ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Nachdem der Publikationsfluss im Bereich der russlandbezogenen Frauen- und Geschlechterstudien in den letzten Jahren recht dünn geworden war, ist zu hoffen, dass Neuerscheinungen wie die beiden vorliegenden Sammelbände mit ihrer Vielfalt an Themen neue Forschungsimpulse liefern und zu ganz unterschiedlichen Projekten anregen. Jedenfalls offenbaren sie, wie viele Sujets es noch auszuschöpfen und wie viele fruchtbare Ansätze es weiter zu verfolgen gilt.

Die umfangreiche und sorgsam annotierte Quellenpublikation von Robin Bisha u. a., an der insgesamt 41 fachkundige Frauen und Männer als ÜbersetzerInnen mitgewirkt haben, sollte von nun an im Quellenkorpus keiner Lehrveranstaltung zum Kaiserlichen Russland im Bereich Geschichts- und Kulturwissenschaft bzw. Slavistik mehr fehlen, zumal der Band inzwischen auch in einer günstigen Paperback-Ausgabe erschienen ist. Die Sammlung kann sogar die wesentliche Textgrundlage für Spezialkurse zur Geschichte und Literatur von Frauen in Russland bilden, die allerdings in Deutschland - anders als in den USA - noch kaum etabliert sind. Während man dort solche Veranstaltungen bisher auch ohne die Unterstützung nützlicher Kompendien wie diesem durchgeführt hat, kann nach seinem Erscheinen der Mangel an übersetzten und erläuterten Quellen hierzulande nicht mehr als Argument gegen entsprechende Lehrangebote angeführt werden.

Diese Lücke besteht jetzt nicht mehr. Die vier HerausgeberInnen - drei HistorikerInnen, eine Literaturwissenschaftlerin - haben eine beeindruckende Fülle an Dokumenten zusammengetragen, die zudem ein breites Spektrum von Quellengattungen widerspiegeln. So enthält der Sammelband neben bislang unveröffentlichten Manuskripten, Tagebüchern, Memoiren und Briefen auch manch publizierte Quellen, darunter literarische Texte, Lieder, Reden, Petitionen, Statuten, Lebenserinnerungen, Polizeiberichte sowie zeitgenössische journalistische Beiträge. Ziel der Quellenedition ist es, die Vielschichtigkeit der Erfahrung russischer Frauen über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren mit Hilfe ganz heterogenen Materials vor allem in deren eigenen Worten lebendig werden zu lassen. Dieser Anspruch wird voll eingelöst. Die HerausgeberInnen gliedern den umfangreichen Stoff in sechs Kapitel, die in sich chronologisch geordnet und jeweils mit einer informativen Einleitung versehen sind, nämlich: ,,Defining Ideals", ,,Family Life", ,,Sexuality", ,,Work and Schooling", ,,Religion, Piety, and Spiritual Life" sowie schließlich ,,Opposition and Activism". Ferner enthält der Band eine Zeittafel, eine Reihe von Fotos, ein Glossar russischer Fachbegriffe und eine umfangreiche Literaturliste, die allerdings - wie bei amerikanischen Publikationen meistens üblich - nur Publikationen in englischer Sprache berücksichtigt.

Der von Linda Edmondson herausgegebene Band ,,Gender in Russian History and Culture" ist ebenfalls interdisziplinär angelegt und nähert sich seinem Gegenstand aus geschichts-, kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Inhaltlich korrespondiert die Sammlung gut mit den in ,,Russian Women, 1698-1917" versammelten Texten, ist aber chronologisch breiter angelegt und greift über die Epochengrenze 1917 hinaus. Neben dem zarischen Russland werden auch ausgewählte Aspekte der Frauengeschichte in der Sowjetzeit behandelt, wobei die Zwanzigerjahre und die Stalinzeit im Mittelpunkt stehen. Bei den insgesamt zehn Aufsätzen von WissenschaftlerInnen aus Großbritannien, Dänemark und Finnland handelt es sich (bis auf einen) um Vorträge, die bereits im Sommer 1996 auf einer Konferenz an der Universität Birmingham zum Thema ,,Geschlecht und die Wahrnehmung sexueller Differenz in der russischen Kultur und Geschichte" gehalten wurden.

