ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jörg Später, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945, Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 496 S., geb., 46,00 €.

Man könnte das Buch unter die vielen Spezialuntersuchungen einreihen, die für die Fachhistoriker interessant sind, hier diejenigen, die sich mit Außenpolitik und speziell der britischen beschäftigen. Aber schon zu Beginn der Lektüre, als die britische Sicht auf das deutsche Kaiserreich behandelt wird, stößt man auf Begriffe wie das ,,deutsche Problem" (S. 21), das ,,andere Deutschland" (S. 25), ,,German atrocities" (S. 40). Begriffe, die man gewöhnlich im Kontext der Zeit von 1933-1945 verortet. Es zeigt sich schon hier und später noch deutlicher, dass die Studie Jörg Späters, die auf seiner Dissertation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg beruht, hoch aktuell ist und einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um den ,,Zweiten Dreißigjährigen Krieg" liefert. Diese Sichtweise, die unter anderem von Hans-Ulrich Wehler propagiert wird, hat es schon auf die erste Seite des Nachrichtenmagazins ,,Der Spiegel" geschafft. Dass es darüber noch heiße Debatten geben wird, kann man sich nach der Lektüre von Späters ,,Vansittart" durchaus vorstellen.

Der englische Blick auf Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weist eine fast verwirrende Vielfalt von Positionen auf, die von Später gut gegliedert jeweils knapp skizziert werden. Gleichzeitig aber zeigen sich zwei Hauptlinien, die über die ganzen 50 Jahre hinweg verfolgt werden können, und die von einer gemeinsamen Basis ausgehen: der ,,Balance of Power-Doktrin", dem Grundgesetz der britischen Außenpolitik. Beide Linien strebten letztlich das gemeinsames Ziel an, eine deutsche Expansion und Hegemonie in Europa zu verhindern. Die erste Linie, dominant in den 1920er- und 1930er-Jahren, suchte das Deutsche Reich durch Zugeständnisse zu besänftigen. Die zweite Linie hielt gerade dies für verhängnisvoll und sah nur in der eigenen Stärke, verbunden mit geschickter Bündnispolitik und deutlichen Warnungen die einzige Möglichkeit, Deutschland von einer expansiven Außenpolitik abzuhalten.

Robert Gilbert Vansittart, 1881 geboren, 1930 bis 1937 Permanent Under Secretary of Foreign Affairs und damit oberster Beamter im Foreign Office, griff ab Mitte 1941, nun geadelt als Mitglied des Oberhauses und als Publizist ,,mit markigen Thesen und brillanter Rhetorik in die öffentlichen Debatten über Kriegsziele die Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung" ein (S. 9). Vansittart ist für Später zum einen die zentrale Figur für das Verständnis der britischen Politik gegenüber Deutschland ab 1941, zum anderen aber auch Ausgangspunkt der heftigen innerbritischen Debatten um die Bewertung und Behandlung Deutschlands und der Deutschen. Eine Debatte, die auch das deutsche Exil in Großbritannien erfasste und nicht nur den sozialdemokratischen Parteivorstand spaltete.

Vansittart gilt als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten für die Bestimmung der britischen Außenpolitik gegenüber Deutschland während des Zweiten Weltkriegs und als Urheber der ,,All Germans Guilty", der ,,Kollektivschuld"-These, sowie als unerbittlicher ,,Deutschenhasser". ,,Vansittartitis" wurde zum Begriff. Es ist das Verdienst von Jörg Später, mit seiner differenzierten Studie, den Blick auf Vansittart vom Schleier pauschaler Verdammungen zu Gunsten einer distanzierten Betrachtung befreit zu haben. Sie macht zugleich auch die deutschen Pauschalvorwürfe gegen Vansittart als einen Versuch sichtbar, sich damit um Antworten auf grundlegende Fragen zu drücken: Welches Deutschland führte diesen Krieg? Hitler und die Nationalsozialisten oder die Deutschen insgesamt? Gegen wen sollte Großbritannien kämpfen? Wenn die Mehrheit der Deutschen gegen Hitler war, wo blieb dann der Widerstand?

