ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Cinzia Villani, Zwischen Rassengesetzen und Deportation. Juden in Südtirol, im Trentino und in der Provinz Belluno 1933-1945, aus dem Italienischen von Michaela Heissenberger, bearbeitet von Hugo Seyr, (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs, Bd. 15), Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2003, 208 S., kart., 25,00 €.

Während der Antisemitismus in Norditalien bis 1938 zwar virulent und besonders in der Provinz Südtirol verbreitet war, war die Region dennoch ein durchaus begehrtes Exilland, besonders deutscher und ab 1938 mit dem ,,Anschluss" Österreichs von dort kommender Emigranten. Mit dem Erlass der Rassegesetze ab 1938, der Internierung ausländischer Juden mit dem Kriegseintritt Italiens 1940 und der Zusammenfassung der drei Provinzen Südtirol, Trient und Belluno 1943 zur Operationszone Alpenvorland unter Hitlers Befehlsgewalt bekam der Antisemitismus jedoch eine neue Dimension. Zunächst wandelte er sich von einem religiösen in ein rassisches Phänomen, und ab 1943 ging er von der rechtlichen zur persönlichen Verfolgung über, die durch die minutiöse bürokratische Erfassung der jüdischen Bevölkerung aufgrund der faschistischen Gesetzgebung vorbereitet und ermöglicht wurde.

Einerseits will Cinzia Villani mit ihrer Studie die Erinnerung an den faschistischen Antisemitismus wach halten, zumal einige Zeugen - besonders in der Provinz Südtirol - auch heute nicht wagen, ihr jüdisches Dasein offen zu leben, weil sie immer noch Angst vor Diskriminierung und Verfolgung haben, wenn auch unter anderen Vorzeichen als zur Zeit zwischen 1933 und 1945. Andererseits entspringt die Studie dem erst seit 1988 erwachten Interesse an der Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Italien. Dieses verspätete Forschungsinteresse und der Bruch des Schweigens - 50 Jahre nach Erlass der Rassegesetze - erklärt sich aus den Tatsachen, dass die Archive erst nach 50 Jahren geöffnet, der Antisemitismus als ,,marginales" Problem angesehen wurde, die Haltung der Kirche nicht unbedingt judenfreundlich war und das Land um seinen ,,guten Ruf" fürchtete, d. h. das Bild des ,,guten Italieners" nicht in Frage stellen oder gar zerstören wollte.

Diesem neu erwachten Bewusstsein entspringt der im Juli 2000 an italienischen Schulen eingeführte ,,Tag der Erinnerung" - der 27. Januar 1945, die Befeiung Auschwitz' - an dem der antijüdischen Gesetze, der Haft, Deportation und des Todes von Juden und Gegnern des Faschismus gedacht wird.

Ein besonderes und bislang einmaliges Verdienst der Verfasserin ist es, ihr Hauptaugenmerk auf die Flüchtlinge besonders aus dem nationalsozialistischen Deutschland innerhalb der jüdischen Bevölkerung zu legen, die die am stärksten gefährdete Bevölkerungsgruppe innerhalb des Judentums der drei Provinzen darstellte. Dabei wird besonders die Sonderrolle Merans und Bozens herausgearbeitet, die diese Gemeinden bei den aus Deutschland einsetzenden Flüchtlingswellen nach dem Boykott jüdischer Geschäfte und der ,,Arisierung" der Wirtschaft in Deutschland spielten.

In Meran war - wie in keiner anderen italienischen Gemeinde - der Anteil der jüdischen Flüchtlinge aus dem Ausland zeitweise größer als derjenige der ortsansässigen Juden. Außerdem bestand dort seit Beginn des 20. Jh. eine jüdische Kultusgemeinde. Die Stadt lag - wie überhaupt Südtirol - im Spannungsfeld zwischen Italien und Deutschland und kam der kulturellen und sprachlichen Affinität zwischen Deutschen und Italienern entgegen.