Wie viele Publikationen zum Thema ,,Gender" beziehen sich auch die meisten Einzelbeiträge dieses Bandes explizit auf Frauen. Zumindest legen die Titel das nahe, und bekanntlich steckt die Geschichte der Männer bzw. der Männlichkeit in Russland aufgrund des nicht gerade überbordenden Interesses männlicher Forscher noch in den Kinderschuhen. Bei näherem Hinsehen gibt der Band dann aber auch viele Einsichten zur Wahrnehmung von Frauen und Männern durch Männer preis und lenkt den Blick auf die sich wandelnden Konstruktionen von Weiblichkeit in der russischen Kultur zwischen dem ausgehenden 17. Jahrhundert und dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Die beiden ersten Beiträge behandeln Weiblichkeitsentwürfe aus der Zeit vor dem Aufbruch der Frauen und der Infragestellung der traditionellen Geschlechterordnung. Dabei untersucht Catriona Kelly die moralische Vorbereitung adliger Frauen auf ihre gesellschaftliche Rolle als Mütter, wie sie in entsprechender Ratgeberliteratur aus den Jahren 1760-1840 zum Ausdruck kommt. Irina Korovushkina Paert analysiert die Entwicklung von Weiblichkeitsvorstellungen in den Schriften der Altgläubigen vom späten 17. Jahrhundert bis in die 1820er-Jahre. Die vier folgenden Artikel beschäftigen sich mit dem Thema, wie die russische Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert darauf reagierte, dass immer mehr Frauen die ihnen angelegten Fesseln ablegten und Grenzüberschreitungen wagten. Außerdem fragen sie danach, welche neuen Geschlechterentwürfe in der Reform- und Postreformperiode entstanden. Im Beitrag von Joe Andrew geht es um das Image der ersten russischen Schriftstellerinnen, die zwischen 1790 und 1850 die literarische Bühne betraten. Dan Healey beschreibt die Psychiatriediskurse zur weiblichen Homosexualität, die diese von Männern dominierte Disziplin in der frühen Sowjetunion hervorbrachte. Arja Rosenholm setzt sich kritisch mit dem ,,wissenschaftlichen Feminismus" der Frauenrechtlerin und Ökonomin Marija Vernadskaja auseinander, während Peter Ulf Møller zwei skandalträchtige Kurzgeschichten zum Thema Sexualität von Leonid Andreev aus dem Jahr 1902 interpretiert und die öffentliche Debatte darüber vor dem Hintergrund von Tolstojs ,,Kreutzersonate" nachzeichnet. Die beiden folgenden Beiträge von Melanie Ilič und Sue Bridger befassen sich am Beispiel von Industriearbeiterinnen bzw. Traktorfahrerinnen - zwei typischen Repräsentantinnen der ,,neuen Sowjetfrau" also - mit dem Problem des auch in der Sowjetunion geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarktes. Die Artikel von Lynne Attwood über Frauendarstellungen in der stalinistischen Presse und von Mary Buckley über die komplexe und widersprüchliche Lebenssituation ländlicher ,,Bestarbeiterinnen" in den Dreißigerjahren arbeiten die ambivalenten, letztlich jedoch überwiegend traditionell-konservativen Anforderungen an die weibliche Bevölkerungsmehrheit in der Stalinzeit heraus, thematisieren aber auch deren selbstbewussten Widerstand gegen solche Zumutungen.

Die ausführlichen Fußnoten am Ende jedes Einzelbeitrags sowie ein Index erhöhen die Benutzerfreundlichkeit dieses Bandes, dessen mit fast $ 80 ungerechtfertigt hoher Preis allerdings viele Interessierte von der Anschaffung abhalten dürfte.

Beate Fieseler, Bochum


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