Ratten" (ebd.). Annette Kuhn wurde spät und schlagartig und schmerzhaft klar, dass das Land, aus dem sie stammte, in das sie zurück gekehrt war, ,,judenfrei bleiben [sollte]" (S. 79). Ihre Eltern, besonders die Mutter, hatten dieser Erwartung in völliger Selbstverleugnung entsprochen. Und dann folgt der wohl erschütterndste Satz in Kuhns Lebensbericht: ,,Auch ich war eine judenfreie Deutsche geworden" (ebd.).

Der Entschluss, sich am Schweigen der Mütter und Väter nicht länger zu beteiligen, fiel erst später, wie auch der Entschluss, das eigene frauenlose Geschichtsbild zu revidieren, erst später fiel. In der Zwischenzeit, noch als Studentin, bevölkerte Annette Kuhn auf der Suche nach Orientierung und seelenverwandten Vorbildern ihre Geisteswelt mit weiblichen Wesen, mit solchen aus der realen Geschichte und solchen aus der Mythologie. ,,Promethea blinzelt mich, die Gliederpuppe, die Hampelfrau mit ihren kleinen, klugen Augen an ... Sie bleibt geduldig neben mir sitzen. Zusammen spielen wir bis zu meiner Emeritierung ... Wenn ich früh tanze, ist mein Körper Musik. Mittags ist er eine Trompete. Abends eine Flöte. Promethea tanzt mit mir" (S. 195). Das sind gewöhnungsbedürftige Bilder, die ähnlich immer wieder herauf beschworen werden.

Dieses Buch ist nichts für ungeduldige Leser, denn es schildert nicht nur die Erfahrungen eines immer wieder entwurzelten Menschen, nicht nur Leben und Arbeit einer kämpferischen Wissenschaftlerin in der Männerwelt Universität, nicht nur die Fragen der Achtundsechziger an ihre Elterngeneration, nicht nur die Installierung von Frauenforschung an unseren Hochschulen. Über die Zeitgeschichte hinaus schildert es eben auch den langen Weg voller Zweifel und Fragen, Widersprüche und Lebensbrüche, doch auch voller Kraft spendender Zuwendung bis hin zur Selbstfindung eines hochpolitischen Menschen, der sich trotz alledem unter einem goldenen Stern geboren fühlt.

Antje Dertinger, Bonn


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