Trotz der faschistischen Diktatur in Italien gab es bis März 1938 keine Einwanderungsbeschränkungen und durchaus Aufenthaltsmöglichkeiten für Juden, Intellektuelle und Gegner des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland, die sich vor einer Internierung im Konzentrationslager retten wollten. Erst mit dem Erlass der Rassegesetze löste der italienische Antisemitismus tief greifende Folgen für die jüdische Bevölkerung Italiens und die hinzuströmenden Flüchtlinge aus, auch wenn das italienische Innenministerium bereits 1934 Informationen über die aus Deutschland geflüchteten Juden forderte. Vom 30. März bis 2. April 1936 kam es zu einem geheimen Polizeiabkommen zwischen Deutschland und Italien, das dem Kampf gegen Kommunismus, Freimaurerei, Emigration und dem Austausch von Vorschlägen für Polizeimaßnahmen dienen sollte. Deutschland wollte dieses Abkommen auch auf Juden ausdehnen, Italien war jedoch dagegen, weil Juden zahlenmäßig nur gering in Italien vertreten und ,,für Partei und Staat bedeutungslos" seien. Erst beim Staatsbesuch Hitlers in Italien (3.-9. Mai 1938) kam es zu einer flächendeckenden Kontrolle aller deutschen Emigranten.

Diejenigen Juden, die in Südtirol, Trient und Belluno ihre Zuflucht suchten, wurden durch die antisemitische Politik des italienischen Faschismus enttäuscht: Am 16. Februar 1938 wurde ein Gesetz erlassen, das Mussolini selbst als ,,Meisterwerk antisemitischer Propaganda" bezeichnete. Jüdische Flüchtlinge sollten überwacht und der Tatsache Sorge getragen werden, dass ,,ihre Bedeutung im Gesamtleben der Nation" nicht die tatsächlichen Verdienste und die zahlenmäßige Stärke ihrer Gemeinschaft übersteige. Am 14. Juli 1938 stellten faschistische Wissenschaftler ein Manifest mit der These auf, die Italiener seien ,,arisch" und die Juden hätten sich als einzige Bevölkerungsgruppe nicht assimiliert. Kurz darauf wurde das Zentralamt für Demographie im Innenministerium zur Generaldirektion für Demographie und Rasse (Demorazza) gegründet. Am 5. August 1938 wurde erstmals die Forderung erhoben, eine eigene Zählung der in Italien lebenden Juden durchzuführen, was am 22. August 1938 geschah. Diese Erhebung sollte als Zählung zur Vorbereitung für die Verfolgung der Juden dienen. Am 9. September 1938 verbot ein Dekret den ausländischen Juden, ihren ständigen Wohnsitz in Italien, Libyen oder der Ägäis aufzuschlagen, und wer seinen Wohnsitz nach dem 1. Januar 1919 verlegt hatte, musste das Land bis zum 12. März 1939 verlassen haben, sonst drohe die Ausweisung. Auch wurde allen Juden die italienische Staatsbürgerschaft aberkannt, wenn sie sie nach dem 1. Januar 1919 erworben hatten. In Italien zu bleiben war nur demjenigen gestattet, der älter als 65 Jahre oder mit einem italienischen Staatsbürger verheiratet war. Am 27. Februar 1939 wurde ein Touristenvisum eingeführt. Am 4. April 1939 erfolgte ein Abschiebebefehl für alle ausländischen Juden, die entweder keine Aufenthaltserlaubnis besaßen oder eine Verlängerung bis zum 12. März 1939 beantragt hatten. Sie sollten an die Grenzen verbracht und in die Nachbarländer (Schweiz, Jugoslawien, Frankreich) abgeschoben werden. Am 19. August 1939 wurde ein Einreiseverbot erlassen für alle deutschen, polnischen, ungarischen und rumänischen Juden sowie für Juden jeglicher Nationalität, die aus Deutschland kamen. Fortan war nur noch der Transit zur Einschiffung erlaubt, sofern Einreisevisa und Schiffskarten vorhanden waren.