Später gliedert sein Buch in drei Abschnitte. Im ersten Teil bis 1939 beschäftigt er sich zunächst mit der britischen Sicht auf Deutschland (Kapitel 1: bis 1918, Kapitel 2: 1919-1939), im zweiten Teil setzt er sich mit Vansittart und die von ihm mit der Veröffentlichung von ,,Black Record" ausgelöste Diskussion auseinander, im dritten Teil widmet er sich dem dadurch entstehenden Streit im sozialistischen Exil in London.

Später skizziert die prägenden Persönlichkeiten und die Grundorientierungen der britischen Außenpolitik in Bezug auf Deutschland vor dem Hintergrund der Biografie Vansittarts, der nach Aufenthalten in Paris und Berlin (zur Zeit des Burenkriegs) 1903 in das Foreign Office eintrat und zunächst als junger Diplomat in Paris, Teheran und Kairo verwendet wurde. 1911 kehrte er nach London zurück, in einer Zeit, in der sich im Außenministerium die Überzeugung durchsetzte, ,,dass Deutschland als Hauptfeind und -gefahr für die britische Sicherheit zu betrachten war." (S. 29) Ausgehend von der ,,Balance of Power-Doktrin" als Grundgesetz britischer Außenpolitik wurde das deutsche Streben nach Hegemonie auf dem Kontinent als grundsätzliche Bedrohung britischer Interessen verstanden. Zugeständnisse würden dieses Bedürfnis nicht befriedigen und Deutschland nicht beschwichtigen, sondern die Ansprüche nur noch unmäßiger werden lassen. Nur eine bestimmte Haltung, die der Beeinträchtigung britischer Interessen entschlossenen Widerstand entgegensetze, sei angebracht. Diese vom Unterstaatssekretär Eyre Crowe vertretene Linie, prägte auch Vansittart, der Crowe sehr bewunderte und von ihm geprägt wurde.

Nach dem Abklingen der im Krieg grassierenden Germanophobie (auch in der britischen Arbeiterbewegung), in der Zeit nach Versailles, schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Das Unbehagen mit dem Friedensvertrag von Versailles verstärkte die Tendenz, Deutschland durch Zugeständnisse entgegen zu kommen, um eine innen- und außenpolitische Radikalisierung zu verhindern. Zum Teil geschah dies aber auch, um im Denken der Balance of Power, einen Gegenpol zur erstarkenden Sowjetunion zu schaffen. So stand im Zentrum der Beschäftigung des Foreign Office, in dem Vansittart nun seit 1929 Permanent Under Secretary of Foreign Affairs war, in den 1930er Jahren die Auseinandersetzung um die Frage, ,,wer ist der größte Gefahrenherd für Frieden und Sicherheit in Europa?" (S. 63) - die Sowjetunion oder Hitler-Deutschland?

Vansittart hielt das Hitler-Regime für verbrecherisch und sah in ihm ein Wideraufkommen des deutschen Vorkriegsnationalismus, den er mit dem Etikett ,,Old Adam" versah, als Gegenspieler zum rational denkenden ,,homo sapiens". 1933 sah er in einem Memorandum drei Szenarien für möglich an:

  1. den Zusammenbruch des Hitler-Regimes und eine darauf folgende Militärdiktatur oder bolschewistische Revolution,
  2. den Erfolg Hitlers, der in vier bis fünf Jahren einen europäischen Krieg nach sich ziehen werde,
  3. einen Präventivkrieg gegen Deutschland, bevor es stark genug sei, andere anzugreifen.

Aber Vansittart konnte sich mit seiner Auffassung im Kabinett nicht durchsetzen, ebenso wenig wie Crowe in den 1920er-Jahren.

Im Kapitel ,,Changing Versailles" geht Später auf den Streit der britischen Intellektuellen über Deutschland und wie man sich ihm gegenüber verhalten solle, ein. Eine verwirrende Vielfalt, die von der Kritik am eigenen britischen Imperialismus, Versailles-Kritik und Germanophilie bis zu einer unnachgiebigen Haltung gegenüber Deutschland reichte. Die verschiedenen Positionen (E. H. Carr, J. M. Keynes, W. Steed, F. A. Voigt, E. Namier, A. J. P. Taylor u. a.) werden ausführlich vorgestellt.

Im zweiten Teil stellt Später Vansittarts in seiner großen Zeit als Parlamentsredner und Publizist vor, in der er zum Vorkämpfer einer harten Haltung Großbritanniens gegenüber Deutschland wurde, den Verzicht auf die Unterscheidung zwischen Nationalsozialisten und Deutschen forderte und den Krieg gegen Deutschland und die Deutschen propagierte. Das ,,anderen Deutschland" hielt er für unbedeutend, eine Rücksichtnahme darauf in Kriegsführung und in den Nachkriegsplanungen für kontraproduktiv. Vansittarts Streitschrift ,,Black Record" und die von ihr ausgelösten Diskussionen werden ausführlich dargestellt. Die darauf folgenden Auseinandersetzungen mit H. N. Brailsford, V. Gollancz, H. Laski und E. H.Carr und anderen werden ebenso ausführlich referiert wie die Beiträge der ihn Unterstützenden (s. o.).

Ausgangspunkt und zentrale Fragen waren für Vansittart: Warum kam es zu diesem Krieg? Waren Hitler und die Nationalsozialisten die treibende Kraft? Oder war es ein aggressiver deutscher Nationalismus und Militarismus, der in Hitler lediglich eine Verkörperung fand? Für Vansittart war klar: der deutsche Nationalismus, ,,Old Adam". Je nach Antwort gab es unterschiedliche Konsequenzen, wie der Gegner zu bekämpfen und die Nachkriegsplanungen zu gestalten waren. Vansittart begründete die deutsche Aggression mit dem deutschen Nationalcharakter. Er sei seit den Anfängen der Geschichte von besonderer Aggressivität und Brutalität geprägt. Belegstellen von Tacitus bis Goethe, Heine, Nietzsche wurden angeführt, um die Kontinuität zu untermauern (S. 270 ff). Wenngleich Vansittart selbst annahm, dass es das Vorurteil (man musste nur das Schlimmste über die Deutschen annehmen) war, das ihn befähigte, den deutschen Willen zum Krieg und die Art der Kriegsführung richtig vorherzusehen - lag es nach Später zunächst in ,,seiner Interpretation des Nationalsozialismus als radikalen militaristischen deutschen Nationalismus" aus dem ,,sich die Behauptung einer Identität von Herrschern und Beherrschten in der Volksgemeinschaft und die Betonung der Loyalität, ja Zustimmung, die dem Regime vor allem während des Krieges von der deutschen Bevölkerung entgegengebracht wurde", ergab (S. 280).

Später weist aber darauf hin, dass anders als von manchen seiner Kritiker behauptet, Vansittart weder ein Rassist noch ein blinder Nationalist war. Der deutsche ,,Nationalcharakter" war für ihn durchaus veränderlich und beeinflussbar, wie auch sein Plädoyer für die Umerziehung zeigt. Auch wenn Vansittart zur Begründung seiner Erkenntnisse teilweise irrationale Argumente verwendete und sich manchmal zu problematischen Formulierungen verstieg, so war seine Analyse der deutschen Kriegsschuld, der deutschen Kriegsführung und der weiteren Perspektiven in starkem Maße von Erfahrungen geprägt. Und seine Prognosen erwiesen sich als zutreffend:

April 1933: ,,the present régime in Germany will, on past and present form, loose off another war just so soon as it feels strong enough" (S. 279). Und nach dem Münchner Abkommen prophezeite er den Krieg innerhalb des nächsten Jahres (ebd.)

Im Gegensatz zu vielen anderen an der Diskussion Beteiligten war für ihn schon bald die Ermordung der europäischen Juden das zentrale Ereignis des Krieges (S. 214, 220, 249). Hier wird der Einfluss von Namier spürbar, der als Historiker polnisch-jüdischer Herkunft die deutsche Herrschaft im Osten und speziell die Behandlung der Juden sowie die Nachrichten über die Mordaktionen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte. Vansittart nahm auch die Positionen und Berichte der Exilregierungen über die Verhältnisse in ihrer von Deutschen besetzten Heimat mehr als viele andere zur Kenntnis.