Im Juli 1939 erfolgte die Ausweisung fast aller Juden aus Südtirol im Rahmen der deutsch-italienischen Vereinbarungen über die Option der Südtiroler Bevölkerung zugunsten der deutschen Staatsbürgerschaft und der ,,Repatriierung", die von der Verfasserin erstmals eingehend untersucht wird.

Zur ,,jüdischen Rasse" wurde gezählt, wer jüdische Eltern hatte, wessen Eltern zum einen Teil italienische Juden, zum anderen Teil Ausländer waren, wer eine Mutter jüdischer Rasse und einen unbekannten Vater hatte, und auch, wer als ,,Halbjude" ,,jüdisches Verhalten" zeigte oder wer als Katholik jüdische Eltern hatte. Zudem war es Juden verboten, in der öffentlichen Verwaltung zu arbeiten, sich mit ,,Ariern" zu verheiraten oder Militärdienst zu leisten.

Zusammengefasst brachten diese Gesetze tief greifende Einschränkungen für die bürgerlichen und politischen Rechte der jüdischen Bevölkerung Italiens und lösten große Unsicherheit vor allem bei den jüdischen Flüchtlingen aus. Zu ihrem Motto wurde daher: ,,Nichts wie raus aus Italien".

Damals lebten etwa 11.000 aus dem Ausland zugewanderte Juden in Italien, 9.000 mussten laut antisemitischer Gesetze das Land verlassen, ca. 900 wurden staatenlos. Während die Meraner Kultusgemeinde 1938 ca. 700-800 Personen umfasste, blieben 1939 nur noch rund 30 bis 40 übrig.

Man kann also davon ausgehen, dass von Anfang 1938 alle Juden kontinuierlich und eingehend in den drei Provinzen kontrolliert und seither als ,,Andersartige" betrachtet wurden. Die Verfasserin kommt zu dem Schluss, dass der Antisemitismus in Italien von oben, nicht von außen kam, wenngleich er eine spezifische Dimension des italienischen Alltags jener Jahre war. Außerdem gelingt es ihr in diesem Zusammenhang sehr gut, die behördliche Praxis zu verdeutlichen, ebenso wie - auch tabellarisch - die berufliche Zusammensetzung und soziale Lage der italienischen und ausländischen jüdischen Bevölkerung darzustellen.

Mit dem Kriegseintritt Italiens 1940 erreichte der Antisemitismus eine neue Dimension: Für ausländische Juden und diejenigen, die als ,,politisch gefährlich" galten, wurde die Internierung vorgesehen und durchgeführt, wovon rund 6.000 Personen betroffen waren. Die Verfasserin stellt fest, dass es für diese Maßnahmen keinen Hinweis auf deutschen Einfluss gab. Die ausländischen internierten Juden wurden wie Kriminelle behandelt und lebten in ständiger Angst, an Nazi-Deutschland ausgeliefert zu werden. Es gab zwei Formen der Internierung: die Konzentrationslager und die freie Internierung in einer Gemeinde. Die Konzentrationslager wurden meistens in Landhäusern, Schulen und Schlössern in Mittel- und Süditalien - auch in der Provinz Belluno - an strategisch unwichtigen Stellen errichtet, in Gegenden, die von Armut und einer unpolitischen Haltung der Bewohner gekennzeichnet waren. Ein aus Holzbaracken erstelltes Lager bestand lediglich in Ferramonti Tarsia in Kalabrien, wo noch die Malaria herrschte. Obgleich die italienischen Konzentrationslager nicht mit den deutschen vergleichbar waren, herrschten schlechte sanitäre und hygienische Verhältnisse, und es kam zu psychischen Depressionen unter den Insassen. Diese mussten dreimal täglich zum Appell antreten, durften das Lager nicht verlassen oder Kontakt zur Bevölkerung aufnehmen. Die frei internierten Juden mussten sich ein- oder zweimal täglich bei der örtlichen Polizeidienststelle melden.

Ab 8. September 1943 verfügte Hitler persönlich über die als Operationszone Alpenvorland zusammengefassten drei Provinzen. Damit begann die ,,grausamste und tragischste Periode" der Judenverfolgung, die Verhaftung und Deportation.

Bereits im August 1943 war der SOD gegründet worden, der Sicherheits- und Ordnungsdienst, eine Art Hilfspolizei, ein Selbstschutzverband der Optanten, der großen Zulauf hatte und mit den deutschen Besatzern zusammenarbeitete. Die Bürger von Bozen beteiligten sich rege an der ,,Judenhatz", denn dort kamen die ersten Verhaftungen zustande, die nur durch Denunziation möglich gewesen sein konnten, wie die Verfasserin herausarbeitet. In Meran erfolgten sie nach dem 8. September, im übrigen Italien, so auch in den Provinzen Belluno und Trient, einige Monate später. Parallel zu den Verhaftungswellen verliefen die Beschlagnahmungen des Eigentums, der Diebstahl von Wertgegenständen sowie Plünderungen. Amtliche Maßnahmen zur Wiedergutmachung gab es nicht.

Der antisemitischen Einstellung der Südtiroler Bevölkerung, die auch durch die nationalsozialistische Propaganda geschürt wurde (z.B. der verbreiteten Vorstellung des Spielfilms ,,Jud Süß") stehen jedoch auch Beispiele der Solidarität mit Juden entgegen. Einige Laien aller sozialen und politischen Schattierungen, vor allem aber Geistliche, warnten vor Verhaftungen, boten Versteck für verfolgte Juden an oder versuchten, den Internierten Trost und materielle Hilfe zu bieten.

Während es keine genauen Informationen über die frei internierten Juden gibt, konnte die Verfasserin das Schicksal der in Durchgangslagern internierten und dann nach Auschwitz deportierten namentlich aufspüren, wo jedoch bekanntermaßen nur einige wenige überlebten.

Die Studie basiert auf einem breiten und tief gehenden Quellenmaterial: Aus 28 Archiven - von der Regierung (Innenministerium) über die Provinz (Präfektur, Quästur) bis in die Gemeindearchive (Podestá) - werden die Quellen untersucht.

Das auch in Tabellen und Statistiken zusammengefasste Material bietet eine Faktenflut, die zwar mit viel Organisationstalent unterbreitet wird, den interessierten Laien aber eher von der Lektüre abhalten könnte, wenn nicht auch Einzelschicksale erzählt und Zeugenaussagen und Fotos herangezogen würden.

Für die historische Forschung jedoch, die sich in den letzten Jahren der Lage des Judentums und der Einstellung der italienischen Bevölkerung zu den Rassegesetzen und Judenverfolgungen gewidmet hat, um unter anderem den ,,Mythos des guten Italieners" zu beseitigen oder zumindest abzubauen, ist sie ein Meilenstein. Sie durchbricht die ,,Widersprüchlichkeit zwischen einer Geschichtsschreibung, die die Voraussetzungen und Umstände, welche zu der Rassengesetzgebung führten, eher verharmlost, und einer Mikrogeschichte, die im Gegensatz dazu häufig von Massakern, Massenmorden und Tötungen berichtet" (S. 147).

Die 1961 geborene Verfasserin, die sich seit 15 Jahren der Geschichte des jüdischen Volkes gewidmet hat, ist Lehrerin an der Mittelschule Sarntheim und beweist, wie wichtig, bemerkens- und förderungswert außeruniversitäre Forschungen zur Geschichte der Juden in Italien sind.

Rosemarie Leuschen-Seppel, Bonn


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Juni 2004