Im Kern lautete Vansittarts Botschaft: ,,Erstens sei die deutsche Krankheit schwer; zweitens sei sie nicht unheilbar; drittens sei sie nur heilbar mit großer Entschlossenheit, Geduld und lang anhaltendem Bemühen; viertens sei die Arznei simpel: vollständige Niederlage und Niederschlagung des deutschen Militarismus, einseitige Abrüstung und Umerziehung unter dem Schutz der Besatzung; fünftens schließlich sei nichts Inhumanes an einem solchen Programm - im Gegenteil es sei inhuman, es nicht durchzuführen." (S. 160, Vansittart Ende 1942) Vor allem kam es ihm darauf an, die Deutschen müssten lernen: ,,Aggression must not pay" (202). Vansittart sah nach Später den deutschen Griff nach der Weltmacht 1914-1945 als den ,,Zweiten Dreißigjährigen Krieg".

Im Zentrum des dritten Teils steht die Auseinandersetzung des deutschen sozialistischen Exils in London um diese Fragen . Minutiös zeichnet er den Ablauf des Zwists, ausgelöst von den sozialdemokratischen Dissidenten um Curt Geyer und Walter Loeb nach, sowie die Positionen und Stellungnahmen um die Frage, wie die Verhältnisse in Deutschland seien - im Zentrum das ,,andere Deutschland" -, wie man deshalb den Krieg zu führen habe und wie nach dem Sieg mit Deutschland umzugehen sei.

Der Konflikt begann im wieder belebten und neu zusammengesetzten sozialdemokratischen (Exil-)Parteivorstand und wurde ausgelöst durch den in Paris in den Parteivorstand kooptierten Curt Geyer. Geyer sah den Nationalsozialismus zunächst primär als politisches Phänomen, die Herrschaft des Nationalsozialismus sei kein Klassenstaat im Sinne der marxistischen Theorie, sondern ein ,,Generalangriff auf die Grundlagen der europäischen Zivilisation" (S. 308 f.), ,,Der Nationalsozialismus war der entfesselte nationalistische Machtstaat" (S. 308).

Vordergründig entbrannte der Streit um die Frage der Haltung zur Atlantikcharta und zur geforderten einseitigen deutschen Abrüstung. Im Kern ging es aber um die Frage, wie die Situation im Deutschen Reich zu beurteilen sei. Gebe es eine bedeutsame antinazistische Opposition, insbesondere getragen von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung, die vielleicht sogar zu einem Aufstand oder einer Revolution fähig sei (so die Erwartung der Parteivorstands-Mitglieder) oder sei die Loyalität zum Regime auch in der Arbeiterschaft so stark verankert, dass kein Widerstand zu erwarten sei (so Geyer und seine Verbündeten). Dies war keine akademische oder theoretische Diskussion, sondern von der Beurteilung dieser Frage hing es ab, wie der Krieg gegen Deutschland geführt werden musste und welche Maßnahmen für die Nachkriegszeit erforderlich waren. SPD-Parteivorstand und sozialistische Gruppen waren sich einig, wenngleich die Positionen im Verlauf des Krieges modifiziert wurden, dass das Nachkriegsdeutschland sozialistisch sein würde und deshalb nur begrenzt für den Schaden des NS-Regimes haftbar gemacht werden könne.

Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhalten der sozialdemokratischen Arbeiter in Deutschland wurden auch wieder das Verhaltens der SPD-Führung und der Gewerkschaften sowie der Arbeiterschaft im Ersten Weltkrieg (Burgfriedenspolitik) und in der Revolution (Bündnis mit Militär und Unternehmern gegen die Revolution) kritisch beleuchtet. So hatten die meisten Mitstreiter Geyers schon 1918/19 in Opposition zur Politik des damaligen SPD-Parteivorstands gestanden.

Die Zweifel Geyers an der politischen Bedeutung des ,,anderen Deutschlands" wurden als Verrat an der Arbeiterbewegung gewertet. Geyer stand in enger Verbindung zu Walter Loeb, der bislang wenig beachtet wurde und den Später in seinem Wirken ausführlich würdigt. Nach Loeb, der die treibende Kraft der ,,Fight for Freedom"-Gruppe war, sei die Wahrheit ,,erstens dass Deutschland zuerst militärisch besiegt werden müsse, bevor eine Revolte stattfinden könne, zweitens, dass eine solche Revolte keiner humanistischen, sozialen oder sozialistischen Idee folgen würde, sondern ein Aufstand der Verzweifelten wäre, drittens, dass der deutsche Wille zu Sieg und Vorherrschaft nicht mit netten Versprechungen zu schwächen sei; und viertens, dass man dem 'true European spirit' treu bleiben müsse, um die deutsche Demokratie zu stärken" (S. 375).

Später verweist darauf, dass Geyer und Loeb in der Auseinandersetzung mit Gollancz die Auffassung vertraten: ,,German national character remained stronger than class character" (S. 376). Er verweist darauf, dass die Publikationen der Fight For Freedom-Gruppe mit ihrer These der Kontinuität von aggressivem Nationalismus und Imperialismus sowie antidemokratischer politischer Kultur praktisch die späteren ,,Sonderwegs-Theorien" vorweg genommen habe (380 f.).

Zu diesem internen Konflikt kamen Angriffe britischer Medien, die auch die sozialistischen Gruppen wie Neu Beginnen, SAP und ISK einbezogen. Später betont dabei, dass alle diese Gruppen, die in der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien verbunden waren, durchaus einem sozialdemokratisch/sozialistischen Nationalismus verpflichtet waren, der das Zur-Rechenschaft-ziehen der gesamten deutschen Bevölkerung, Gebietsabtretungen, Demontagen, Reparationen etc. zur Wiedergutmachung der Verwüstungen in Europa entweder ablehnte oder auf die unmittelbar verantwortlichen Nationalsozialisten beschränkt bzw. durch die Aufrechterhaltung eines gewissen Lebensstandards der deutschen Bevölkerung begrenzt wissen wollte. Dieser Richtung blieb alles, was der Arbeiterschaft und dem erwarteten sozialistischen Nachkriegsdeutschland schaden würde, suspekt.

Später wendet sich gegen Erich Matthias, wenn er in Bezug auf diese Grundeinstellungen keinen Neubeginn der Nachkriegssozialdemokratie sieht. Der Blick aus der Sicht der Opfer blieb ihr in der Tat fremd. Allerdings gab es durchaus ,,Neues" in Bezug auf die Öffnung der sozialen Struktur, der Einbeziehung bislang ausgegrenzter Motivationen etc.

Hier wären auch einige Defizite bzw. offene Fragen anzumerken. Unklar bleibt in Späters Darstellung das Zustandekommen der konkreten britischen Außenpolitik in den 1920er- und 1930er-Jahren, als die Spitzenbeamten einen deutlich anderen Kurs gegenüber Deutschland favorisierten. Und auch während des Krieges wäre eine stärkere Verklammerung der öffentlichen Diskussion mit dem konkreten politischen und militärischen Handeln fruchtbar gewesen. Ein ,,Krieg gegen die Nationalsozialisten" war nur möglich, solange man mit einem Umsturz des ,,anderen Deutschland" rechnete oder rechnen musste. Als die Sowjetunion sich selbst unter brutalen Schlägen der deutschen Militärmaschinerie als widerstandsfähig erwies und als die USA Ende 1941 in den Krieg eintraten, war die im Grunde immer gewünschte Option des vollständigen militärischen Sieges wieder das angestrebte Ziel. Nur der Öffentlichkeit musste diese militärpolitische Wendung von der ,,Europäischen Revolution" (mit Einbeziehung des ,,anderen Deutschland") zum vollständigen militärischen Sieg (ohne und auch gegen das ,,andere Deutschland") noch nahe gebracht werden.

Auf einen interessanten Aspekt weist Später am Rande hin. In der Nachbetrachtung verweist er auf ,,Namiers Gesetz", ,,nach dem eine besiegte Macht ungefähr eine halbe Generation später einen Ausbruch an pathologischem Nationalismus erlebe". A. J. P. Taylor schränkte dies 1957 auf Deutschland bezogen ein, die Frist rechne erst ab dann, wenn das Land wiedervereinigt sei. Von diesem Tag an seien die 15 Jahre zu berechnen. Es sind die Jahre 2004/2005. Wir werden sehen, was es mit der Annahme von Namier auf sich hat.

Ludwig Eiber, Augsburg


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